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Martin Walser

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Martin Johannes Walser (* 24. März 1927 in Wasserburg) ist ein deutscher Schriftsteller. Er wurde bekannt durch seine Darstellung innerer Konflikte der Antihelden in seinen Romanen und Erzählungen.

Leben

Die Eltern Martin Walsers betrieben die Bahnhofsrestauration und eine Kohlenhandlung in Wasserburg am Bodensee. Das Milieu seiner Kindheit wird im Roman Ein springender Brunnen geschildert. Von 1938 bis 1943 besucht er die Oberrealschule in Lindau und wird anschließend als Flakhelfer eingezogen. Nach dem Reichsarbeitsdienst erlebte er das Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat der Wehrmacht. Nach Kriegsende machte er 1946 in Lindau das Abitur und studiert in Regensburg und Tübingen die Fächer Literatur, Geschichte und Philosophie. Mit einer Dissertation zu Franz Kafka (Beschreibung einer Form) promoviert er 1951 bei Friedrich Beißner (ISBN 3-518-38391-4).

Während des Studiums arbeitete Walser als Reporter für den SDR und schrieb erste Hörspiele. Zusammen mit Helmut Jedele bildet er den Kern der "Genietruppe" des Hörfunks. 1950 heiratete er Katharina „Käthe” Neuner-Jehle. Aus dieser Ehe gingen die Töchter Franziska Walser, Alissa Walser, Johanna Walser und Theresia Walser hervor.

Seit 1953 wurde Walser regelmäßig zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen, die ihn 1955 für die Erzählung Templones Ende auszeichnete. Sein erster Roman Ehen in Philippsburg erschien 1957 und wurde ein großer Erfolg. Walser lebte von da an mit seiner Familie als freier Schriftsteller erst in Friedrichshafen dann in Nußdorf am Bodensee.

In den sechziger Jahren setzte sich Walser wie viele andere Intellektuelle für die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler ein. Er engagierte sich gegen den Vietnamkrieg und galt in den siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. 1988 hielt Walser im Rahmen der Reihe Reden über das eigene Land eine Rede, in der er deutlich machte, dass er die deutsche Teilung als schmerzende Lücke empfindet, mit der er sich nicht abfinden will. Diesen Stoff machte er auch zum Thema seiner Erzählung Dorle und Wolf. Auch wenn Walser ausdrücklich betonte, dass sich seine Haltung über die Zeit nicht verändert habe, sprechen einige Beobachter von einem Sinneswandel des Autors. [1]

Das Befremden der Szene, die Martin Walser lange als einen der ihren betrachtet hat, wurde zum vehementen Protest, als Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine Rede hielt, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust” ablehnte. Die sprachlich komplizierten Äußerungen Walsers wurden oft wie folgt interpretiert: Walser fühle sich durch die Nazi-Verbrechen tief berührt. Jedoch banalisiere die ständige Wiederholung der Darstellungen sein persönliches Empfinden für die Ausmaße dieser Verbrechen. Deshalb wolle er diese „gebetsmühlenartig” wiederholte „Aufarbeitung” trauriger deutscher Geschichte nicht vorantreiben. Kritiker, unter anderem Ignatz Bubis, warfen ihm in der folgenden hitzigen Debatte vor, er ebne den Weg für eine Bagatellisierung oder gar Leugnung der Nazi-Verbrechen. Ferner wurde Walser vorgeworfen, dass rechte Revisionisten, die dieses brisante Thema abblocken wollten, sich auf ihn berufen würden. Walser hielt dieser Kritik entgegen, dass er keine politische Instrumentalisierung seiner „sehr persönlichen Ansicht” beabsichtige und nur von seinem subjektiven Empfinden gesprochen habe.

Zwei Auszüge aus der Rede von Martin Walser in der Paulskirche am 11. Oktober 1998:

„Als die Medien gemeldet hatten, wer in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen werde, trudelten Glückwünsche herein. Zwei Eigenschaftswörter kamen auffällig oft vor im Glückwunschtext. Die Freude der Gratulierenden wurde öfter „unbändig” genannt. Auf die Rede, die der Ausgesuchte halten werde, hieß es auch öfter, sei man gespannt, sie werde sicher kritisch. Daß mehrere sich unbändig freuen, weil einem anderen etwas Angenehmes geschieht, zeigt, daß unter uns die Freundlichkeitsfähigkeit noch lebt. Darüber, daß von ihm natürlich eine kritische Rede erwartet werde, konnte der Ausgesuchte sich nicht gleichermaßen freuen... Er war nämlich, als er von der Zuerkennung erfuhr, zuerst einmal von einer einfachen Empfindung befallen worden, die, formuliert, etwa hätte heißen können: Er wird 25 oder gar 30 Minuten lang nur Schönes sagen, das heißt Wohltuendes, Belebendes, Friedenspreismäßiges. Zum Beispiel Bäume rühmen, die er durch absichtsloses Anschauen seit langem kennt. Und gleich der Rechtfertigungszwang: Über Bäume zu reden ist kein Verbrechen mehr, weil inzwischen so viele von ihnen krank sind.
25 Minuten Schönes – selbst wenn du das der Sprache abtrotzen oder aus ihr herauszärteln könntest, 25 oder gar 30 Minuten Schönes –, dann bist du erledigt. Ein Sonntagsrednerpult, Paulskirche, öffentlichste Öffentlichkeit, Medienpräsenz, und dann etwas Schönes! Nein, das war dem für den Preis Ausgesuchten schon ohne alle Hilfe von außen klargeworden, das durfte nicht sein...” - „... Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. (…) Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets ...”


Die angebliche Zuwendung Martin Walsers zur bürgerlichen Seite wird erneut zum öffentlichen Thema, als er bei der Klausurtagung der CSU in Wildbad Kreuth als Gastredner auftritt. Als er in seinem Schlüsselroman Tod eines Kritikers den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einerseits als Person und andererseits als Symbol einer unredlichen Kulturszene kritisierte, hagelte es Proteste. Frank Schirrmacher machte ihm infolgedessen den Vorwurf des Antisemitismus.

Eine im Verlagsrecht seltene Klausel ermöglichte es Walser nach dem Tod von Siegfried Unseld mit allen seinen Werken 2004 vom Suhrkamp Verlag zum Rowohlt Verlag zu wechseln. Insbesondere spielte laut eigener Aussage dabei die fehlende Positionierung des Verlags im Streit um seinen umstrittenen Roman Tod eines Kritikers eine Rolle.

Walser ist Mitglied der Akademie der Künste (Berlin), der Sächsischen Akademie der Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt und Mitglied des deutschen P.E.N.. Er lebt in Überlingen-Nußdorf.

Brunnen von Peter Lenk in Überlingen

Werke

Ein immer wiederkehrendes Motiv Martin Walsers ist das Scheitern am Leben. Walsers Helden tragen meist einsilbige Nachnamen („Dorn”, „Halm”, „Zürn”, „Lach”,"Gern"), und sie sind den Anforderungen, die ihre Mitmenschen oder sie selbst an sich stellen, nicht gewachsen. Der innere Konflikt, den sie deswegen mit sich austragen, findet sich in allen großen Walser-Romanen wieder. Dass die Kämpfe nur in der Seele seiner Helden brodeln, während die äußere Handlung meist Nebensache bleibt, macht Martin Walser zu einem typischen Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur (wie Heinrich Böll, Peter Handke oder Siegfried Lenz) und setzt ihn in Gegensatz zur angelsächsischen Literaturtradition, in der das Vorantreiben einer äußeren Handlung weit bedeutender ist. Nicht vergessen werden dürfen hier Walsers Theater-Arbeiten (die Liste unten ist nicht vollständig). Gleich mit seinem ersten Stück Der Abstecher sorgte er für heftige Diskussionen. Zum Beispiel, weil darin erstmals eine Bühnenfigur Umgangsdeutsch sprach, aber auch wegen der unverhohlenen Kritik an gesellschaftlichen Missständen.

Ehrungen

Walser wird auf einem Brunnen von Peter Lenk in Überlingen dargestellt.

Literatur

Kritische, teilweise auch polemisch geführte Auseinandersetzungen mit Walser:

  • Joachim Rohloff: Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik. KVV-Konkret. Hamburg, 1999. - „Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.” (Martin Walser, 1979.) - Joachim Rohloffs Buch untersucht den literarisch-politischen Werdegang Martin Walsers.
  • Dietzsch/Jäger/Schobert (Hg.): Endlich ein normales Volk? Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Eine Dokumentation. DISS-Duisburg, 1999. - Die Dokumentation der Duisburger Sprachwissenschaftler zeigt, wie die Presse der extremen Rechten Walsers Rede mit Begeisterung vereinnahmen konnte, ohne sich selbst oder den Text Walsers verbiegen zu müssen.
  • Arne Hoffmann: Warum Hohmann geht und Friedman bleibt. Antisemitismusdebatten von Möllemann bis Walser, 304 S., Verlag Edition Antaios, Albersroda 2005 ISBN 3-935063-26-1

Zur Diskussion um den Roman Tod eines Kritikers sind folgende Aufsatzsammlungen zu empfehlen:

  • Dieter Stein (Hrsg.): Der Streit um Martin Walser. Beiträge und Interviews von Eckhard Henscheid, Joachim Kaiser, Heimo Schwilk, Martin Walser, Günther Zehm u.a., Reihe Dokumentation, Band 3, Berlin: Edition JF, 2002, 114 S., ISBN 3-929886-13-8 (Darin wird die in der „Jungen Freiheit” geführte Debatte zur Kampagne im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers” dokumentiert)
  • Dieter Borchmeyer / Helmuth Kiesel (Hrsg.): Der Ernstfall - Martin Walsers „Tod eines Kritikers”, Hamburg: (Hoffmann und Campe) 2003 ISBN 3-455-09413-9

Ebenso

  • Torsten Gellner: Ein antisemitischer Affektsturm? - Walser, Schirrmacher, Reich-Ranicki und der „Tod eines Kritikers”, Marburg (Tectum) ISBN 3-8288-8730-9
  • Frank Hinkerohe: Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers” in der Diskussion der deutschen Literaturkritik. Duisburg: WiKu-Verlag. ISBN 3-86553-151-2

Kürzlich erschienen ist die folgende Publikation:

  • Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck”. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart (Metzler) 2005. [Vergleiche zur kontroversen Rezeption dieser Studie: http://www.perlentaucher.de/buch/21857.html ]

Umfassende Einführungen in Leben und Werk bieten:

  • Jörg Magenau: Martin Walser - Eine Biographie, Reinbek (Rowohlt) 2005. ISBN 3-498-04497-4
  • Heinz Ludwig Arnold: Umkreisung eines Dividualisten - Über Martin Walser, in: ders.:Von Unvollendeten - Literarische Porträts, Göttingen (Wallstein) 2005. ISBN 3-89244-866-3

Martin Walser in der Literaturdidaktik:

  • Hilmar Grundmann : Berufliche Arbeit macht krank - Literaturdidaktische Reflexionen über das Verhältnis von Beruf und Privatsphäre in den Romanen von Martin Walser, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2003, ISBN 3-631-38806-3

Filme

Ein fliehendes Pferd wird an den Originalschauplätzen (beginnend in Überlingen am Bodensee) verfilmt. (Regie: Rainer Kaufmann; Hauptrollen: Katja Riemann, Ulrich Noethen, Ulrich Tukur; Gate Television und Filmproduktion GmbH; soll 2007 in die Kinos.


Quellen

  1. So widersprechen sich Walsers Aussagen von 1986: „Ich finde, man muß sich der peinlichen Aufgabe stellen, wie ist es zu Auschwitz gekommen. Und das ist eine nationale Entwicklung, und das hat eben dann und dann angefangen und ist so und so gelaufen und hat zu Auschwitz geführt“ deutlich von den umstrittenen Äußerungen in der im Folgenden beschriebenen Debatte um seine Paulskirchenrede [1]