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Industrielle Revolution in Deutschland

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Bonn-Cölner Eisenbahn (um 1844)

Die industrielle Revolution meint die Phase des eigentlichen Durchbruchs der industriellen Entwicklung in Deutschland. Vorausgegangen waren die hier mitbehandelten Zeiträume der Vor- und Frühindustrialisierung. Bei allen Problemen der chronologischen Abgrenzung eines dynamischen Prozesses gelten die Jahrzehnte etwa zwischen den 1850er Jahren und 1873 als Phase des industriellen „take off“ (Walt Rostow). Gefolgt wurde die industrielle Revolution von der Phase der Hochindustrialisierung während des Kaiserreichs. Die (nachholende) industrielle Revolution in Deutschland unterschied sich von der des Pionierlandes Großbritannien dadurch, dass nicht die Textilindustrie sondern die Montanindustrie und der Eisenbahnbau der eigentliche Motor der Entwicklung war. Ein weiteres Kennzeichen der Entwicklung war ihr regionaler Charakter. Teilweise auf Basis älterer Traditionen, teilweise auf Basis von Rohstoffvorkommen, Verkehrsbedingungen oder anderen Gründen konzentrierte sich die industrielle Revolution auf einige regionale Verdichtungszonen. In Gewerbelandschaften, in denen die Anpassung an die neue Zeit nicht gelang, konnte es zu Deindustrialisierungprozessen kommen. Auch die soziale Bilanz ist zwispältig. Auf der einen Seite schuf die industrielle Entwicklung neue Arbeitsplätze für eine wachsenden Bevölkerung. Auf der anderen Seite verschärfte die industrielle Revolution die Krise in Handwerk und traditionellen Gewerbe und war eine Ursache für den Pauperismus des Vormärz. Im weiteren Verlauf verschoben sich die soziale Frage weg von den ländlichen Unterschichten hin zur wachsenden Arbeiterbevölkerung und ihren schlechten Arbeitsbedingungen und oftmals niedrigen Löhnen.

Problem der chronologischen Abgrenzung

Unbestritten in der Forschung ist die Ansicht, dass die industrielle Entwicklung auf teilweise lange zurückliegenden Vorbedingungen beruhte. Einige wie Simon Smith Kuznets gingen sogar soweit angesichts dieses Prozesscharakters das Konzept einer industriellen Revolution zumindest stark zu relativieren. Die meisten Forscher jedoch hielten und halten an der Vorstellung eines industriellen Durchbruchs fest. Umstritten bleibt jedoch die genaue Abgrenzung. So unterscheidet Walter G. Hoffmann die Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis etwa 1830/35 als eine Zeit der Vorbereitung. Dem folgte die eigentliche Phase des „take offs“ (oder der industriellen Revolution) bis etwa 1855/60. Im Anschluss folgte eine „Entwicklung zur Reife“ bis zu Beginn des Kaiserreichs. Karl Heinrich Kaufhold meinte, dass die industrielle Revolution sich zwischen 1835 und 1873 durchgesetzt hätte, einige Zeit später datierte er den Beginn dann genauer auf etwa 1850. Neuere Forschungen zur frühindustriellen Konjunktur etwa von Reinhard Spree zeigen bis in die 1830er Jahre noch eine gebremste industrielle Entwicklung. Dem folgt ein bis Mitte der 1840er Jahre anhaltender Aufschwung, der aber vor allem seit 1847 für einige Jahre ins Stocken geriet. Seit 1852 folgte dann einer erneuten Aufschwungs, der nach diesen Berechnungen als Beginn der industriellen Revolution in Deutschland anzusehen ist. Allerdings wurde von einigen Forschern kritisiert, dass dabei die doch erheblichen Entwicklungen der 1830er und 1840er Jahre unterschätzt würden. Hans-Ulrich Wehler plädiert daher für den Beginn des „take offs“ um 1845 herum. Allerdings stützt sich diese Periodisierung vor allem auf die Leitsektoren nicht auf die wirtschaftliche Gesamtentwicklung. Bei allen Diskussionen im Detail sind sich alle im wesentlichen alle neueren Autoren einig, das nach einer längeren Vorlaufphase der Vor- oder Frühindustrialisierung, spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl in quantitativer wie auch qualitativer Hinsicht in das Industriezeitalter eintrat. Dies gilt sowohl für die Ökonomisch wie auch für die Gesellschaft. [1]

Vor-, Früh- und Protoindustrialisierung

Bereits seit der frühneuzeitlichen Zeit gab es vorbereitende wirtschaftliche Entwicklungen. Werner Conze etwa grenzte eine vorbereitende Phase etwa auf die Zeit zwischen 1770 und 1850 ein. In den Manufakturen gab es in gewissen Umfang eine Art Massenproduktion mit Arbeitsteilung. Das Verlagssystem (Protoindustrie) war in einigen Regionen bereits im späten Mittelalter und vor allem der frühen Neuzeit entstanden. So haben sich die landarmen Schichten in Ostwestfalen und anderen Gebieten etwa auf die heimgewerbliche Herstellung von Leinen spezialisiert, die von Händlern aufgekauft und auf dem überregionalen Markt vermarktet wurden. Diese und andere Entwicklungen auch im Eisen- und Metallgewerbe und anderen Bereichen haben bereits verschiedene regionale Zentren gewerblicher Verdichtung entstehen lassen. In den westlichen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen waren dies etwa der bergisch-märkische Raum, das Siegerland mit Ausläufer ins Sauerland. Insgesamt kam es in Südwestfalen zu einer montanindustriellen Arbeitsteilung. Aus Siegerländer Erz wurden in Teilen des Sauerlandes Halbfertigwaren, wie Stabeisen oder Bleche hergestellt, die im märkischen bis hin in den bergischen Raum zu Fertigwaren weiterverarbeitet wurden. Ähnliche Zusammenhänge gab es im Rheinland wo Eisen aus der Eifel zwischen Aachen, Eschweiler, Stolberg und Düren weiterverarbeitet wurden. Vor allem aber konzentrierte sich in diesem Gebiet die Messing-, Zink- und Bleiproduktion. In Oberschlesien wurden Bergbau und Verarbeitung teils vom Staat und teilweise von Großgrundbesitzern betrieben. Zu diesen gehörten die Grafen von Donnersmarck oder die Fürsten von Hohenlohe. Im Königreich Sachsen existierte ein hochdifferenziertes Gewerbe vom Land- und Stadthandwerk, über Heimgewerbetreibende in der Protoindustrie, Manufakturen, Bergbau und bald auch ersten Fabriken. Im Jahr 1820 lebten in diesem Gebiet nur noch 20% der Einwohner von der Landwirtschaft.

Mechanische Werkstätten von Friedrich Harkort in den Ruinen der Burg Wetter

Im Zusammenhang von Manufakturen und Verlagen sammelte sich in den verschiedenen Gewerbelandschaften Handelskapital an, das später nicht zuletzt zur Finanzierung der neuen Fabriken eingesetzt wurde.

Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts entstanden zudem auch in Deutschland die ersten modernen Fabriken, die auf Maschinen beruhten. So wurde 1784 in Ratingen die erste mechanische Baumwollspinnerein und ein Jahr später in Hettstedt die erste Dampfmaschine in Betrieb genommen. Im Jahr 1796 wurde in Oberschlesien der erste kontinuierlich produzierende Koksofen eingerichtet. Allerdings erlangten diese frühen Ansätze keine Breitenwirkung, sondern blieben isolierte Inseln.

Die meisten fabrikähnlichen Betriebe waren vor allem relativ einfache und noch keine Dampfkraft verbrauchende Anlagen. Den Anfang machten insbesondere Spinnmaschinen zur Garnproduktion, seit den 1830er Jahren kamen im Bereich der Textilherstellung mechanische Webstühle hinzu. Aufs Ganze gesehen beruhten die frühen Industrialisierungsansätze auf der Herstellung einfacher Konsumgüter und verarbeiteten Häufig Agrarprodukte (Leinen- und Wollmanufakturen, Branntweinbrennereien, Brauereien, Ölmühlen oder Tabakfabriken). Relativ früh entstanden einige größere Spinnereien in Baden, so die Spinnerein in St. Blasien mit 28.000 Spindeln oder die ähnlich große Ettlinger Spinnerei AG. Ein weitgehend neuer Zweig der Textilindustrie war im frühen 19. Jahrhundert die Baumwollverarbeitung. Dabei nahm Sachsen die Spitzenstellung ein, gefolgt von Preußen und Baden. Das Zentrum in Preußen war der Regierungsbezirk Düsseldorf. Allein in Rheydt und Gladbach gab es 1836 16 Spinnereien. Die Textilindustrie insgesamt war zwar eine der am frühsten industriell betriebenen Gewerbezweige. Aber anders als in England war sie kein Führungssektor der industriellen Revolution. Dazu waren ihre Dynamik und Wachstum zu gering.

Seit dem Ende der napoleonischen Kriege ab 1815 erlebten die gewerbliche Wirtschaft dann im Allgemeinen und die neuen Fabriken im Besonderen in den deutschen Staaten einen Aufschwung.

Ein wichtiger institutioneller Faktor für die gewerbliche Entwicklung war die Gründung des Zollvereins im Jahr 1834.

Diese Phase des frühindustriellen Aufschwungs endete freilich bereits in der Mitte der 1840er Jahre als die Agrarkrise und die Auswirkungen der Revolution von 1848/49 die Entwicklung stark beeinträchtigt haben. In die vierziger Jahre fallen der Höhepunkt des vormärzlichen Pauperismus und die letzte Agrarkrise „alten Typs“ (Wilhelm Abel). [2]

Die industrielle Revolution

Wachstum der Beschäftigten in den Wirtschaftssektoren 1846-1871 (1871=100)

In etwa markiert die Revolution von 1848/49 auch die Scheidelinie zwischen Frühindustrialisierung und der Industriellen Revolution. Dazu passt auch ein Wandel vom krisengeprägten Selbstbewusstsein in den 1840er Jahren hin zu einer allgemeinen Aufbruchstimmung im folgenden Jahrzehnt. Neben diesen eher gesellschaftsgeschichtlichen Argumenten legen die quantitativ neuen wirtschaftlichen Wachstumszahlen für den Beginn der industriellen Revolution in den frühen 1850er Jahren. Etwa seit dieser Zeit nahm die gesellschaftliche Produktion pro Einwohner gegenüber der vorindustriellen Zeit um das zehnfache zu.

Ein wichtiger Indikator für den Beginn der Industriellen Revolution in den 1850er Jahren war der plötzliche Anstieg der Nutzung der Steinkohle. Dahinter standen verschiedene Wachstumsvorgänge: Eine starker Anstieg der Eisen- und vor allem Stahlherstellung, der verstärkte Bau von Maschinen nicht zuletzt von Lokomotiven und der Anstieg der Verkehrsleistungen der Eisenbahnen ließ die Energienachfrage steigen. Die wachsende Nachfrage nach Brennstoff und Industriegütern führte zu einem weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes und steigerte wiederum die Nachfrage nach neuen Lokomotiven und Schienen. Auch insgesamt war die industrielle Revolution in den 1850er und 1860er Jahren vor allem von Investitionen in den Eisenbahnbau und die Schwerindustrie geprägt.[3]

Niedergang des alten Gewerbes und Pauperismus

Die wirtschaftliche Gesamtentwicklung in dieser Zeit war allerdings nicht nur eine Erfolgsgeschichte. Vielmehr bedeutete das Eindringen von Importen maschinell hergestellter Waren vor allem aus Großbritannien und die Entstehung von Fabriken in Deutschland selbst eine Bedrohung für die bestehenden älteren Wirtschaftsformen. Dies gilt sowohl für die mit Holzkohle hergestellten Eisenprodukte, wie auch für die in Manufakturen oder im Verlagssystem hergestellten Textilien. Insbesondere das Leinengewerbe verlor wegen günstigeren Baumwollprodukte an Bedeutung. Damit war der wichtigste Zweig der deutschen Textilindustrie in seiner Existenz bedroht.

Eine Zeitlang konnten sich die älteren Produktionsmethoden halten. Dies geschah teilweise recht erfolgreich durch die Spezialisierung auf besondere Produkte (z.B. Krefelder Samt und Seide, Wuppertaler Bandwaren). Anderswo reagierten die Verleger mit der Senkung der Entgelte für die Heimweber. Auf längere Sicht konnten viele Gewerbe der Konkurrenz allerdings bis auf einige Rückzugsgebiete dennoch nicht standhalten. Dies hatte zur Folge, dass in den älteren Gewerberegionen, wenn diese den Übergang zur Fabrikindustrie nicht schafften, die Arbeitsmöglichkeiten fehlten und es zu Deindustrialisierungs- und Reagrarisierungsprozessen kommen konnte. Ein weiterer Krisenfaktor war das Handwerk. Durch das Bevölkerungswachstum der ersten Jahrhunderthälfte nahm die Zahl der Handwerker stark zu. Einige Massenberufe wie Schneider, Schuhmacher waren übersetzt, die Gesellen hatten keine Chance mehr Meister zu werden und der Ertrag auch der selbstständigen Handwerker war außerordentlich geringe. Vor allem die Handwerke, deren Produkte mit der Industrie konkurrierten, gerieten in die Krise. [4]

Regionale Industrialisierung

Teil des Regierungsbezirks Arnsberg (Ausschnitt aus einer Gewerbekarte des Jahres 1858, zu sehen sind Teile des Ruhrgebiets und des märkischen Sauerlands)

Ein Kennzeichen der industriellen Entwicklung war ihre ungleiche regionale Verteilung. Die Ursachen dafür waren vielfältig. So spielte der Anschluss an das Eisenbahnnetz oder das Verfügbarkeit von Rohstoffen, Arbeitskräften oder Kapital eine Rolle.

In den folgenden Jahrzehnten passten sich einige alte gewerbliche Verdichtungszonen der industriellen Entwicklung an. So traten in Bielefeld an die Stelle der heimgewerblichen Leinenproduzenten große Textilfabriken. Auch im Wuppertal oder in Sachsen knüpfte die Industrie an alte Traditionen an. In anderen Bereichen kam es zum Wandel der gewerblichen Schwerpunkte. In Berlin etwa siedelten sich vor allem die Konfektionsindustrie, der Maschinenbau sowie Banken und Versicherungen an. Das Rheinland profitierte von seiner Verkehrslage. Das teils in der Rheinprovinz und teils in der Provinz Westfalen liegende Ruhrgebiet entwickelte sich rohstoffbedingt zum Zentrum der Industrie insbesondere der Montanindustrie. Weniger wichtig war die Nähe der Werke etwa im Maschinenbau, der sich an zahlreichen Standorten etablierte. So entstanden die Lokomotivfabriken häufig in den Haupt- und Residenzstädten.

Es gab aber auch Gebiete die von der industriellen Entwicklung weniger profitierten. So fiel das einst reiche Schlesien auf Grund seiner verkehrstechnisch relativ abgelegenen Lage zurück. Einige Teile des Sauerlandes und auch das Siegerland mit ihrer traditionsreichen Eisenproduktion konnten sich nur schwer oder gar nicht gegen die Konkurrenz des nahen Ruhrgebiets behaupten. Umgekehrt wirkte sich etwa der Bau der Köln-Mindener (1847) und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn (1842) für das entstehende Ruhrgebiet förderlich aus.

Am Ende der Epoche lassen sich drei Regionstypen unterscheiden. Die erste umfasst deutlich industrialisierte Gebiete wie das Königreich Sachsen, das Rheinland, Elsass-Lothringen, die Rheinpfalz und auch das Großherzogtum Hessen. Eine zweite Gruppe umfasst solche Regionen, in denen zwar einige Branchen oder Teilregionen als Vorreiter der Industrialisierung erscheinen, das Gesamtgebiet aber nicht als industrialisiert gelten kann. Dazu zählen Württemberg, Baden, Schlesien, Westfalen, die preußische Provinz Sachsen und Nassau. In einer dritten Gruppe finden sich Regionen, in denen es zwar frühindustrielle Ansätze in einigen Städten gab, ansonsten aber eine vergleichsweise geringe gewerbliche Entwicklung aufwiesen. Dazu zählte das Königreich beziehungsweise die Provinz Hannover, Ober- und Mittelfranken. Hinzu kommen Gebiete die überwiegend landwirtschaftlich geprägt waren und deren Gewerbe meist handwerklich geprägt war. Dazu zählen etwa Ost- und Westpreußen, Posen und Mecklenburg. [5]

Leitbranchen

Der zentrale Wachstumsmotor für die Industrialisierung in Deutschland war der Eisenbahnbau. Die von diesem ausgehende Nachfrage Bergbau, Metallerzeugung und Maschinenbau die drei aufs engste miteinander verbundenen Leitbranchen.

Eisenbahnbau

Im tertiären Sektor war die Eisenbahn der stärkste Wachstumsmotor und nahm auch insgesamt eine Schlüsselstellung ein. Das Eisenbahnzeitalter begann in Deutschland mit der sechs Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth der Ludwigsbahn-Gesellschaft. Die erste wirtschaftlich bedeutende Strecke war die auf massgebliche Initiative von Friedrich List gebaute 115 Kilometer lange Strecke zwischen Leipzig und Dresden (1837).

Streckenkilometer der Eisenbahnen im Gebiet des Deutschen Bundes 1850-1873

Der wachsende Transportbedarf führte zum Ausbau des Schienennetzes, dies wiederum verstärkte die Nachfrage nach Eisen und Kohle. Wie stark dieser Zusammenhang war, zeigt die Tatsache, dass zwischen 1850 und 1890 etwa die Hälfte der Eisenproduktion im Bereich der Eisenbahn verbraucht wurde. Mit der Ausweitung der inländischen Eisenproduktion seit den 1850er Jahren gewann auch der Eisenbahnbau neuen Schwung. Im Zuge des Ausbaus des Eisenbahnnetzes sanken kontinuierlich die Transportpreise, was sich wiederum förderlich für die Gesamtwirtschaft auswirkte. Für die Bedeutung der Eisenbahn im Rahmen der Gesamtwirtschaft spricht, dass zwischen 1850 und 1890 etwa 25% der Gesamtinvestitionen in diesen Bereich flossen. Die Investitionen in die Eisenbahnen waren lange Zeit höher als in den Bereich des produzierenden Gewerbes oder der Industrie.

In den 1840er Jahren erlebte der Eisenbahnbau einen ersten Höhepunkt. Im Jahr 1840 gab es etwa 580 Kilometer, um 1850 bereits über 7000 Kilometer und 1870 fast 25.000 Streckenkilometer. Gleichzeitig waren beim Bau der Eisenbahnen und beim Betrieb bereits über 42.000 Personen beschäftigt, das war mehr als im Steinkohlebergbau. Diese Zahl wuchs in den nächsten Jahren weiter an und betrug 1846 immerhin fast 180.000 Arbeitskräfte. Nur ein kleiner Teil von etwa 26.000 waren ständig im Betrieb beschäftigt, die übrigen waren beim Bau der Strecken beschäftigt. [6]

Metallverarbeitung

Bereits um die Jahrhundertwende wurden in Deutschland die ersten dampfbetriebenen Maschinen gebaut und eingesetzt. Im Jahr 1807 bauten die Brüder Franz und Dinnendahl in Essen erste Dampfmaschinen. Diese dienten in erster Linie zur Abpumpen von Wasser in den Zechen des Ruhrgebiets. Friedrich Harkort hatte 1817 in Wetter seine „Mechanische Werkstatt“ gegründet. Im Aachener Raum gab es 1836 bereits neun Maschinenbaubetriebe mit zusammen tausend Arbeitern. Allerdings blieb die Zahl der Dampfmaschinen zunächst noch begrenzt. In ganz Preußen gab es 1832 erst 210 Dampfmaschinen. Im Königreich Hannover wurde 1831 erst die erste in Gang gesetzt.

Mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters in der Mitte der 1830er Jahre wuchs die Nachfrage nach Schienen und Lokomotiven. Seit den 1830er Jahren vermehrte sich daher die Zahl der Hersteller von Dampfmaschinen und Lokomotiven. Dazu zählte die Maschinenfabrik Esslingen, die Sächsische Maschinenfabrik in Chemnitz, August Borsig in Berlin, in München Josef Anton Maffei, die später so genannte Firma Hanomag in Hannover, Henschel in Kassel und in Karlsruhe Emil Kessler. An der Spitze stand unbestritten die Firma Borsig, die 1841 ihre erste und 1858 bereits die tausendste Lokomotive herstellte und mit 1100 Beschäftigten zur drittgrößten Lokomotivfabrik der Welt aufstieg. Deren Aufstieg wiederum vergrößerte den Bedarf an Produkten der Montanindustrie.

Lokomotivfabrik von August Borsig (um 1847)

Im Bereich der Metallverarbeitung besaß der Maschinenbau als modernster und wachstumsintensivster Bereich eine Leitfunktion. Neben einigen Großbetrieben gab es in diesem Bereich zahlreiche kleinere und mittlere Unternehmen nicht selten in Familienbesitz. Hauptstandorte waren Chemnitz, Berlin, Hannover, Leipzig Mannheim und Köln. Daneben zogen die Auftraggeber etwa in der Schwer- oder Textilindustrie Betriebe dieser Art an. Der Maschinenbau in Deutschland profitierte von der Gründung verschiedener Gewerbeschulen, die teilweise später zu technischen Hochschulen wurden. Während man in England im Bereich des Maschinenbaus neue Produkte noch aufgrund empirischer Erfahrungen entwickelte, setzte sich in Deutschland bereits die ingenieurmäßige Berechnung durch. Hatte man in den 1860er Jahren vor allem Dampfmaschinen produziert, verteilten sich die Produktionsschwerpunkte 1871 etwa gleichmäßig auf Textilmaschinen, Dampfmaschinen und Landmaschinen. Hatte es im Gebiet des Zollvereins 1846 erst 1518 Dampfmaschinen gegeben, waren es 1861 bereits 8695 Stück. Allein in Preußen gab es 1873 25.000 Anlagen. [7]

Bergbau

Der Abbau von Erzen oder Kohle unterlag bis ins 19. Jahrhundert hinein dem fürstlichen Bergregal. Im Saargebiet übernahm der preußische Staat die Kohlegruben bis auf eine Ausnahme in Staatsbesitz. In den preußischen Westgebieten wurde seit 1766 das sogenannte Direktionalprinzip eingeführt. Seit der Gründung der Provinzen Rheinland und Westfalen wurde seit 1815 der Oberbergamtbezirk Dortmund geschaffen, dieser reichte von Emmerich im Westen bis Minden im Osten, von Ibbenbüren im Norden bis Lüdenscheid im Süden. Die Bergbehörden regulierten Abbau, Arbeitsbedingungen und Bezahlung der „Bergknappen.“ Dies bedeutete einen beachtlichen Schutz der Beschäftigten, schränkte aber auch die unternehmerischen Entscheidungen ein. Obwohl sich die Förderung zwischen 1790 und 1815 von 177.000 auf 513.000 Tonnen erheblich steigerte, blieb die wirtschaftliche Bedeutung doch noch recht bescheiden. So waren 1815 etwa erst 3400 Bergknappen beschäftigt. Durch den Einsatz von Dampfmaschinen zur Entwässerung konnten der Abbau in größeren Tiefen erfolgen. Entscheident war allerdings die Möglichkeit mit den sogenannten Tiefbauzechen eine Mergelschicht zu durchbrechen. Als einer der ersten Unternehmer ließ Franz Haniel (Miteigentümer der Gutehoffnungshütte) seit 1830 bei Essen solche Zechen anlegen. In den folgenden Jahren nahm die Zahl der Tiefbauzechen auf 48 mit 95 Dampfmaschinen (1845) zu.

Bis 1840 stieg die Fördermenge im Oberbergamtsbezirk auf 1,2 Millionen Tonnen und einer Beschäftigtenzahl von immerhin fast 9000 Mann an. Durch die Schiffbarmachung der Ruhr in der Endphase der Regierungszeit von Friedrich II. wurde der Kohlenexport deutlich erleichtert. Ein Beispiel für die Möglichkeit trotz der obrigkeitlichen Aufsicht im Bergbau erfolgreich zu sein war etwa Mathias Stinnes aus der Hafenstadt Mülheim. Dieser baute ab 1818 systematisch ein Kohletransportunternehmen mit Abnehmern im Rheinland und Holland auf. Stinnes verfügte bald über zahlreiche Frachtkähne und setzte als einer der ersten auch dampfbetriebene Schleppschiffe ein. Mit dem Gewinn kaufte er Anteil von Bergbauunternehmen. In seinem Todesjahr war er mit vier eigenen Zechen und Anteilen an 36 weiteren Gruben der wichtigste Bergbauunternehmer des Reviers.

Auch in anderen Revieren wurde die Kohleförderung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verstärkt. Dazu zählte etwa das Aachener Revier im Bergamt Düren. In dieser Region gab 1836 immerhin 36 Zechen.

Steinkohleförderung in Preußen 1817-1870 (in 1000 t)

Vor allem die durch den Eisenbahnbau ausgelöste Nachfrage nach Eisenprodukten wirkte sich seit den 1840er Jahren auch förderlich auf den Bergbau aus. Hinzu kamen Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. Förderlich für die unternehmerische Initiative war auch, dass in Preußen die obrigkeitliche Kontrolle des Bergbaus ab 1851 aufgegeben. Abgeschlossen wurde diese Entwicklung freilich erst mit der preußischen Bergrechtsreform von 1861. Dies war eine der Ursachen für den Aufschwung des privatwirtschaftlichen Bergbaus an der Ruhr oder in Schlesien.

Im Bereich des Bergbaus setzte sich in dieser Zeit die moderne Aktiengesellschaft als Unternehmensform durch. Der Ire William Thomas Mulvany begründete 1854 die Hibernia AG, im Jahr 1856 gründeten verschiedene Aktionäre die Harpener Bergbau AG. In den 1850er Jahren wurden im Ruhrgebiet zahlreiche neue Zechen angelegt. Im Jahr 1860 erreichte ihre Zahl mit 277 Unternehmen ihren Höhepunkt. Damit verbunden war ein erheblicher Zuwachs der Fördermengen. In den Folgejahren ging die Zahl der Zechen zurück, ohne dass dadurch die Kapazitäten zurückgegangen waren. Vielmehr wurden verschiedene Zechen zu größeren Einheiten fusioniert. Am erfolgreichsten war am Ende der industriellen Revolution Friedrich Grillo 1873 mit seiner Gelsenkirchener Bergwerks AG. [8]

Eisen- und Stahlproduktion

Krupp-Werk Essen um 1864

Auch die Anfänge einer Reihe von später führenden schwerindustriellen Unternehmen fallen in die Zeit der Frühindustrialisierung. An der Saar spielte die Carl Ferdinand von Stumm-Halberg und seine Familie in der Schwerindustrie die führende Rolle, vor allem als sie seit 1827 den Konkurrenten Dillinger Hütte kontrollierte. In Sterkrade bei Oberhausen gründeten 1810 verschiedene Unternehmen die Gutehoffnungshütte. Hatte das Unternehmen um 1830 herum erst 340 Arbeiter waren es Anfang der 1840er Jahre bereits etwa 2000. Friedrich Krupp hatte 1811 in Essen die Gußstahlproduktion aufgenommen, hinterließ seinem Sohn Alfred 1826 allerdings eine hochverschuldete Firma. Die Lage des Unternehmens blieb problematisch, bis in den 1840er Jahren der Eisenbahnbau die Nachfrage ankurbelte.

Eine wichtige technische Innovation in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die Errichtung von Puddelwerken, die unter Einsatz von Holzkohle wesentlich produktiver und kostengünstiger waren als die alten Hütten auf Holzkohlebasis. 1824 wurde das Verfahren bei einer Hütte in Neuwied eingeführt, 1825 folgte bei Düren die Lendersdorfer Hütte von Eberhard Hoesch, ein Jahr später folgte Harkorts Werk. In den folgenden beiden Jahrzehnten folgten weitere Umbauten oder Neugründungen. Teilweise wie etwa im Fall der Hüstener Gewerkschaft wurden weitere Betriebsabteilungen wie Walzwerke, Drahtziehereien oder Maschinenbauabteilungen gegründet.

Insgesamt waren um 1850 zu Beginn der eigentlichen industriellen Revolutiion im Gebiet des deutschen Bundes erst 13500 Arbeiter im Bereich der Roheisenerzeugung beschäftigt und ihre Produktionsmenge lag bei rund 214.000 Tonnen. In den folgenden zehn Jahren wuchs die Produktion um 150%, in den sechziger Jahren noch einmal um 160% und auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution von 1870 bis 1873 um 350%. In dieser Zeit waren die Arbeiterzahlen lediglich um 100% gewachsen.

Eisen- und Stahlproduktion in Preußen 1800-1870 (in 1000 t)

Der Ausbau der Eisenbahn ließ den Badarf an Eisen und Schienen und sonstigen montanindustriellen Produkten innerhalb kurzer Zeit in die Höhe schnellen. Innerhalb der Metallerzeugung sorgten technische Innovationen für einen erheblichen Produktionsfortschritt, wie die erwähnte Erzeugung von Eisen mit Koks statt wie bisher mit der teuren Holzkohle. Wurden 1850 erst 25% des Eisens mit Koks hergestellt, waren es nur drei Jahre später bereits 63%! In den 1860er Jahren setzte sich in der Stahlerzeugung das Bessemerverfahren durch. Dadurch konnte auf industriellem Wege aus flüssigen Roheisen Stahl hergestellt werden. Die Produktion gerade von Stahl nahm während der industriellen Revolution stark zu. Bei Krupp arbeiteten 1835 67 Personen, 1871 waren es bereits 9000 und 1873 knapp 12.000 Arbeitskräfte. [9]

Wirtschaftliche Wechsellagen

Betrachtet man die Wirtschaft in diesem Zeitraum insgesamt waren die Wachstumsraten nicht sehr beeindruckend. Anders sieht die Sache aus, wenn man die verschiedenen Wirtschaftsektoren getrennt betrachtet. Das mit Abstand größte Wachstum wies der industrielle Bereich auf. Es war diese Entwicklung, die für die Zeitgenossen das eigentlich neue darstellte. Allerdings war der sekundäre Sektor noch nicht stark genug um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu dominieren. Erst gegen Ende der industriellen Revolution um 1870 herum übernahm er die Führungsrolle eindeutig. Bis dahin wies die Entwicklung der Landwirtschaft also der Hauptbestandteil des primären Sektors noch eine eigene Dynamik auf. Damit hängt zusammen, dass gesamtwirtschaftliche Konjunkturzyklen im heutigen Sinn erst seit dem Beginn des Kaiserreichs zu beobachten sind. Bis dahin mischten sich in den „wirtschaftlichen Wechsellagen“ ältere agrarisch geprägte Auf und Abschwünge mit industriellen Einflüssen. Die agrarischen Wirtschaftskrisen älteren Typs hingen dabei in erster Linie mit den Ernteausfällen also natürlichen Bedingungen zusammen. Gute Ernten machten die Ernährung billiger, ein zu hoher Preisverfall allerdings führte zur Not bei den Landwirten mit erheblichen Auswirkungen auf die Nachfrage von gewerblichen Produkten. Umgekehrt führten schlechte Ernten zu einem extremen ansteigen der Ernährungskosten. Agrarkrisen dieser Art gab es 1805/06, 1816/17, 1829/30 und die schlimmste war die von 1846/47 mit katastrophalen Folgen.

Aktienindex Deutscher Börsen 1840-1870

Der industrielle Typ der Konjunktur lässt sich in Deutschland erstmals in der Mitte der 1840er Jahre nachweisen. Das Nachlassen dieses Aufschwungs hing mit der Agrarkrise von 1847 zusammen und verstärkte diese noch einmal. Zur Lebensmittelteuerung und Hungerkrise kamen Arbeitslosigkeit und Verdienstausfall. Dies hat die vorrevolutionäre Entwicklung auch in den unteren Schichten noch einmal verstärkt.

Für eine grundsätzliche Wende spricht, dass die agrarischen Ernteausfälle etwa in den frühen 1850er Jahren sich nur noch regional auswirkten, da insbesondere die Eisenbahn für einen innereuropäischen Ausgleich sorgte. In diese Zeit fielen Investitionen in alle gewerblichen Bereiche aber vor allem in die Eisenbahn. Der Aufstieg der Industrie wurde 1857-1859 durch einen massiven Konjunkturabschwung, der vielfach auch als „erste Weltwirtschaftskrise“ (Hans Rosenberg) bezeichnet wurde, unterbrochen. Im Kern handelte es sich dabei um eine Handels-, Spekulations- und Bankenkrise ausgehend vor allem von Hamburg. Zur Krise kam es, als die mit Bankwechseln finanzierten Handels- und Rüstungsgeschäfte zwischen Hamburg, Amerika, England und Skandinavien platzten. Der Ursprung lag dabei in den USA, wo der Zusammenbruch einer Bank eine Art Kettenreaktion und den Zusammenbruch zahlreicher weiterer Kreditinstitute auslöste. Allerdings gab es auch Faktoren im industriellen Bereich. So wurden vielerorts Produktionskapazitäten aufgebaut, die mit der Nachfrage nicht Schritt hielten. Die Krise war allerdings wesentlich kürzer und die Auswirkungen weniger gravierend als die „Gründerkrise“ nach 1873.

Im Vergleich zur ersten Hälfte der 1850er Jahre blieb die Konjunktur in der ersten Hälfte der 1860er Jahre vergleichsweise schwach. Dies lag vor allem an äußeren Einflüssen, wie den amerikanischen Bürgerkrieg. Durch Ausbleiben von Baumwolllieferungen aus dem Süden litt vor allem die Textilindustrie. Im Übrigen hielten sich die Unternehmen nach den Erfahrungen der Jahre 1857-59 mit Investitionen zurück. Nach der Mitte der 1860er Jahre erfolgte erneut ein beachtlicher wirtschaftlicher Aufschwung, der in den „Gründerboom“ überging. Dieser wurde nicht mehr allein von der Schwerindustrie getragen, sondern fast ebenso deutlich wuchsen die Textilindustrie und die Landwirtschaft. Nur kurz gebremst durch den Krieg von 1870/71 setzte sich das Wachstum bis zum Beginn der Gründerkrise 1873 fort. Waren die wirtschaftlichen Wechsellagen noch in der Mitte des Jahrhunderts auch agrarisch bestimmt, dominierte nunmehr eindeutig die Industrie. [10]

Wandel der Gesellschaft

Während der Jahrzehnte der industrielle Revolution begann sich nicht nur die Wirtschaft sondern auch die Gesellschaft stark zu verändern. Ähnlich wie im wirtschaftlichen Raum ältere Gewerbeformen neben der modernen Industrie standen, mischten sich auch ältere und neuere Lebensweisen, soziale Gruppen und gesellschaftliche Problemlagen.

Bürgertum

Im Bürgertum trat neben das Bildungsbürgertum mit der industriellen Entwicklung ein neues Wirtschaftsbürgertum (die deutsche Form der Bourgeoisie) also der Gruppe der Unternehmer. Dieses war zwar zahlenmäßig die kleinste bürgerliche Teilgruppe, begann aber das Bild des Bürgertums ganz zu beeinflussen. Die soziale Herkunft der Wirtschaftsbürger war unterschiedlich. Einige von ihnen wie August Borsig waren soziale Aufsteiger aus Handwerkerkreisen, ein beträchtlicher Teil stammte wie etwa die Krupps aus angesehenen, lang eingesessenen und wohlhabenden stadtbürgerlichen Kaufmannsfamilien. Bereits während der industriellen Revolution verlor der Typus des sozialen Aufsteigers an Gewicht. Während etwa 1851 erst 1,4% der Unternehmer akademisch gebildet waren, hatten 1870 37% aller Unternehmer eine Hochschule besucht. Seit den 1850er Jahren begann sich das Wirtschaftsbürgertum durch seinen Lebensstil etwa durch den Bau von repräsentativen Villen oder den Kauf von Landbesitz sich von den übrigen bürgerlichen Gruppen abzusondern. Teilweise begannen diese sich in ihrem Lebensstil am Adel zu orientieren. Die Möglichkeiten dazu hatten allerdings die Besitzer von Großbetrieben. Daneben gab es eine mittlere Schicht von Unternehmern, die wie die Familie Bassermann, sich vom Adel abgrenzte und einer ausgesprochenen Mittelstandsideologie folgte. [11]

Pauperismus

So beeindruckend das Wachstum der neuen Industrie in einigen Gegenden auch war, waren diese Impulse lange Zeit nicht ausreichend um eine wachsende Bevölkerung ausreichend zu beschäftigen und zu ernähren. Hinzu kam, dass der Zusammenbruch des alten Gewerbes und die Krise des Handwerks die soziale Not noch verschärfte. Davon betroffen war vor allem das vielfach übersetze produzierende Handwerk. Auf mittlere Sicht allerdings gelang es den Handwerkern sich an die industriekapitalistischen Bedingungen anzupassen. So profitierte das Bauhandwerk vom Wachstum der Städte und andere Gewerbebereichen konzentrierten sich zunehmend auf die Reparatur statt auf die Produktion.

In der ländlichen Gesellschaft hatten sich seit dem 18. Jahrhundert die Zahl der unter- oder kleinbäuerlichen Schichten mit nur wenig oder gar keinem Ackerland stark vermehrt. Dazu hatten nicht zuletzt die gewerblichen Erwerbsmöglichkeiten sei es im Landhandwerk oder im Heimgewerbe stark zugenommen. Mit der Krise des Handwerks und dem Niedergang des Heimgewerbes gerieten erhebliche Teile dieser Gruppen in Existenznöte. Diese Entwicklungen trugen zum Pauperismus des Vormärz nicht unwesentlich bei. Mittelfristig kamen aus diesen Gruppen große Teile der Fabrikarbeiter, aber für eine längere Übergangszeit bedeutete die Industrialisierung eine Verarmung von zahlreichen Menschen. Zunächst gingen mit den Gewinnmöglichkeiten der Lebensstandard zurück ehe ein Großteil etwa der Heimgewerbetreibenden erwerbslos wurde. Am bekanntesten sind in diesem Zusammenhang die schlesischen Weber. [12]

Auswanderung

Da die meisten der neuen Industrien zunächst die lokalen Unterschichten Arbeit gaben, spielte die Binnenwanderung in den ersten Jahrzehnten noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen schien die Auswanderung eine Möglichkeit zu sein, die soziale Not zu überwinden. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war der quantitative Umfang dieser Art von Wanderungsbewegung noch begrenzt. Zwischen 1820 und 1830 schwankte die Zahl der Auswanderer zwischen 3000 und 5000 Personen pro Jahr. Seit den 1830er Jahren begannen die Zahlen deutlich anzusteigen. Hier wirkte sich vor allem die Hauptphase des Pauperismus und der Agrarkrise von 1846/47 aus. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Bewegung daher auch 1847 mit 80.000 Auswanderern pro Jahr.

Deutsche Auswanderer im Hamburger Hafen (um 1850)

Die Auswanderung selbst nahm organisierte Formen zunächst durch Auswanderungsvereine und zunehmend durch kommerziell orientierte Agenten an, die nicht selten mit anrüchigen Methoden arbeiteten und ihr Klientel betrogen. Teilweise vor allem in Südwestdeutschland insbesondere in Baden wurde die Auswanderung von den Regierungen gefördert, um so die soziale Krise zu entschärfen.

In den frühen 1850er Jahren stieg die Zahl der Auswanderer weiter an und lag 1854 bei 239.000 Menschen pro Jahr. Dabei mischten sich soziale, wirtschaftliche und auch latent politische Motive. Insgesamt wanderten zwischen 1850 und 1860 etwa 1,1 Millionen Personen aus, davon kamen allein ein Viertel aus den Realteilungsgebieten Südwestdeutschlands.[13]

Entstehung der Arbeiterschaft

In den Jahrzehnten der industriellen Revolution also seit den 1850er Jahren begann die wachsende Industrie nunmehr auch vermehrt Binnenwanderer anzuziehen. Diese vermehrten die Zahl derjenigen unterbürgerlichen Schichten, die etwa ab den 1840er Jahren als Proletariat bezeichnet wurden. Wie differenziert diese Gruppe er traditionellen zur industriellen Gesellschaft war, zeigen zeitgenössischen Definitionen. Dazu zählten Handarbeiter und Tagelöhner, die Handwerksgesellen und Gehilfen, schließlich die Fabrik- und industriellen Lohnarbeiter. Das Verschmelzen dieser Gruppen zu einer Arbeiterschaft mit einem mehr oder weniger gemeinsamen Selbstverständnis erfolgte zunächst in den Städten und war nicht zuletzt ein Ergebnis der Zuwanderung von ländlichen Unterschichten. Die Angehörigen der pauperisierten Schichten des Vormärz hofften in den Städten dauerhaftere und besser entlohnte Verdienste zu finden. Im Laufe der Zeit wuchs die Anfangs sehr heterogene Schicht der „arbeitenden Klassen“ zusammen, es entwickelte sich gefördert durch das enge Zusammenleben in den engen Arbeiterquartieren ein dauerhaftes soziales Milieu.

Bezeichnend für den Wandel ist, dass der Begriff Pauperismus im allgemeinen Sprachgebrauch seit etwa 1860 keine Rolle mehr spielte. Innerhalb der „arbeitenden Klassen“ vollzog sich ein tiefgreifender Mentalitätswandel. Hatten die städtischen und ländlichen Unterschichten ihre Not noch weitgehend als unabänderlich angesehen, führten die neuen Verdienstmöglichkeiten in der Industrie zu Verstärkung des Veränderungswillens. Die Betroffenen sahen ihr Lage als ungerecht an und drängten auf Veränderungen. Dies war eine der sozialen Fundamente für die entstehende Arbeiterbewegung. .[14]

Anmerkungen

  1. Pierenkemper, Gewerbe und Industrie, S.49f., S.58-619, Siemann, Gesellschaft, S.94-97
  2. Kaufhold, Handwerk und Industrie, S.328-333, Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd.2, S.79-86, S.91-94, Pierenkemper, Industrie und Gewerbe, S.49-58
  3. Pierenkemper, Industrie und Gewerbe, S.58-61
  4. Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd.2, S.54-64, S.72, S.93f., Kaufhold, Handwerk und Industrie, S.329f.
  5. Siemann, Gesellschaft, S.99f., Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd.2, S.627
  6. Kellenbenz, Verkehrs- und Nachrrichtenwesen, S.370-373, Wehler, Bd.3, S.67-74.
  7. Kellenbenz, Verkehrs- und Nachrrichtenwesen, S.370-373, Siemann, Gesellschaft, S.108-111, Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd.2, S.77, S.81, S.614, S.628, Kocka, Arbeitsverhältnisse, S.68, vergl. Rainer Fremdling: Modernisierung und Wachstum der Schwerindustrie in Deutschland 1830-1860. In: Geschichte und Gesellschaft 5.Jg. 1979 S.201-227.
  8. Fischer, Bergbau, Industrie und Handwerk, S.544-548, Siemann, Gesellschaft, S.105f., Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd,2, S.73-82, S.626
  9. Siemann, S.106f., Wehler, Bd2, S.76f-78, 82f., Kocka, Arbeitsverhältnisse, S.72
  10. Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum, S.198-210, S.255-275, Siemann, Gesellschaft, S.102-104, S.115-123, vergl. Reinhard Spree: Veränderungen der Muster zyklischen Wachstums der deutschen Wirtschaft von der Früh- zur Hochindustrialisierung. In: Geschichte und Gesellschaft 5. Jg. 1979 S.228-250.
  11. Siemann, Gesellschaft, S.157-159
  12. Siemann, Gesellschaft, S.150-52, S.162f.
  13. Siemann, Gesellschaft, S.123-136.
  14. Siemann, Gesellschaft, S.163-171

Literatur

  • Christoph Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee. München, 1994: dtv wissenschaft. ISBN 3-423-04622-8
  • Jürgen Kocka: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. Bonn, 1990.
  • Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd.29). München, 1994. ISBN 3-489-55015-2
  • Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt, 1990.
  • Wolfram Fischer, Jochen Krengel, Jutta Wietog: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Bd.1: Materialien zur Geschichte des Deutschen Bundes 1815-1870. München, 1982. ISBN 3-406-04023-3
  • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.2 Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution 1815-1845/49. München, 1989.
  • Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.3 Von der Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des ersten Weltkrieges. München, 1995
  • Wolfgang Zorn (Hrsg.): Handbuch der Deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd.2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, 1976. ISBN 3-12-90014-9
Darin u.a.:
Knut Borchardt: Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen. S.198-275.
Karl Heinrich Kaufhold: Handwerk und Industrie 1800-1850. S.321-368.
Hermann Kellenbenz: Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Handel-, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen. S.369-425
Wolfram Fischer: Bergbau, Industrie und Handwerk 1850-1914. S.527-562.
Richard Tilly: Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Handel, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen 1850-1914, S.563-596

Siehe auch