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Marcel Reich-Ranicki

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Marcel Reich-Ranicki [maʁˈsɛl ˌʁaɪ̯çʁaˈnɪtski] (* 2. Juni 1920 in Włocławek, Polen) ist ein deutscher Publizist und gilt als der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart.

Leben

Marcel Reich-Ranicki wurde unter dem Namen Marceli Reich als jüngster Sohn des Kaufmanns David Reich und seiner Frau Helene Reich geboren. Seine Mutter war deutscher Herkunft und kam sich in der polnischen Provinz verloren vor, ihre große Sehnsucht war eine Rückkehr nach Berlin. Reich-Ranicki beschreibt sie als sehr liebevoll und zugleich "weltfremd". Der Vater war als musischer Mensch im Kaufmannsberuf unglücklich und so "vollkommen ungeeignet" (MRR), dass er 1928 den Bankrott anmelden musste. Sohn Marceli durfte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Włocławek besuchen.

Berlin

Um ihm seine berufliche Zukunft nach dem geschäftlichen Ruin seines Vaters offen halten zu können, schickten ihn die Eltern zu den wohlhabenden Verwandten nach Berlin, darunter ein Patentanwalt und ein Zahnarzt. Ab 1929 lebte Reich-Ranicki in Berlin und besuchte in Berlin-Wilmersdorf das Fichte-Gymnasium. Während seine Schulkameraden ihre Freizeit bei nationalsozialistischen Schultreffen und -versammlungen verbringen mussten, konnte er sich dagegen in die Lektüre der deutschen Klassiker vertiefen. Er entdeckte die Welt des Theaters, der Konzerte und der Oper für sich. Besonders Furtwängler und Gustaf Gründgens waren ihm Trost und Halt in einer zunehmend restriktiver werdenden Umwelt. Trotz vieler nationalsozialistisch orientierter Lehrer galt am Fichte-Gymnasium das Gebot der Gleichbehandlung auch der jüdischen Schüler, wo er noch 1937 sein Abitur machen konnte. Doch seinen Antrag auf Einschreibung an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehnte man am 23. April 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft ab. Ende 1938 wurde er nach Polen ausgewiesen. Am 29. Oktober und am 7. November 1938 erfolgte nach kurzer Abschiebehaft eine ethnische Säuberung von ca. 17 000 polnischen und staatenlosen jüdischen Frauen, Männern und Kindern, darunter auch Marcel Reich-Ranicki. Er fuhr mit der Bahn nach Warschau, wo er niemanden kannte, die polnische Sprache musste er wieder erlernen und blieb dort ein Jahr arbeitslos. Am 1. September 1939 begann der deutsche Überfall auf Polen und beendete abrupt seine Arbeitssuche. Seine spätere Frau Teofila (Tosia) lernte er durch eine Tragödie kennen. Ihre Eltern wurden wegen der deutschen Okkupation aus Lodz vertrieben und enteignet, aus Scham und Verzweiflung erhängte sich am 2. Januar 1940 in Warschau ihr Vater Paweł Langnas. Reich-Ranickis Mutter erfuhr von dem Unglück und schickte ihren Sohn dorthin, weil er sich um die Tochter "kümmern" sollte.

Warschauer Ghetto, Flucht und Versteck

Im November 1940 wurde auch Reich-Ranicki zur Umsiedlung in das Warschauer Ghetto gezwungen. Er arbeitete bei dem von den Nazis eingesetzten Ältestenrat ("Judenrat") als Übersetzer und schrieb unter dem Autoren-Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen in der zweimal wöchentlich erscheinenden Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“ veröffentlicht hatte. In dieser Zeit von Agonie und allgegenwärtigem Sterben machte er sich lebenslänglich beibehaltene Überlebensstrategien zur Gewohnheit. In Gaststätten pflegt er seitdem immer in Blickrichtung auf den Eingang zu sitzen, eine zweite Rasur am Nachmittag verringerte die Gefahr eines negativen Auffallens.
Durch einen eigenhändig getippten Schriftsatz des SS-Sturmbannführers Hermann Höfle erfuhr er 1942 von einer großen Deportation und beschloss eine Heirat, um durch diese amtliche Beglaubigung die Überlebenschancen seiner Lebensgefährtin zu erhöhen. Tatsächlich jedoch war die gesamte Deportation des Ghettos geplant. Im Herbst 1942 gelang ihm zusammen mit seiner Frau Teofila durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Im Frühjahr 1943 fanden die Flüchtlinge für siebzehn Monate einen Unterschlupf bei der Familie des arbeitslosen Setzers Bolek Gawin, wo sie noch bis Ende 1944 nach dem polnischem Aufstand ausharren mussten. Nur durch seine dramatische Nacherzählung von bedeutenden Romanen der deutschen Literatur konnte er sich das unbeständige, stets gefährdete Mitleid seiner Helfer immer wieder aufs Neue versichern.

Nachkriegszeit

1994 wurde bekannt, dass er kurz nach Kriegsende für den kommunistischen Geheimdienst in Schlesien arbeitete, und danach als Einsatzleiter, im Range eines Hauptmanns, für den polnischen Auslandsnachrichtendienst als Leiter der gegen Großbritannien gerichteten Spionage. In dieser Eigenschaft wurde er 1948, unter der Legende eines Vize-Konsuls namens Marceli Ranicki, als Resident an die Polnische Botschaft in London entsandt, wo er zuständig für die Rückführung polnischer Emigranten war. Einige dieser Emigranten wurden später zum Tode verurteilt. (London war zu der Zeit Sitz der antikommunistischen polnischen Exilregierung.) Den Namen behielt er später bei. Er galt bei seinen Kollegen als Intellektueller, auch als arrogant und stieß auf entsprechend viele Vorbehalte. Schließlich hatte Reich-Ranicki in London eigenmächtig einem Verwandten ein Visum ausgestellt, ohne seine Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen. Ende 1949 wurde er nach Polen zurückberufen und Anfang 1950 aus dem Geheimdienst entlassen. Danach folgte der Ausschluß aus der Kommunistischen Partei Polens, seine späteren Anträge auf Wiedereintritt und Rehabilitation wurden abgelehnt. Er war zunächst als Journalist tätig, später wurde ihm in Polen Publikationsverbot auferlegt.

Bundesrepublik Deutschland

Während einer Studienfahrt reiste er 1958 von Polen nach Deutschland aus und ließ sich zusammen mit seiner Familie in Frankfurt am Main nieder. Mitglieder der Gruppe 47, Siegfried Lenz und Wolfgang Koeppen halfen ihm dabei, hier Fuß zu fassen. Von 1960 bis 1973 war er Literaturkritiker der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, er hate dort schon sehr früh das Recht auf die Auswahl seiner Bücher, die er besprechen wollte, doch wurde er andererseits niemals zur Teilnahme an den Redaktionskonferenzen eingeladen.

Durch die Bekanntschaft mit dem Hamburger NDR-Redakteur Joachim Fest erhielt 1973 er die Leitung des Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bis zur Beendigung des offiziellen Arbeitsverhältnisses 1988 hatte er die Freiheit, alle Autoren gleich welcher politischer Couleur als Autoren im Feuilleton der FAZ herausgeben zu dürfen. Dabei entwickelte er insbesondere ein Engagement für seine favorisierten Autoren, die er mit nie nachlassender Aufmerksamkeit bedachte. Literarische Verdienste erwarb er sich durch die Redaktion der von ihm begründeten Frankfurter Anthologie, in der bis heute bereits über 1.500 Gedichte deutschsprachiger Autorinnen und Autoren mit Interpretationen versammelt sind. Daneben hat er beständig über Jahrzehnte hinweg das Projekt einer Auslese der seiner Meinung nach besten Werke der deutschsprachigen Belletristik vorangetrieben.

In der Wochenzeitschrift Der Spiegel, 16. Juni 2001, Nr. 25, stellte Reich-Ranicki unter dem Titel Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke sein opus magnum zu diesem Lebensthema vor. Die Liste enthält Theaterstücke, Romane, Novellen und Erzählungen, das lyrische Werk einzelner Dichter, aber auch die Empfehlung, Manches nur im Auszug zu lesen.

Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte er 1977 den Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zum bedeutendsten deutschsprachigen Literatur-Wettbewerb und -Preis wurde.

Vom 25. März 1988 bis zum 14. Dezember 2001 leitete er die Sendung Das literarische Quartett im ZDF, mit der er einen hohen Bekanntheitsgrad bei breiteren Bevölkerungsschichten erlangte. In Fachkreisen war er auch vor dieser Sendung längst als „Literaturpapst“ bekannt.

1968 und 1969 lehrte er an amerikanischen Universitäten, 1971 bis 1975 hatte er eine Gastprofessur in Stockholm und Uppsala inne. Seit 1974 ist er Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 1990 erhielt Reich-Ranicki die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und 1991 die Heinrich-Hertz-Gastprofessur der Universität Karlsruhe.

Auf Antrag der „Freunde der Universität Tel Aviv“ in Deutschland aus dem Jahre 2006 entsteht an der Universität Tel Aviv der Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur: „in historischer Last ein markantes Zeichen für die wissenschaftlichen Beziehungen. Marcel Reich-Ranicki, der unter der Brutalität und Menschenverachtung der Nazis so unendlich viel erleiden musste, symbolisiert den geistigen Austausch von Wissenschaftlern“, Pressemitteilung der „Freunde der Universität Tel Aviv“ (Bbl.-Online, 1. Februar 2006).

Reich-Ranicki lebt heute mit seiner Frau in Frankfurt am Main. Sein Sohn Andrzej, heute: Andrew Alexander Ranicki (* 1948) ist Universitätsprofessor für Mathematik an der Universität Edinburgh. Der britische Maler Frank Auerbach ist sein Vetter.

Werke

  • Literarisches Leben in Deutschland. Kommentare u. Pamphlete. Piper 1965
  • Deutsche Literatur in Ost und West Piper 1966
  • Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. Piper 1967
  • Die Ungeliebten. Sieben Emigranten 1968
  • Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München. Piper Verlag. 1973.
  • Nachprüfung, Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern Piper Verlag 1977
  • (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Band 1–27, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978–2004.
  • Entgegnung, Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre DVA 1981
  • Thomas Mann und die Seinen, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1987, ISBN 3421063648
  • "Der doppelte Boden - Ein Gespräch mit Peter von Matt" Ammann-Verlag 1992 ISBN 3250101710
  • Lauter Verrisse, dtv, 1993, ISBN 3423115785
  • Die Anwälte der Literatur Deutsche Verlags-Anstalt 1994
  • Der Fall Heine Deutsche Verlags-Anstalt 1997
  • Mein Leben, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, ISBN 3423130563
  • Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002, ISBN 3421055149
  • "Goethe noch einmal - Reden und Anmerkungen" DVA 2002 ISBN 3421056900
  • Meine Bilder. Porträts und Aufsätze. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003, ISBN 3421056196
  • Unser Grass Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003, ISBN 3421057966
  • Vom Tag gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten. DTV, München 2003, ISBN 3423131454
  • Meine Geschichten. Von Johann Wolfgang von Goethe bis heute. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003, ISBN 3458171665
  • (Hrsg.) Der Kanon. Die deutsche Literatur Erzählungen 10 Bände und ein Begleitband. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003, ISBN 3458067604

Auszeichnungen und Ehrungen

Fernsehsendungen

Filmographie

  • Ich, Reich-Ranicki. Dokumentation, 105 Min., Buch und Regie: Lutz Hachmeister und Gert Scobel, Erstsendung: ZDF, 13. Oktober 2006 (Inhaltsangabe des ZDF), (Besprechung in Spiegel Online und FAZ)
  • Der Literaturpapst. Auseinandersetzungen mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Dokumentation, 100 Min., Buch und Regie: Martin Lüdke und Pawel Schnabel, Erstsendung: ARD, 28. April 1987

Literatur

  • Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. dtv, München 2004. ISBN 3-423-31072-3
  • Sabine Gebhardt-Herzberg: Das Lied ist geschrieben mit Blut und nicht mit Blei: Mordechaj Anielewicz und der Aufstand im Warschauer Ghetto; ISBN 3-00-013643-6; 250 S., Selbstverlag; [Bestellungen: s.gebhardt-herzberg ät gmx.net] enthält ein Kapitel über Reich-Ranickis Flucht aus dem Warschauer Ghetto und die Rolle des Judenrates, für den er tätig war
  • Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens, München, Blessing 2005, ISBN 3-89667-274-6
Artikel