Erzählperspektive
Die Erzählperspektive (point-of-view) eines erzählenden Textes (Epik) ist eine Antwort auf die Fragen: „Wer spricht?“ und „Wo spricht und sieht dieser?“ In der Literaturwissenschaft gibt es zahlreiche Modelle von Erzählperspektiven. Die Untersuchung der Erzählperspektive ist ein Gebiet der Erzähltheorie.
Wesentlich für die Bestimmung einer Erzählperspektive ist gewiss einmal, ob ein Ich-Erzähler in Erscheinung tritt. Diese betonte Subjektivität markiert dann einen Standpunkt. Auch wenn das nicht der Fall ist, gibt es natürlich einen Erzähler, aber es ist schwerer, ihn zu verorten. In der Literaturwissenschaft wird zwischen dem Autor und einem seiner Erzähler streng unterschieden. Auch ein Erzähler, der nicht von sich selbst spricht, ist kaum in jeder Hinsicht der historische Autor. Mindestens teilweise ist er eine fiktive Gestalt, also eine Vorstellung von sich, die der Autor erfüllen will oder für sich ausgedacht hat.
Auch Autobiografien haben meist einen Erzähler, der von ihrem realen Autor unterschieden werden sollte, auch wenn der Autor sie selbst verfasst hat. Zwischen dem realen Autor und dem Erzähler kann außerdem ein impliziter Autor (nach Wayne C. Booth) stehen, der zwischen beiden vermittelt, aber mit beiden nicht übereinstimmt.
Nicht bloß ein Blick in dieselbe Richtung, wie es der Begriff Perspektive nahe legt, macht eine Erzählperspektive aus, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit, das die Beobachterperspektiven von Figuren, Erzählern und Publikum trennt oder verbindet. Nur dem glaubwürdigen Erzähler wird sein Wissen abgenommen. Dies ist die Schwierigkeit, die der exakten Bestimmung einer Erzählperspektive im Weg steht.
Die Erzählperspektive kann von der Erzählhaltung bzw. vom Medium, in dem die Erzählung geschieht, unterschieden werden. In der Lyrik spricht man nicht vom Erzähler, sondern vom lyrischen Ich.
Auch die rein räumliche Perspektive wird unter dem Begriff Erzählperspektive, genauer point-of-view gefasst, sie kann olympisch (hohe Distanz) bis hin zu größter Nähe sein.
Ansätze
Die Kunst des Erzählens ist es gerade, mit unklaren Standpunkten zu spielen und die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen zu lassen. Daher können Versuche, Erzählperspektiven einzuordnen und mit Modellen und Typologien festzuhalten, immer nur teilweise gelingen. Als Verständnishilfe können solche Abstraktionen allerdings sinnvoll sein.
Innen- und Außenperspektiven
Ein verbreitetes Schema ist das typologische Modell der Erzählsituationen von Franz K. Stanzel. Es unterscheidet, ob Erzählerfiguren eine Innen- oder Außenperspektive innehaben und ob ein Erzähler deutlich als solcher in Erscheinung tritt.
Gérard Genette unterschied zur Bestimmung der Distanz zwischen Erzähler und Handlung das Wissen des Erzählers vom Wissen seiner Figuren (Fokalisierung).
Der heterodiegetische Erzähler nach Genette befindet sich nicht in der gleichen (fiktiven) Welt wie die Erzählung. Der Gegenbegriff dazu ist der homodiegetische Erzähler, der sich als Figur innerhalb der Welt seiner Erzählung befindet. Letzterer wird weiter differenziert in einen peripheren und einen zentralen homodiegetischen Erzähler, je nach der Distanz zu den Geschehnissen.
Unzuverlässiger oder unglaubwürdiger Erzähler
Ein „unzuverlässiger“ Erzähler widersetzt sich dem Wertesystem des Lesers; seine Erzählung weist offenkundige Widersprüchlichkeiten auf, ist lückenhaft oder verwirrt den Leser durch die Schilderung verschiedener Versionen der Ereignisse. Das Perspektivische wird damit grundsätzlich in Frage gestellt. Der solchermaßen vorgeführte Wirklichkeitsbruch ist ein typisches Stilmerkmal in der Literatur der Romantik. Er tritt auch häufig im postmodernen Roman auf.
Mise en abyme
Mise en abyme (nach André Gide) ist ein Begriff aus der Heraldik. Dort bezeichnet er ein Wappen, das im gleichen Wappen erneut abgebildet ist. In der Erzähltheorie ist damit eine dem „Spiel im Spiel“ des Dramas entsprechende Technik der Rahmenerzählung gemeint, bei der sich die Perspektive nicht festlegen lässt, sondern wie zwischen zwei Spiegeln steht.
Erzähler im Theater
Gewöhnlich haben Theaterstücke keinen Erzähler. „Filmische“ Rückblenden und Vorausblenden, bei denen eine Erzählung auf der Bühne illusionierend in das erzählte Geschehen selbst übergeht, sodass der Zuschauer die Perspektive des Erzählers übernimmt, sind vor allem im populären Theater üblich, kommen aber auch im Epischen Theater und in experimentellen Zusammenhängen vor.
Ein Beispiel ist Thornton Wilders Unsere kleine Stadt. In der griechischen Tragödie übernimmt häufig der Chor die Funktion des Erzählers, indem er das Geschehen auf der Bühne kommentiert. Eine ähnliche Funktion haben Proszeniums-Szenen (wie z.B. das Vorspiel auf dem Theater zu Beginn von Goethes Faust I oder die „Ballade von Mackie Messer“ zu Beginn von Bert Brechts Dreigroschenoper).
Erzähler im Film
„Und der Film ist die Wahrheit 24 mal in der Sekunde.“
Nicht immer lassen sich literarische Erzählperspektiven ohne Probleme auf den Film übertragen. Die Instanz des Erzählers kann beispielsweise als Stimme aus dem Off oder als Point-of-View-Shot (übersetzt: Punkt der Sicht) in Erscheinung treten. Filmregisseure und -autoren fügen manchmal eine Erzählerfigur ein, um die Handlung von einer neutralen (oder auch parteiischen) Instanz kommentieren zu lassen und den Seheindruck des Zuschauers zu lenken oder die Fakten zu konterkarieren.
Einige Belege aus dem populären Kino, international:
- 1896: Bei der Vorführung von L'Arrivée d'un train en gare de la Ciotat der Brüder Lumiere in Paris 1903 verließen die Gäste das Varieté fluchtartig, weil sie die Erzählposition offenbar in Front des Zuges empfanden. In den darauffolgenden Jahren hatte das beginnende Kino in den Nickelodeons oft den Character einer Jahrmarktsattraktion, beispielsweise wurden Skelette, mit angehaltener Kamera, verschwinden lassen, ein effektvoller Zaubertrick, und Beispiel für „unzuverlässiger“ Erzähler (siehe Filmgeschichte).
- 1941: Durch die Rahmenhandlung von Citizen Kane wird man, metaphorisch gesprochen, nahe dem Hinterkopf eines Reporters geführt, der versucht, das Schicksal von Charles Foster Kane zu erklären; dessen Sicht übernimmt man wiederum kompromisslos in den Rückblenden (heute auch bekannt als „Flashback“).
- 1950: Alfred Hitchcock setzte das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählens in Die rote Lola ein, und Akira Kurosawa im selben Jahr in Rashomon - Das Lustwäldchen, in dem eine Vergewaltigung episodenhaft von verschiedenen zwielichtigen Gestalten geschildert wird.
- 1965: Im klassischen Erzählstil lässt beispielsweise David Lean in seinem Werk Doktor Schiwago einen General Jewgraf Schiwago auftreten. Dieser tritt als handelnde Person auf und ist zugleich auch derjenige, der dem Zuschauer den Ablauf als Erzähler nahe bringt.
- 1968: 2001: Odysee im Weltraum besteht aus mindestens vier Episoden, die unvergleichbar und unterschiedlich besetzt sind und sich über die Menschheitsgeschichte und über das Sonnensystem erstrecken. Das Finale des Films ist mysteriös und verlangt nach Interpretation.
- 1968: Die Kamera ist nicht nur Erzähler und Vermittler, sondern fast der Hauptdarsteller von Spiel mir das Lied vom Tod von Sergio Leone.
- 1979: Am Ende von Stalker des Andrei Tarkowski spricht eine lange abwesende Figur, vielleicht überraschend, den Zuschauer direkt an, in einem Monolog. In diesem Moment wird der Zuschauer psychisch wieder auf seinen Kinosessel gesetzt. Im Mittelteil desselben Filmes führt der Stalker ein Selbstgespräch - eins von vielen in diesem lyrischen Werk -, fast der Kamera zugewandt, hier ist man sich nie sicher, wer eigentlich gemeint ist.
- 1980: Eine kleine Anekdote aus dem Fernsehen ist eine Folge von der bekannten Soap-Opera Dallas, in der Bobby Ewing wiederbelebt werden musste, und die letzte Staffel als Traum deklariert wurde. Die Zuschauer protestierten, und der Schauspieler kam aus dem Ruhestand zurück. In diesem Sinne ein unfreiwillig „unglaubhafter“ Erzähler.
- 1984: Traumsequenzen, die sich frei im Denken eines Akteurs abspielen, sind Mainstream, wie der kaum nennenswerte Dreamscape – Höllische Träume beweist. Wes Craven's Nightmare on Elm Street (1984) spielt sich schon hauptsächlich an Traumplätzen ab.
- 1987 erzählt Steven Spielberg konsequent aus kindlicher Perspektive den Alltag (märchenhaft) in einem Kriegsgefangenenlager in in Das Reich der Sonne, und John Boorman im selben Jahr (faktischer) den an der Heimatfront in Hope and Glory.
- 1991: Naked Lunch von David Cronenberg ist aus dem Drogenwahn heraus geschildert, wie später Fear and Loathing in Las Vegas (1998) von Terry Gilliam, beide basierend auf nicht unumstrittenen Büchern bzw. Reportagen (William S. Burroughs und Hunter S. Thompson). In der Literatur gibt es die Tradition des Stream of Consciousness (Bewusstseinsstrom).
- 1991: James Cameron (Terminator 2) bildet nur ab, meist emotionsgeladen, mit ehrfurchtgebietendem Aufwand und Fantasie.
- 1997: Auch Atom Egoyan in Das süße Jenseits wählt verhältnismäßig konventionell Haupt- und Nebenfiguren, und die Figur, die der Zuschauer impersoniert, oder die ihm am nächsten steht, wechselt normalerweise von Szene zu Szene.
- 1997: Michael Haneke adressiert abschnittsweise in dem radikalen Funny Games in Frageform jeden Zuschauer einzeln, in dem Bestreben, den Kinogänger moralisch zu einem Mittäter und Komplizen werden zu lassen.
- 1997: David Lynch, mit Lost Highway, und weiterentwickelt mit Mulholland Drive (2001), sagt sich vom Zwang zur Handlung schrittweise frei. Letzterer gibt sich als Illusion zu erkennen, und will dennoch ernstgenommen werden.
- 1999: Der Skandal- und Autorenfilmer Takashi Miike lässt in überraschender Art und Weise das sonst hyperaktiv-ambitionierte, aber brutale Yakuza-Drama Dead or Alive komplett unsinnig enden, spielerisch und unbeschwert, und ohne jede Notwendigkeit.
- 1999: Seit den 1990ern gab es einige Versuche, den „unzuverlässigen“ Erzähler mit Breitenwirkung zu etablieren: mit einigem Erfolg tat dies David Fincher in Fight Club, wie es in der rebellischen Buchvorlage von Chuck Palahniuk bereits vorgegeben war, und in dem etwas kleineren The Machinist von Brad Anderson (2004) mit einer ähnlichen Pointe, meist wird eine Form der Geisteskrankheit gewählt. Memento von Christopher Nolan (2000) ist zu dieser Kategorie zu zählen, hier kann das Geschehen nach einem einfachen Schema entschlüsselt werden. Die Matrix-Trilogie von Andy und Larry Wachowski (ab 1999) spielt im Cyberspace, in dem grundsätzlich alles möglich ist. Ebenfalls 1999 macht M. Night Shyamalan einen Verstorbenen zur Hauptfigur in The Sixth Sense.
- ab 2001: In dem fast neunstündigen Epos Herr der Ringe, Peter Jackson, gibt es Hunderte von Segmenten, und gewiss ein Dutzend Stimmen.
- 2004: Million Dollar Baby ist, im Überblick, aus der Sicht von Scrap gezeigt, an Schlüsselpositionen spricht er aus dem Off, ein verlässliches und berechenbares Erzählen.
Generell dürfte der regelmäßige, gewiefte Kinogänger sich heute nicht mehr so einfach überraschen lassen. Eine gute Auflösung eines Films scheint sich überproportional auf den Markterfolg auszuwirken, und ein gelungenes Ende rettet vieles. Für den Dokumentarfilm müssen andere Betrachtungen angestellt werden.
Literatur
- Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. UTB, Göttingen 1995, ISBN 3-82520-904-0
- Gérard Genette: Die Erzählung. UTB, Stuttgart 1998, ISBN 3-82528-083-7
- Mieke Bal: Narratology: Introduction to the Theory of Narrative. University of Toronto Press, Buffalo 1997, ISBN 0-80207-806-0
- Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hrsg.): Was stimmt denn jetzt ? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Edition Text + Kritik, München 2005, ISBN 3-88377-795-1
Weblinks
- Der unzuverlässige Erzähler (unreliable Narrator) in der englischen Wikipedia Beispiele aus Literatur, Film und mehr, umfangreich (englisch)