Insolvenzprognoseverfahren
Begriffsbestimmung
Als Insolvenzprognoseverfahren werden Verfahren bezeichnet, welche die Wahrscheinlichkeiten bestimmen, mit der Unternehmen, Privatpersonen, Staaten oder sonstige Institutionen innerhalb eines spezifizierten Zeithorizonts, typischerweise einem Jahr, insolvent werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich jedoch ausschließlich auf Verfahren für die Prognose von Unternehmensinsolvenzen.
Empirische Fakten: Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland
Während zu Beginn der 1990er Jahre in Deutschland noch rund 10.000 Unternehmensinsolvenzen pro Jahr zu verzeichnen waren, stieg deren Zahl bis 2004 auf fast 40.000 an. Bei einem Unternehmensbestand von rund drei Millionen entsprach dies einer durchschnittlichen Insolvenzquote von 1,3% pro Jahr – je nach Unternehmenssegment waren aber noch deutlich höhere Insolvenzquoten zu verzeichnen. Die Höhe der neu entstandenen offenen Insolvenzforderungen, die erfahrungsgemäß zu 90%-95% uneinbringbar sind, erhöhte sich in diesem Zeitraum sogar von ca. 6 Milliarden auf 40-60 Milliarden Euro pro Jahr (2002/2003) und erreichte damit auch ein unter volkswirtschaftlichen Maßstäben relevantes Niveau. Seit Anfang 2005 ist die Zahl der Insolvenzen wieder rückläufig. So lag die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in den Monaten Januar bis April 2006 etwa 15% unter den entsprechenden Werten der Jahre 2003 und 2004.[1]
Motivation für die Entwicklung von Insolvenzprognoseverfahren
Der Fähigkeit zur Erstellung trennscharfer Prognosen von Unternehmensinsolvenzen, aber auch der Fähigkeit zur Ermittlung von Handlungsempfehlungen zur Vermeidung von Insolvenzen kommt sowohl aus individueller als auch aus volkswirtschaftlicher Sicht eine große Bedeutung zu.
Auf individueller Ebene sind neben den Eigentümern, Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten, Wirtschaftsprüfern und sonstigen Geschäftspartnern eines Unternehmens vor allem Banken an präzisen Insolvenzprognosen interessiert, da sie bei Unternehmensinsolvenzen regelmäßig erhebliche Schäden zu verzeichnen haben.[2],[3] Allein die administrativen Aufwendungen (Konkursverwalter) und Kosten, die mit der Liquidierung der Aktiva des insolventen Unternehmens verbunden sind, verzehren im Durchschnitt zwischen 15% bis 20% der Bruttoliquidationserlöse.[4]
Aus Bankensicht sind trennscharfe Insolvenzprognosen eine wesentliche Voraussetzung dafür, um eine risikogerechte Preissetzung und Ausgestaltung nicht-finanzieller Kreditkonditionen (Limite, geforderte Sicherheiten) umsetzen zu können, Kreditprozesse kostengünstig zu gestalten (durch die Identifikation kritischer Fälle, die einer aufwendigeren Betreuung durch Kreditexperten bedürfen), die eigene Liquidität durch die Schaffung von Verbriefungsmöglichkeiten zu erhöhen und um den ökonomischen bzw. [[Neue Baseler Eigenkapitalverordnung|aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalbedarf] zu ermitteln und zu steuern.[5]
Aus volkswirtschaftlicher Sicht werden trennscharfe Insolvenzprognoseverfahren als eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität des Bankensystems gesehen. Überhöhte Kreditrisiken waren die häufigste Ursache der über 100 Bankinsolvenzen seit den 1960er Jahren in (West-)Deutschland. [6] Auch entfallen über 90% der aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalanforderungen bei Banken auf die Absicherung von Kreditrisiken.[7]
Ferner ist die Verfügbarkeit leistungsfähiger Insolvenzprognoseverfahren eine notwendige Voraussetzung, um mittels risikoadäquater Kreditkonditionen Kreditnehmer zu einem anreizkompatiblen, risikobewussten Verhalten zu motivieren.[8] Ebenso kann durch leistungsfähigere Insolvenzprognosen Marktversagen, im Sinne eines vollständigen Rückzugs von Banken oder anderen Fremdkapitalgebern aus der Finanzierung von Unternehmen in überdurchschnittlich riskanten Segmenten vermieden werden.[9]
Klassifikation von Insolvenzprognoseverfahren
Der aktuelle Stand der Wissenschaft in der Insolvenzprognoseforschung ist durch eine außerordentliche Methodenvielfalt geprägt. Ein Grund für diese Vielfalt dürfte darin begründet liegen, dass derzeit kein allgemein akzeptiertes, umfassendes theoretisches Fundament zur Erklärung
von Unternehmensinsolvenzen verfügbar ist.[10]
Ursächlich für die Vielfalt an Insolvenzprognosetechniken dürfte auch sein, dass im Vorhinein keines der zahlreichen Verfahren, die sich häufig bereits in anderen Kontexten als der Insolvenzprognose bewährt haben, als definitiv ungeeignet oder unterlegen verworfen werden kann. Aber auch im Nachhinein, d.h. nach Durchführung vieler unabhängiger Validierungsstudien, lassen sich nur wenige Verfahren als ungeeignet verwerfen, da deren Prognosequalitäten kaum Unterschiede aufweisen.
Ferner können – je nach prinzipieller Verfügbarkeit bzw. den jeweils akzeptierten Kosten der Informationserhebung – eine Vielzahl unterschiedlicher Datenquellen und Datenarten für die Zwecke der Insolvenzprognose herangezogen werden, deren Aggregation zum Teil unterschiedliche Verfahren bedingen bzw. aus statistisch-technischen Gründen als zweckmäßig erscheinen lassen.[11] Für einen Überblick über die Vielzahl der in Wissenschaft und Praxis verwendeten Insolvenzprognoseverfahren siehe die folgende Abbildung.
Quellen
- ↑ Zur Entwicklung der Insolvenzanzahl und -quoten sowie zum Bestand und zur Einbringbarkeit von Insolvenzforderungen siehe STATISTISCHES BUNDESAMT (2004a, S. 31 und S. 44), zu aktuellen Daten zum Insolvenzgeschehen siehe http://www.destatis.de (18.10.2006).
- ↑ Siehe DIMITRAS, ZANAKIS, ZOPOUNIDIS (1996, S. 488) und BALCAEN, OOGHE (2004, S. 4) oder HARTMANN-WENDELS ET AL (2005, S. 4f.) für eine Analyse der Interessenten an Insolvenzprognoseverfahren für Unternehmen.
- ↑ siehe FRANKS, SERVIGNY, DAVYDENKO (2004, S. 4), BASLER AUSSCHUSS (2000b, S. 27f.), BASLER AUSSCHUSS (2000c, S. 7f.), S&P (2003a, S. 64, S. 66), MOODY’S (2004a, S. 13) und GUPTON, STEIN (2005).
- ↑ siehe FRANKS, SERVIGNY, DAVYDENKO (2004, S. 13)
- ↑ siehe ENGLISH, NELSON (1998, S. 11f.), TREACY, CAREY (2000, S. 897), BASLER AUSSCHUSS (2000b, S. 33), ESCOTT, GLORMANN, KOCAGIL (2001a, S. 3) und SCHEULE (2003, S. 96ff.)
- ↑ siehe FISCHER (2004, S. 13 und die dort zitierte Literatur)
- ↑ siehe DEUTSCHE BUNDESBANK (2005b, S. 44)
- ↑ siehe BASLER AUSSCHUSS (2004, §4), OENB (2004b, S. 33)
- ↑ Siehe KFW (2005a, S. 6): „Dies deutet auf die mittlerweile flächendeckende Verbreitung bankinterner Ratingtools hin, die nun auch bei kleinen Unternehmen Anwendung finden. […] Früher führten die für alle Kunden eines Kreditinstitutes weitgehend einheitlichen Zinssätze dazu, dass vor allem kleinere Unternehmen Schwierigkeiten hatten, überhaupt Kredite zu erhalten. Heute nutzen Banken und Sparkassen Ratingtools dazu, Kreditkonditionen zunehmend risikoorientiert zu gestalten. Damit wird insbesondere für kleine Unternehmen der Zugang zu Bankkrediten erleichtert.“
- ↑ siehe BASLER AUSSCHUSS (2000c, S. 109ff.), ALTMAN, SAUNDERS (1998, S. 1724), KEASEY, WATSON (1991, S. 90) oder GÜNTHER, HÜBL, NIEPEL (2000, S. 347).
- ↑ siehe FRYDMAN, ALTMAN, KAO (1985, S. 270)
Literatur
- ALTMAN, E. I., SAUNDERS, A. (1998): “Credit Risk Measurement: Developments over the last 20 years”, in Journal of Banking and Finance, Bd. 21, S. 1721-1742, 1998
- BALCAEN, S., OOGHE, H. (2004): “35 Years of Studies on Business Failure: An Overview of the Classic Statistical Methodologies and their Related Problems”, Vlerick Leuven Gent Working Paper Series 2004/15, http://www.vlerick.be/research/workingpapers/vlgms-wp-2004-15.pdf (18.10.2006), 2004, auch erschienen in British Accounting Review, Bd. 38 (1), S. 63-93, 2006
- BASLER AUSSCHUSS: siehe BASLER AUSSCHUSS FÜR BANKENAUFSICHT
- BASLER AUSSCHUSS FÜR BANKENAUFSICHT (HRSG.) (2000b): “Range of Practice in Banks’ Internal Ratings systems”, Diskussionspapier, Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIS), http://www.bis.org/publ/bcbs66.pdf (18.10.2006), 01/2000
- BASLER AUSSCHUSS FÜR BANKENAUFSICHT (HRSG.) (2000c): “Credit Ratings and Complementary Sources of Credit Quality Information”, Working Paper #3, http://www.bis.org/publ/bcbs_wp3.pdf (18.10.2006), 2000
- BASLER AUSSCHUSS FÜR BANKENAUFSICHT (HRSG.) (2004): „Internationale Konvergenz der Kapitalmessung und Eigenkapitalanforderungen, Überarbeitete Rahmenvereinbarung“, Übersetzung der Deutschen Bundesbank, http://www.bundesbank.de/download/bankenaufsicht/pdf/eigenkapitalempfehlung_de.pdf (18.10.2006), 06/2004
- DEUTSCHE BUNDESBANK (HRSG.) (2005b): „Finanzstabilitätsbericht 2005“, http://www.bundesbank.de/download/volkswirtschaft/finanzstabilitaetsberichte/2005fb_bbk.pdf (18.10.2006), 11/2005
- DIMITRAS, A. I., ZANAKIS, S. H., ZOPOUNIDIS, C. (1996): “A survey of business failures with an emphasis on prediction methods and industrial applications, Theory and methodology”, in European Journal of Operational Research, Bd. 90, S. 487-513, 1996
- ENGLISH, W. B., NELSON, W. R. (1998): “Bank Risk Rating of Business Loan”, Board of Governors of the Federal Reserve System FEDS Paper No. 98-51, http://ssrn.com/abstract=148753 (18.10.2006), 12/1998
- ESCOTT, P., GLORMANN, F., KOCAGIL, A. E. (2001b): “RiskCalcTM for Private Companies: The German Model”, Moody’s KMV, Modeling Methodology, http://www.moodyskmv.com/research/whitepaper/720441.pdf (18.10.2006), 11/2001
- FISCHER, A. (2004): „Qualitative Merkmale in bankinternen Ratingsystemen: eine empirische Analyse zur Bonitätsbeurteilung von Firmenkunden“, zugelassene Dissertation, Universität Münster, Uhlenbruch Verlag, Bad Soden am Taunus, 2004
- FRANKS, J., SERVIGNY, A. DE, DAVYDENKO, S. (2004): “A Comparative Analysis of the Recovery Process and Recovery Rates for Private Companies in the U.K., France, and Germany”, STANDARD AND POOR’S Risk Solution, 06/2004
- FRYDMAN, H., ALTMAN, E. I., KAO, D. L. (1985): “Introducing Recursive Partitioning for Financial Classification: The Case of Financial Distress”, in Journal of Finance, Bd. 40 (1), S. 269-291, 1985
- GÜNTHER, T., GRÜNING, M. (2000): „Einsatz von Insolvenzprognoseverfahren bei der Kreditwürdigkeitsprüfung im Firmenkundenbereich“, in Die Betriebswirtschaft, Heft 1/2000, S. 39-59, 2000
- GÜNTHER, T., HÜBL, G., NIEPEL, M. (2000): „Insolvenzprognose anhand unterjähriger Daten“, in Deutsches Steuerrecht (DStR), 2000 (8), S. 346-352, 2000
- GUPTON, G. M., STEIN, R. M. (2005): “LossCalc V2: Dynamic Prediction of LGD Modeling Methodology”, Moody’s KMV, Working Paper, http://www.moodyskmv.com/research/whitepaper/LCv2_DynamicPredictionOfLGD.pdf (18.10.2006), 01/2005
- HARTMANN-WENDELS, T., LIEBEROTH-LEDEN, A., MÄHLMANN, T., ZUNDER, I. (2005): „Entwicklung eines Ratingsystems für mittelständische Unternehmen und dessen Einsatz in der Praxis“, in Zeitschrift für Betriebswirtschaft ZfB), Sonderheft 52, S. 1-29, 2005
- KEASEY, K., WATSON, R. (1991): “Financial Distress Prediction Models: A Review of their Usefulness”, in British Journal of Management, Bd. 2, S. 89-102, 1991
- KFW: siehe KFW BANKENGRUPPE
- KFW BANKENGRUPPE (HRSG.) (2005a): „Unternehmensfinanzierung: Immer noch schwierig, aber erste Anzeichen einer Besserung“, Studie der KfW-Bankengruppe, http://www.kfw.de/DE_Home/Service/OnlineBibl48/Research/PDF-Dokumente_Unternehmensbefragung/Unternehmensbefragung_2005_lang.pdf 18.10.2006), 2005
- MOODY’S (HRSG.) (2004a): “Default & Recovery Rates of Corporate Bond Issuers, A Statistical Review of Moody’s Ratings Performance, 1920-2003”, Moody’s Investors Service, Special Comment, 01/2004
- OENB: siehe ÖSTERREICHISCHE NATIONALBANK
- ÖSTERREICHISCHE NATIONALBANK (HRSG.) (2004a): „Ratingmodelle und -validierung”, Leitfadenreihe zum Kreditrisiko, http://www.nationalbank.at/de/img/leitfadenreihe_ratingmodelle_tcm14-11172.pdf (18.10.2006), Wien, 2004
- ÖSTERREICHISCHE NATIONALBANK (HRSG.) (2004b): „Kreditvergabeprozess und Kreditrisikomanagement”, Leitfadenreihe zum Kreditrisiko, http://www.oenb.at/de/img/kreditvergabeprozess_tcm14-16318.pdf (18.10.2006), Wien, 2004
- S&P: siehe STANDARD AND POOR’S
- STANDARD AND POOR’S (HRSG.) (2003a): “Ratings Performance 2002, Default, Transition, Recovery, and Spreads”, Special Report 02/2003, The McGraw Hills Companies, 2003
- SCHEULE, H. (2003): „Prognose von Kreditausfallrisiken“, zugelassene Dissertation Universität Regensburg, Uhlenbruch Verlag, Bad Soden/Ts., 2003
- STATISTISCHES BUNDESAMT (HRSG.) (2004a): „Insolvenzen in Deutschland 2003, Strukturen und Entwicklungen“, http://www.destatis.de/presse/deutsch/pk/2004/insolvenzen_2003_i.pdf (18.10.2006), Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2004
- TREACY, W. F., CAREY, M. S. (2000): “Credit Risk Rating at Large U.S. Banks”, in Journal of Banking and Finance, Bd. 24 (1-2), S. 167-201, 2000