Paragraph 175 StGB (Deutschland)
Der Paragraph 175 wurde 1871 in das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches aufgenommen. Er stellte die Ausübung der männlichen Homosexualität unter Strafe. In seiner ursprünglichen Fassung verbot er darüber hinaus auch die Sodomie zwischen Mensch und Tier (ab 1935 nach Paragraph 175b ausgelagert).
Im Verlauf der Geschichte machte der Paragraph im Wandel der gesellschaftlichen Normen eine Reihe von Veränderungen durch, bis er im Jahr 1994 endgültig aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen wurde.
Insgesamt standen ca. eine Viertel Millionen Männer wegen Paragraph 175 vor Gericht, von denen weit über 100.000 zu manchmal langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Überblick
Fassung vom 15. Mai 1871
§ 175 Widernatürliche Unzucht
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Fassung vom 28. Juni 1935
§ 175 Unzucht zwischen Männern
I. Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft.
II. Bei einem Beteiligten, der zu Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.
§ 175a Erschwerte Fälle
Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft
- 1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben, oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen zu lassen;
- 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Missbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen zu lassen;
- 3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen zu lassen;
- 4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht missbrauchen lässt oder sich dazu anbietet.
§ 175b Sodomie
Die widernatürliche Unzucht, welche von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Paragraph 175 StGB in der Fassung vom 25. Juni 1969
§ 175 Unzucht zwischen Männern
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft:
- 1. ein Mann über achtzehn Jahre, der mit einem anderen Mann unter einundzwanzig Jahren Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt,
- 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen,
- 3. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist der Versuch strafbar.
(3) Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht 21 Jahre alt war, kann das Gericht von Strafe absehen.
§ 175b wird aufgehoben.
Fassung vom 23. November 1973
§ 175 Homosexuelle Handlungen
(1) Ein Mann über achtzehn Jahren, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter 18 Jahren vornimmt oder von einem Mann unter 18 Jahren an sich vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn
- 1. der Täter zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war oder
- 2. bei Berücksichtigung des Verhaltens desjenigen, gegen den die Tat sich richtet, das Unrecht der Tat gering ist.
Fassung vom 10. März 1994
§ 175: Homosexuelle Handlungen
aufgehoben
Historische Entwicklung
Vorgeschichte
In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wandelte sich der Analverkehr zwischen Männern von einer zwar sündigen, aber meist völlig legalen Handlung zu einem Verbrechen, das fast überall in Europa mit der Todesstrafe belegt wurde.
1532 schuf Karl V. mit der Constitutio Criminalis Carolina für diese Rechtspraxis eine gesetzliche Grundlage, die im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Gültigkeit behielt. So hieß es dort in Paragraph 116:
- "Straff der Vnkeusch, so wider die Natur beschicht. Jtem so ein mensch mit einem Viehe, Man mit Man, Weib mit Weib Vnkeusch treibenn, die habenn auch das leben Verwurckt. Vnt man solle sy, der gemeynen gewohnheit nach, mit dem feure vom lebenn zum tode richtenn."
Im Jahre 1794 setzte Preußen mit der Einführung des Allgemeinen Landrechts die Todesstrafe auf eine fünfjährige Zuchthausstrafe herab. Damit war Preußen zu diesem Zeitpunkt noch Vorreiter und galt als aufklärerisch – wurde indes bereits kurz darauf von den anderen Staaten in der Entwicklung überholt.
So stellte der französische Code Civil von 1804 nur noch solche Handlungen unter Strafe, die in die Rechte eines Dritten eingriffen, was zur vollständigen Legalisierung homosexueller Handlungen führte. Im Rahmen seiner Eroberungen exportierte Napoleon den Code Civil darüber hinaus in eine Reihe anderer Staaten wie z.B. die Niederlande. Auch Bayern orientierte sich am französischen Vorbild und ließ in seinem Gesetzbuch von 1813 alle einvernehmlichen Straftaten ersatzlos fallen.
Bei der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 wurde aus dem Paragraphen 143 des Allgemeinen Preußischen Landrechts der Paragraph 175. Damit war die "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern und zwischen Mensch und Tier auch in Ländern wie Bayern wieder strafbar.
Kaiserreich
Nahezu wortgleich mit seinem preußischen Vorbild bestimmte der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuchs:
- "Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden."
Schon in den 1860er Jahren hatten Einzelpersonen wie Karl Heinrich Ulrichs und Karl Maria Kertbeny mit Verweis auf die angeblich besondere Natur einer Minderheit von gleichgeschlechtlich liebenden Männer ihre Stimme gegen den preußischen Paragraphen 143 erhoben.
Im Kaiserreich bildete sich mit dem 1897 gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) nun eine Honoratioren-Bewegung heraus, die die These von den Homosexuellen als "Drittem Geschlecht" wissenschaftlich zu stützen und gegen den Paragraphen 175 ins Feld zu führen versuchte.
Eine Petition des Arztes und WhK-Vorsitzenden Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1897 schaffte es mit dieser Argumentation, 6.000 Unterschriften für die Streichung des Paragraphen 175 zu mobilisieren. Ein Jahr später brachte der SPD-Vorsitzende August Bebel die Petition von Hirschfeld in den Reichstag ein. Der gewünschte Erfolg blieb jedoch aus.
Gut zehn Jahre später planten einige Staatssekretäre nach der skandalträchtigen Eulenburg-Affäre (1907-1909), den Paragraphen auch auf Frauen auszuweiten. In ihrem "Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch" (E 1909) hieß es dazu:
- "Die Gefahr für das Familienleben und die Jugend ist die gleiche. Daß solche Fälle in der Neuzeit sich mehren, ist glaubwürdig bezeugt. Es liegt daher im Interesse der Sittlichkeit wie der allgemeinen Wohlfahrt, daß die Strafbestimmungen auch auf Frauen ausgedehnt werden." (Zit. n. Stümke 1989: 50 f.)
Der Entwurf sollte nach den Berechnungen von Experten frühestens 1917 zur Abstimmung in den Reichstag gelangen. Der Erste Weltkrieg und der Untergang des deutschen Kaiserreichs machte ihn aber schließlich zur Makulatur.
Weimarer Republik
Ähnlich wie im Kaiserreich scheiterte in der Weimarer Republik die von den linken Parteien angestrebte Abschaffung des Paragraphen 175 an den fehlenden Mehrheitsverhältnissen. Aussichtsreicher waren dagegen die Pläne einer Mitte-Rechts-Regierung im Jahr 1925 zur Verschärfung des Paragraphen 175. Im vorgelegten Reformentwurf sollte zusätzlich zum Paragraphen 296, der sich weitgehend mit dem alten Paragraphen 175 deckte, der Paragraph 297 geschaffen werden. Er sah vor, so genannte qualifizierte Fälle wie homosexuelle Prostitution, Sex mit männlichen Jugendlichen unter 21 Jahren sowie Missbrauch von Männern in einem Dienst- und Arbeitsverhältnis als "schwere Unzucht" und damit als Verbrechen statt als Vergehen einzustufen. Für diesen neuen Tatbestand sollten nicht mehr nur beischlafähnliche Handlungen relevant sein, sondern auch andere Formen der homosexuellen Betätigung wie z.B. gegenseitige Masturbation.
Zur Begründung der beiden neuen Paragraphen beriefen sich die Verfasser auf den Schutz der Volksgesundheit:
- "Dabei ist davon auszugehen, daß der deutschen Auffassung die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft." (Zit. n. Stümke 1989, 65 f.)
Als dieser Entwurf im Jahr 1929 vom Strafrechtsausschuss des deutschen Reichstags diskutiert wurde, gelang es KPD, SPD und DDP zunächst eine Mehrheit von 15:13 Stimmen gegen den Paragraphen 296 zu mobilisieren. Dies wäre einer Legalisierung der "einfachen Homosexualität" unter erwachsenen Männern gleichgekommen. Gleichzeitig wurde aber mit übergroßer Mehrheit – gegen nur drei Stimmen der KPD – die Einführung des neuen Paragraphen 297 (sog. qualifizierte Fälle) beschlossen. Doch auch dieser Teilerfolg, den das sexualreformerische WhK als "einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück" charakterisierte, wurde im März 1930 zunichte gemacht, als der Interparlamentarische Ausschuß für die Rechtsangleichung des Strafrechts zwischen Deutschland und Österreich mit 23:21 Stimmen den Paragraphen 296 wieder in das Reformpacket aufnahm. Zu dessen Verabschiedung kam es allerdings nicht mehr, da die Präsidialkabinette der frühen 30er Jahre das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren weitgehend zum Erliegen brachten.
Nationalsozialismus
Im Jahr 1935 verschärften die Nazis den Paragraphen 175, indem sie den Strafrahmen im Zuge einer Umdefinition vom Vergehen zum Verbrechen verdoppelten. Durch Streichung des Adjektivs "widernatürlich" wurde die traditionsreiche Beschränkung auf beischlafähnliche Handlungen aufgehoben. Der Straftatbestand war nun erfüllt, wenn "objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen" (RGSt 73, 78, 80 f). Eine gegenseitige Berührung war nicht mehr erforderlich.
Darüber hinaus wurde – ähnlich wie bereits 1925 geplant – ein neuer Paragraph 175a geschaffen, der so genannte qualifizierte Fälle als "schwere Unzucht" mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestrafte. Hierzu zählten:
- die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses,
- homosexuelle Handlungen mit Männern unter 21 Jahren und
- die männliche Prostitution.
In der amtlichen Begründung wurde die Novellierung des Paragraphen 175 mit dem Interesse an "der sittlichen Gesunderhaltung des Volkes" gerechtfertigt, denn "erfahrungsgemäß" habe Homosexualität die "Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung" und übe "einen verderblichen Einfluß" auf die "betroffenen Kreise" aus.
Die Verschärfung des Paragraphen 175 im Jahre 1935 zog eine Verzehnfachung der Zahl der Verurteilungen auf jährlich 8.000 nach sich. Etwa die Hälfte der Verfahren resultierte aus privaten Anzeigen Nichtbeteiligter (ca. 40 Prozent) sowie aus Anzeigen von Betrieben und Behörden (ca. 10 Prozent). So bekam die Gestapo zum Beispiel 1938 folgenden anonymen Brief:
- "Wir – ein großer Teil des Künstlerblockes am Barnayweg – bitten dringend, den als Untermieter bei Frauf F [...] wohnenden B. zu beobachten, der in auffallender Weise täglich jugendliche Burschen bei sich hat. So geht das nicht weiter. [...] Wir bitten herzlichst, die Sache weiter zur Beobachtung zu geben." (Zit. n. Pretzel 2000, 23)
Im Unterschied zur normalen Polizei war die Gestapo befugt, schwule Männer ohne Anklage (oder sogar nach einem Freispruch) beliebig lang in Schutzhaft zu nehmen. Dieses Schicksal ereilte häufig auch so genannte Wiederholungstäter: Nach dem Ende ihrer Gefängnisstrafe wurden sie nicht etwa freigelassen, sondern zur nachträglichen "Umerziehung" in ein Konzentrationslager eingewiesen. Nur etwa 40 Prozent jener etwa 10.000 Männer, die mit dem Rosa Winkel gekennzeichet wurden, gelang es, das Lagersystem zu überleben. Einige von ihnen wurden nach ihrer Befreiung durch die Alliierten zurück an ein Gefängnis überstellt, weil sie ihre Freiheitsstrafe noch nicht fertig verbüßt hatten.
Nachkriegszeit
Entwicklung in der DDR
Ab 1950 wurde in der DDR wieder die alte, bis 1935 gültige Form des Paragraphen 175 eingeführt. Strafrelevant waren "beischlafähnliche Handlungen" erwachsener Männer ab 21 Jahren. Die Höchststrafe wurde auf fünf Jahre Zuchthaus herabgesetzt. Homosexuelle Zeitschriften und Organisationen waren weiterhin verboten. Ebenso blieb auch der Paragraph 175a (qualifizierte Fälle) aus der NS-Zeit bestehen. Später entschied das Kammergericht Berlin-Ost, "daß bei allen unter § 175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig von der Einstellung wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll". In den 1960er Jahren wurde Homosexualität unter Erwachsenen daher nicht mehr bestraft. Am 1. Juli 1968 folgte das Gesetz der bereits bestehenden juristischen Praxis und legalisierte einvernehmliche Handlungen unter Männern, die älter als 18 Jahre waren. 1988 fiel der 1968 zum Paragraph 151 reformierte Paragraph 175 ersatzlos.
Entwicklung in der BRD bis 1990
Nach dem Zweiten Weltkrieg behielt die Bundesrepublik die 1935 verschärfte Fassung des Paragraphen 175 bei. Am 10. Mai 1957 verteidigte das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung. Der Paragraph 175 sei "nicht in dem Maße 'nationalsozialistisch geprägtes Recht'", dass ihm "in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse".
Zwischen 1945 und 1969 wurde gegen ungefähr 100.000 Männer Anklage erhoben und ca. 50.000 Männer zu Gefängnisstrafen verurteilt. Eine Verhaftungs- und Prozesswelle in Frankfurt zeitigt 1950/51 erschütternde Folgen:
- "Ein Neunzehnjähriger springt vom Goetheturm, nachdem er eine gerichtliche Vorladung erhalten hat, ein anderer flieht nach Südamerika, ein weiterer in die Schweiz, ein Zahntechniker und sein Freund vergiften sich mit Leuchtgas. Insgesamt werden sechs Selbstmorde bekannt. Viele der Beschuldigten verlieren ihre Stellung." (Kraushaar 1997, 62).
Der unter Konrad Adenauer vorgelegte Regierungsentwurf eines Strafgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (E 1962) begründete die Aufrechterhaltung des Paragraphen 175 wie folgt:
- "Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde." (Zit. n. Stümke 1989: 183 f.)
Am 25. Juni 1969 wurde kurz vor Ende der Großen Koalition von Bundeskanzler Kiesinger der Paragraph 175 reformiert, indem nur noch die qualifizierten Fälle (Sex eines Über-18-Jährigen mit einem Unter-21-Jährigen, homosexuelle Prostitution und Ausnutzung eines Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnisses) erhalten blieben, die vorher durch Paragraph 175a geregelt worden waren.
Am 23. November 1973 führte die sozialliberale Koalition schließlich eine umfassende Reform des Sexualstrafrechts durch. Der entsprechende Abschnitt im StGB wurde von "Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" in "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" umbenannt. Ebenso wurde der Begriff der Unzucht durch den der "sexuellen Handlungen" ersetzt.
Im Paragraphen 175 blieb nur noch der Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurück, wobei man das so genannte Schutzalter von 21 auf 18 Jahre absenkte. Der Paragraph 175b (Zoophilie) wurde aufgehoben.
Entwicklungen nach 1990
Streichung des Paragraphen 175
Im Zuge der Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten nach 1990 musste sich der Bundestag entscheiden, ob er den Paragraphen 175 streichen oder ihn in der bestehenden Form auf die östlichen Bundesländer ausweiten wollte. Im Jahr 1994, mit Ablauf der Frist für die Rechtsangleichung, entschied man sich - auch angesichts der inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen - den Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wie beispielsweise Geschlechtsverkehr mit Jugendlichen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (§ 176 StGB); in besonderen Fällen gilt gemäß § 182 StGB ein relatives Schutzalter von 16 Jahren. Ein Verstoß gegen § 182 Absatz 2 StGB wird gemäß § 182 Absatz 3 StGB im Gegensatz zu einem Verstoß gegen § 176 StGB grundsätzlich nur auf Antrag verfolgt (Antragsdelikt). Ausnahmen sind aber möglich, wenn die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse als gegeben ansieht.
Gemäß § 182 Absatz 4 StGB kann das Gericht von Strafe absehen, wenn das Unrecht der Tat als gering eingeschätzt wird. Problematisch hieran ist die Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe im § 182 StGB, die der Rechtssicherheit abträglich ist. Ähnlich wie beim § 207b StGB-Österreich muss die Gefahr gesehen werden, dass vom sozialen Umfeld unerwünschte Beziehungen hiermit kriminalisiert werden können. In Österreich wurde mit der Streichung des dortigen § 209 StGB und der Einführung des § 207b StGB eine analoge Entwicklung vollzogen.
Teilweise Rehabilitierung der Opfer
Symbolisch auf den 17. Mai gelegt, beschloss der Bundestag im Jahr 2002 gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP eine Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes. [1] Damit wurden die Urteile gegen Homosexuelle und Wehrmachts-Deserteure in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt. Der rechtskonservative CSU-Politiker Norbert Geis bezeichnete die generelle Aufhebung als "Schande". Kritik wurde jedoch auch von der Lesben- und Schwulenbewegung laut, da der Bundestag die Urteile nach 1945 unangetastet ließ, obwohl die Rechtsgrundlage bis 1969 die gleiche war.
Literatur
- Elmar Kraushaar: Unzucht vor Gericht : Die "Frankfurter Prozesse" und die Kontinuität des § 175 in den fünfziger Jahren. In: Ders. (Hrsg.): Hundert Jahre schwul : Eine Revue. Berlin 1997. S. 60-69. ISBN 3871343072
- Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz : Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990. ISBN 3506774824
- Andreas Pretzel: Als Homosexueller in Erscheinung getreten. In: Kulturring in Berlin e. V. (Hrsg.): "Wegen der zu erwartenden hohen Strafe" : Homosexuellenverfolgung in Berlin 1933 – 1945. Berlin 2000. ISBN 3861490951
- Christian Schulz: § 175. (abgewickelt). : ... und die versäumte Wiedergutmachung. Hamburg 1998. ISBN 3928983245
- Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland : Eine politische Geschichte. München 1989. ISBN 3406331300
Siehe auch: Homosexualität (Deutsche Strafrechtsgeschichte), Rosa Winkel, Homosexualität, Heteronormativität, § 176 StGB, Sodomiterverfolgung
Weblinks
- § 175 - Rechtsgeschichtlicher Überblick
- Die Liberalisierung des § 175 – Die Debatte um die Liberalisierung des § 175 StGB in den 50er und 60er Jahren