Benutzer:Ot/Global
Über die Revolution ist ein Buch von Hannah Arendt (1906-1975). Das Buch entstand, wie auch die Vita Activa (1958), aus Vorlesungen, die Arendt 1959 an der Princeton University hielt. Veröffentlicht wurde es zuerst in Englisch unter dem Titel On Revolution (1963). Zwei Jahre später wurde es in deutscher Übersetzung, die Arendt selbst angefertigt hatte, zum Teil in München und Zürich, herausgegeben. Die Ausarbeitung des Buches überschnitt sich mit dem Eichmannprozess und der Ausarbeitung des Buches Eichmann in Jerusalem. Arendt plante auch ein „Politikbüchlein“. Die Ausarbeitung floss zum Teil in das Revolutionsbuch ein. Das „Politikbüchlein“ ist nie fertig geworden, aber Ursula Ludz hat Textfragmente im Buch Was ist Politik? postum herausgegeben.
Das Buch analysiert und interpretiert die Französische und Amerikanische Revolution, wobei auch andere Revolutionen angesprochen werden. Arendts Hauptanliegen ist es, „die wesentlichen Charaktere des revolutionären Geistes“ (S. 225) zu bestimmen. Diesen revolutionären Geist erkennt sie in der Möglichkeit etwas neu zu beginnen und im gemeinsamen Handeln von Menschen. „In der Sprache des 18. Jahrhunderts heiβen [die Prinzipien des revolutionären Geistes] öffentliche Freiheit, öffentliches Glück, öffentlicher Geist.“ (S. 284 und 286) In diesem Werk kritisiert Arendt auch die Gesellschaften, die aus den Revolutionen entstanden sind.
Das Buch ist Gertrud und Karl Jaspers mit folgendem Worten gewidmet: „in Verehrung – in Freundschaft – in Liebe“. Jaspers bewertet das Buch in einem Brief „als ein Buch, das an Tiefe politischer Gesinnung und Meisterschaft der Ausführungen neben, vielleicht über Deinem Buch über die totale Herrschaft steht.“ [1] Arendts Mann, Heinrich Blücher, dessen Einfluss [2] auf das Buch nicht hoch genug einzuschätzen ist, da er sich ja selbst den Soldatenräten in der Novemberrevolution 1918 anschloss, bewertet das Buch in einem Brief wie folgt: „Ich lese … Dein Revolutionsbuch noch mal. Es ist sozusagen noch besser geworden und wirklich, wie [Alfred] Kazin meint, Dein bestes Buch. Klar, wohl abgewogen und politisch urteilskräftig. Wenn es zur Wirkung kommt, wird es eine langwährende sein. Deine vorigen beiden Behandlungsweisen der Geschichte [im Totalitarismusbuch und Vita Activa] sind hier kräftig vereint.“ [3]
In der Einleitung weist Arendt darauf hin, was „das eigentliche Wesen von Politik [im Abendland] bestimmt hat … - die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art“. (S. 9) Das Ziel einer Revolution kann „nichts anderes sein als eben Freiheit.“ (S. 10)
Für Arendt sind Revolutionen eine Erfindung der Neuzeit. Kriege sind dagegen schon so alt wie die Menschheit. Arendt stellt die These auf, dass Kriege allmählich von der politischen Bildfläche verschwinden werden, während Revolutionen weiter das politische Geschehen beeinflussen werden. Gewalt ist nach Arendt zwar der gemeinsame Nenner von Krieg und Revolution, aber „Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Bereichs schützen.“ (S. 20)
Die Anfangsproblematik, nämlich wie man den scheinbar ewigen Kreislauf der menschlichen Geschichte unterbrechen kann, taucht in Arendts Werken immer wieder auf. Eine Revolution stellt einen Anfang, einen Neubeginn dar. Um diesen Neubeginn kreisen Arendts Gedanken. Wie ist er möglich? Wieso geschieht er? Warum hatte niemand vorher etwas davon gewusst? Wie ist er gewaltlos zu gestalten?
1
Arendt betont im ersten Kapitel („Der geschichtliche Hintergrund“) den großen Einfluss der amerikanischen Gesellschaft vor der Amerikanischen Revolution auf die europäischen Völker. Hier gab es schon einen »verblüffenden Wohlstand« (Redslob). Allein diese Tatsache brach den ewigen Kreislauf der menschlichen Geschichte auf. Vorher galt es als natürlich, dass es Arme und Reiche gab. In Amerika gab es keine Armut, wie es sie noch in Europa gab, und dies sprach sich in Europa rum. Hingegen ist die eigentliche Amerikanische Revolution für die weiteren europäischen Revolutionen folgenlos geblieben. Ein weiterer wichtiger Grund, warum die Revolutionen in der Neuzeit ausbrachen, sei die Säkularisierung.
Nach Arendt kann man von einer Revolution sprechen, wenn es den Handelnden um die Freiheit geht und ein neuer Anfang gemacht wird. Unter Freiheit versteht Arendt nicht Befreiung von Not, Elend oder Furcht. Dies Befreiung ist eher negativer Art und in fast jeder Staatsform möglich. Positiv verstanden ist sie die Möglichkeit frei zu handeln. Und diese Erfahrung machten die „Männer der Revolution“ – eine Formulierung die Arendt häufig benutzt. Es sei der „revolutionäre Geist“, der hier das erste Mal in unserer Zeitrechnung auftauchte, „nämlich das Verlangen, zu befreien und der Freiheit selbst eine neue Stätte zu gründen“. (S. 42)
Vor der Neuzeit gab es den heutigen Begriff der Revolution nicht. Es gab aber natürlich Wörter für Aufstände und Rebellionen. Nach Arendt wurde das Wort Revolution zuerst von Kopernikus in der Astronomie benutzt. Aber noch nicht in unseren Sinne, sondern es „bezeichnete eine gesetzmäßig und kreisförmig verlaufende »revolvierende« Bewegung der himmlischen Körper“. (S. 50) Das Wort wurde im politischen Sinn das erste Mal im Jahr 1660 benutzt, als der Sohn von Oliver Cromwell vertrieben wurde und Karl II. wieder die Zustände vor der eigentlichen Revolution von Cromwell – der Einführung einer Republik – wieder herstellt. Dies war eigentlich eine Restauration in unserem Sinne – genauso wie die Glorreiche Revolution. Arendt betont, dass die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts „ursprünglich als Restaurationen gemeint und geplant“ (S. 52) waren. Die Herrschaft des Absolutismus sollte rückgängig gemacht werden und die früheren Zustände wieder hergestellt werden. Es ist festzuhalten, dass die Männer, die die Revolution begannen, eigentlich eine Restauration wollten. Diese Restauration wurde im Handeln der gleichen Männer ein Neuanfang – eine Revolution in unserem Sinne. Dies hatte keiner der Männer vorhergesehen oder gewollt.
Dem Wort Revolution hafte seit dem 14. Juli 1789, dem Sturm auf die Bastille, etwas Unwiderstehliches an. Wenn erst einmal das alte Regime zusammengebrochen ist und „die Macht auf der Straße liegt“ (S. 59) sind Revolutionen nicht mehr aufzuhalten. Interessant für Arendt ist, dass diese Vorstellung für die weitere Geschichte der Menschheit Bedeutung erlangt, während die erfolgreichere Amerikanische Revolution folgenlos für das historische Bewusstsein blieb.
Aus der Amerikanische Revolution haben die folgenden Generationen nichts gelernt, aber die Französische Revolution dient als eine Schablone für die folgenden Revolutionen. Es wiederholte sich immer wieder das, was Pierre Vergniaud gesagt hat: »die Revolution frißt wie Saturn ihre eigenen Kinder« (S. 60) Für die Zuschauer der Französischen Revolution außerhalb Frankreichs sah es so aus, als ob die Revolutionäre nicht die Richtung der Revolution bestimmen konnten und die Revolution mit dem ursprünglichen Ziel nichts mehr gemein hatte. Ein Handeln der Revolutionäre war anscheinend nicht mehr möglich. In Amerika waren die Revolutionäre dagegen überzeugt davon, den revolutionären Prozess selbst zu steuern.
In diesem Zusammenhang kritisiert Arendt Hegel. Für Arendt ist „die schwerstwiegende Folge der Französischen Revolution die Geburt des modernen Geschichtsbegriffs in der Hegelschen Philosophie.“ (S. 63) Es war nicht mehr Politik, ein Handeln in Freiheit, sondern historische Notwendigkeit bzw. die Macht der Geschichte, die die Menschen bzw. die Menschheit vorantrieb. Aus der Französischen Revolution – Revolution und Gegenrevolution – hat Hegel, nach Arendt, geschlossen, dass die Geschichte dialektisch verlaufe. Daraus ergab sich für Hegel „dann die berühmte Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit …, in welcher diese beiden entgegengesetzten Begriffe schließlich zusammenfallen und ein und dasselbe besagen – was vielleicht das furchtbarste und menschlich gesprochen unerträgliche Paradox des gesamten modernen Denkens geworden ist.“ (S. 66)
Die Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts imitierten das Schauspiel der Französischen Revolution. So zum Beispiel in der Oktoberrevolution Russlands. Die Berufsrevolutionäre studierten Karl Marx, nach Arendt „der größte Schüler, den Hegel je gehabt hat“ (S. 9), und „der größte Theoretiker der Revolutionen überhaupt“ (S. 76), und übernahmen damit die verhängnisvolle Hegelsche Dialektik.
2
Das zweite Kapitel des Buches ist mit „Die sozial Frage“ betitelt. Die Männer der Revolution wollten eigentlich eine Restauration, dann wurde die Freiheit das Ziel der Revolution. Das Ziel der Freiheit wurde von König Ludwig XVI. und den europäischen Mächten bedroht, so dass die Sansculotten den Revolutionären zu Hilfe kamen. Mit den Sansculotten erschienen die Armut und das Elend der Massen auf dem Schauplatz der Politik. Damit wurde die Freiheit der Notwendigkeit geopfert, denn Maximilien de Robespierre wollte den Sansculotten natürlich helfen. „Die Verwandlung der Menschenrechte in die Rechte der Sansculotten ist der Wendepunkt der Französischen und aller ihr folgenden Revolutionen.“ (S. 75)
Nach Arendt war „nichts wirksamer und auch origineller, als daß er [Marx] die dringende Not der Massenarmut politisch auslegte … und [er lernte] daß Armut ein politischer Faktor allerersten Ranges sein kann.“ (S.77) Daraus leite Marx dann den Begriff der Ausbeutung ab, die zu bekämpfen sei. Damit erhob Marx die Bekämpfung der Massenarmut und damit die Produktion von Gütern zum obersten revolutionären Ziel und nicht mehr die Freiheit – die Befreiung der Menschen von Zwangsherrschaft.
Die Lösung für das Problem findet Arendt in Lenins berühmter Formulierung, in der er das Ziel der Oktoberrevolution beschreibt: »Elektrifizierung und Sowjets«. Die Befreiung von Armut und Elend erkennt Arendt in der »Elektrifizierung«. Lenin meint nach Arendt also, dass Armut und Elend technisch gelöst werden können. In den »Sowjets« sieht Arendt die Lösung für die Freiheit – das Rätesystem. Trotzdem hat Lenin dies nicht umgesetzt, sondern alle Macht nicht den Räten, sondern der Partei gegeben.
Die Ideen der Französische Revolution wurden nach Arendt von den Massen erdrückt. In Amerika gab es zwar Armut, aber keine Not und kein Elend wie in Europa. Thomas Jefferson prägte den Begriff der »lovely equality«, die in Amerika herrschen würde. Arendt weist aber auf „das furchtbare erniedrigende Elend der schwarzen Sklaven“ (S. 89) hin, die aber nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Für Arendt ist die „Leidenschaft des Mitleidens“ „die vielleicht gefährlichste aller revolutionären Leidenschaften“ (S. 91), die die europäischen Revolutionäre überfiel und die es bei der Amerikanischen Revolution nicht gab bzw. keine Rolle spielte.
Nach Arendt wurde das Mitleiden der Revolutionäre am Elend des französischen Volkes zur Tugend schlechthin von Robespierre erklärt. Das Volk und nicht die Revolution stand jetzt an erster Stelle. Der Volkswille wurde die entscheidende Macht. Hierbei kam Robespierre die Theorie von Jean-Jacques Rousseau über den „Allgemeinen Willen“ zu gute. Der „Allgemeine Wille“ eines Volkes bilde sich nach Rousseau, wenn „stillschweigend die Existenz eines äußeren Feindes“ (S. 98) vorausgesetzt wird. Dies eint das Volk bzw. die Nation. Rousseau ging aber noch weiter und vermutete, „daß der allen gemeinsame Feind im Innersten jeden Bürgers existiere“ (S. 98) Damit entsteht im Innersten eines jeden Menschen selbst ein Zweikampf. Der tugendhafteste Mensch ist nach Robespierre derjenige, der gegen seine eigenen Interessen handelt. Damit nehmen „die Terrortheorien von Robespierre bis Lenin und Stalin … alle als selbstverständlich an, daß das Gesamtinteresse automatisch und ständig in Feindschaft liege mit dem Eigeninteresse jedes einzelnen Bürgers.“ (S. 100)
Das leidenschaftliche Mitleiden verhindere vernünftiges Handeln, weil die Menschen dann nicht mehr denken, sondern nur noch tugendhaft handeln. Dieses „absolut Gute im Zusammenleben der Menschen [erweist] sich als kaum weniger gefährlich als das absolut Böse“. (S. 104) In diesem Zusammenhang weist Arendt auf die Erzählungen vom Der Großinquisitor in dem Roman Die Brüder Karamasov von Fjodor Dostojewski und Billy Budd von Herman Melville hin. Melville schreibt im Vorwort zu Billy Budd: „Wie war es möglich, dass gleich nach »Abstellung uralten Unrechts in der Alten Welt … die [Französische] Revolution größeres Unrecht und schlimmere Unterdrückung beging als die Könige«?“ (S. 111) Sein Roman ist die Umkehrung der Geschichte aus dem Alten Testament, in der Kain Abel erschlug. Arendt betont, dass das absolut Gute sprachlos sei und sich nicht mit Argumenten der Vernunft wehren könne. Deshalb schlägt das absolut Gute in Gewalt um, deswegen erschlägt Billy Budd seinen Peiniger.
Arendt stellt dem leidenschaftlichen Mitleiden die Solidarität gegenüber. Solidarität ist auf Vernunft gegründet und kann das Handeln des Menschen lenken. Vernunft erscheint Rousseau zwar herzlos, aber „wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet hat, haben sich Grausamkeiten ergeben.“ (S. 114) Wenn in einer Menschenmasse erst einmal Gefühle und Emotionen durch leidenschaftliches Mitleiden erzeugt werden, wird die Masse alles tun – alles ist dann erlaubt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass wer in der Öffentlichkeit tugendhaft erscheinen will, seine Gefühle und Gedanken in die Öffentlichkeit trägt. Dies ist nach Arendt verhängnisvoll, da diese gerade nicht in die Öffentlichkeit gehören. Sondern „die Eigenschaften des Herzens bedürfen … des Schutzes gegen das Licht der Öffentlichkeit.“ (S. 122) Sind sie erst mal öffentlich, so werden sie sofort misstrauisch betrachtet, sowohl von anderen als auch von einem selbst. Dies führe dazu, dass überall Verrat und Heuchelei vermutet wird. Alle sind irgendwie verdächtig. Dies verstärkte noch den Terror gegen jeden in der Terrorherrschaft Robespierres.
Die Öffentlichkeit, besser die herrschende öffentliche Meinung, kann zu einer Form der Tyrannei führen. Eine Meinung kann sich im einzelnen Menschen bilden, aber es gibt keine allgemeine Meinung eines Volkes. Dieser Ansicht waren die amerikanischen Revolutionäre. Notwendig ist aber ein Meinungsaustausch der Menschen innerhalb eines Volkes. Das Problem ist aber, wie man diesen Meinungsaustausch vernünftig institutionalisiert.
Die russische Revolution, wie auch alle anderen nachfolgenden Revolutionen, wiederholten das Schauspiel der Französischen Revolution, aber der Terror wurde in Russland permanent und bewusst eingesetzt im Herrschaftsapparat. Heuchler gab es anscheinend überall und wer unbeugsam war, wurde zum „»subjektiv« unschuldigen »objektiven Feind«.“ (S. 127)
In diesem Zusammenhang geht Arendt auf den Unterschied zwischen Heuchler und Lügner ein bzw. zuerst auf das Verhältnis von Sein und Erscheinung. Nach Sokrates gab es hier keine Unterschiede, aber Niccolò Machiavelli vermutete hinter jeder Erscheinung noch ein transzendentes Seiendes. Sokrates lehrte: »Sei, wie du anderen erscheinen möchtest«. Machiavelli lehrte: »Erscheine, wie du sein möchtest«. Nach Machiavelli ist es also für die anderen Menschen unerheblich, wie du in Wahrheit bis. Robespierre war aber „auf der modernen Jagd nach der Wahrheit“ (S. 127), die aber nach Arendt hoffnungslos und verderblich ist.
Ein sokratischer Lügner bzw. Täter kann seine Taten vor der Öffentlichkeit verbergen, aber nicht vor sich selbst, wenn er in einen Dialog mit sich eintritt, den Arendt Denken nennt. Später wurde dies Gewissen genannt, aber dieses funktioniere nicht, „wenn Menschen sich weigern zu denken bzw. sich weigern, mit sich selbst zu sprechen und Umgang zu pflegen.“ (S. 131)
Da Machiavelli vom christlichen Glauben beeinflusst war, ist seine Lösung, dass der Täter seine Taten vor der Öffentlichkeit verbergen kann, dass er aber letztlich vor Gott treten muss. Letztlich zählen seine Taten nur vor Gott. Interessanterweise kommt Machiavelli nach Arendt so zu dem Ergebnis, „daß die Welt besser wird, wenn das Laster nicht in Erscheinung tritt.“ (S. 100) Aber der einzelne Mensch wird dadurch nicht besser.
Der Unterschied zwischen Lügner und Heuchler ist nun der, dass der Heuchler nicht denkt, sondern in sich verlogen ist, er sich seiner Lügen nicht bewusst ist. Wenn der Heuchler in die Politik geht, kann er jede Rolle spielen und so betrügen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, was ihn so gefährlich macht. Für Robespierre waren die absoluten Monarchen und der Hofadel die Heuchler. Sie wurden durch die Gesellschaft verdorben. Das einfache Volk war unverdorben und gut.
Im letzten Abschnitt des 2. Kapitels geht Arendt wieder auf die soziale Frage ein. Das Elend der Massen erdrückte die Französische Revolution. Es scheint so, als wären die Massen in einem Urzustand bzw. einem Naturzustand, als sie die Freiheit erlangt hatten. Da aber die Nationalversammlung den Massen genauso heuchlerisch vorkam wie ihnen Louis XVI. vorgekommen war, vertrauten sie dieser Institution nicht mehr.
Hinzu kam, dass die Tugend ohnmächtig wird und in unglaubliche Gewalt umschlägt wenn die soziale Lage unerträglich ist. Arendt zieht daraus einerseits die Konsequenz, dass „jeder Versuch die soziale Frage mit politischen Mitteln zu lösen im Terror endet und daß nichts eine Revolution mit größerer Sicherheit zugrunde richtet als die Herrschaft des Schreckens, so ist doch andererseits zuzugeben, daß es sehr schwer ist, diesen verhängnisvollen Irrweg zu vermeiden, wenn die Revolution in einem Lande ausbricht, das unter dem Fluch der Armut steht.“ (S. 143) Die soziale Frage muss vorher mit Hilfe der Technik oder Naturwissenschaften gelöst werden, bevor ein Reich der Freiheit errichtet werden kann. Während der Amerikanischen Revolution spielte die soziale Frage keine Rolle – unter anderem, weil die Sklaven unsichtbar, im Reich der Finsternis, waren.
3
Am Anfang des dritten Kapitels – „Der »Verfolg des Glücks«“ sagt Arendt, dass keine Revolution „von den Massen der Armen selbst spontan in die Wege geleitet wurde“. Revolutionen sind unmöglich in Staaten, in denen die Autorität des Staates noch relativ gut funktioniert. Sie sind „überhaupt nur möglich, wo die Macht auf der Straße liegt“. Revolutionen sind Folgen des Autoritätsverlusts des Staates, „sie sind niemals dessen Ursache.“ (S. 148)
Voraussetzung für eine erfolgreiche Revolution sind neben dem Beginn des Zusammenbruchs des bestehenden Staatssystems, einige (>zehn) Menschen, die darauf vorbereitet sind, die Macht, die auf der Straße liegt, zu ergreifen.
Revolutionen brechen für die vorbereiteten Revolutionäre immer überraschend aus. Der Zeitpunkt ist zwar unbekannt, aber bekannt ist der bevorstehende Untergang des Staatssystems. So ahnte Charles-Louis de Montesquieu 40 Jahre vor der Revolution „den kommenden »Untergang des Abendlandes«“. (S. 149) Auch David Hume und Edmund Burke sahen dies für England, aber „nur der Zufall“ (ebd.) verhinderte dies. Was sie bemerkten war, der „Zusammenbruch der uralten römischen Dreieinigkeit von Religion, Autorität und Tradition“. (S. 150)
Die Vorbereitung der Revolutionäre in Amerika und Frankreich bestand im Studium der Antike und vor allem der römischen Republik. John Adams, der zweite Präsident der USA, hat „Verfassungen gesammelt wie andere Leute Briefmarken.“ (S. 155) Aber die Revolutionäre glaubten nicht tatsächlich an eine Revolution, sondern „sie waren leidenschaftlich an öffentlicher Freiheit interessiert.“ (S. 151) Der entscheidende Unterschied ist, dass die Franzosen keine Erfahrung auf dem Gebiet der Freiheit hatten, während die Amerikaner sich praktisch selbst verwalteten. So behauptet John Adams, dass »die Revolution vollzogen war, bevor der Unabhängigkeitskrieg begonnen hatte«. (ebd.) Grund sind die townhalls, in denen sich das Volk selbst in den Städten und Gemeinden verwaltete und sich somit auch selbst Regeln gab. Das bekannteste Regelwerk ist der Mayflower-Vertrag.
In den townhalls lernten die Amerikaner ihre Freiheit zu gebrauchen. Es war für die Amerikaner keine Last, Pflicht oder Bürde dort ein öffentliches Amt zu übernehmen, sondern einen Freude. Adams bemerkt, dass »die Leidenschaft sich auszuzeichnen … wesentlicher und bemerkenswerter« ist „als alle anderen menschlichen Antriebe und Fertigkeiten.“ (S. 152) Adams Hinweis auf Englisch: »a desire to be seen, heard, talked of, approved and respected by the people about him, and within his knowledge.« (ebd.)
In Frankreich herrschte der König absolut. Der Ballhausschwur war der erste Versuch, in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Aber dort waren nur die Vertreter der dritten Stände versammelt, die nicht das Volk repräsentierten. Die Verankerung der „hommes de lettres“, der gebildeten Klasse in Frankreich, war im französischen Volk, im Unterschied zu Amerika, nicht gegeben. Auch fehlten in Frankreich solche Institutionen wie die townhalls. Es gab also in Frankreich gar keine richtige Möglichkeit, eine Verfassung mit dem gesamten Volk oder deren Repräsentanten zu diskutieren.
In Amerika ist die Verfassung gelungen, aber es ist nicht gelungen „den Geist und die Prinzipien des Gründungsaktes in dauernde Institutionen festzuhalten.“ (S. 162) Vor allem das Streben nach öffentlichem Glück - »pursuit of happiness (Jefferson)« - verschwand. Gemeint ist damit die Erfahrung des revolutionären Geistes in Freiheit zu handeln und sich in der Öffentlichkeit auszuzeichnen - »die Leidenschaft sich auszuzeichnen« (Adams). Die Privatinteressen setzten sich an diese Stelle. Glücklich sein wurde nicht mehr im öffentlichen Glück gesucht, sondern in den Privatinteressen, „in dem Recht auf rücksichtslose Verfolgung des Eigennutzes.“ (S. 174)
Arendt spricht den Amerikanern nicht ihre Leistung ab, Armut und Elend verringert zu haben, aber „es wäre durchaus möglich, daß die Republik an dem Reichtum und der Konsumbesessenheit ihrer Gesellschaft zugrunde geht“. (S. 178)
4
Im vierten Kapitel – „Die Gründung: Constitutio Liberatis“ – geht Arendt auf die Staatsgründung der Vereinigten Staaten ein. Besonders wichtig ist für Arendt der Gründungsakt selbst. Eine Verfassung, die von Verfassungsexperten ausgearbeitet wird, und dann dem Volk vorgesetzt wird konstituiert keinen stabilen Staat. Solche Verfassungen, ein Beispiel ist sicherlich die Weimarer Verfassung, werden von der Bevölkerung misstrauisch betrachtet. Sie haben keine Autorität und sind so nicht im Volk verwurzelt.
Das amerikanische Volk befreite sich im Unabhängigkeitskrieg von England und parallel dazu gründeten sie eine Republik. Ohne diese Neugründung wäre es nur eine Rebellion und keine Revolution gewesen. Eine Rebellion ohne eine Neugründung würde im Chaos enden. John Adams weist darauf hin, dass »ohne eine Verfassung weder Moral noch Reichtum, noch die Disziplin der Armee, noch sie alle zusammen auch nur das Geringste ausrichten können«. (S. 185)
Die amerikanischen Revolutionäre lehnten sich an Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung an, die bis zu Aristoteles bzw. Polybius zurückverfolgt werden könne. Es ging den Gründervätern darum, Macht zu etablieren, da sich der lose Staatenbund der Konföderation als ungeeignet erwiesen hatte.
John Adams, der „am tiefsten von Montesquieu beeinflusst“ (S. 149) war, stellt sich die Frage, „wie man Macht gegen Macht ausbalancieren könne“. (ebd.) Wie kann die Macht der damals 13 Einzelstaaten nicht zur Ohmacht des gesamten Systems bzw. andersherum zur Ohnmacht eines Einzelstaates werden? Wie können sich Legislative, Exekutive und Judikative nicht nur gegenseitig kontrollieren, sondern insgesamt auch noch mehr Macht erzeugen? Die Lösung ist, dass die „Teilung der Macht ein Gemeinwesen mächtiger macht als ihre Zentralisierung“. (S. 198) Arendt macht weiter darauf aufmerksam, dass auf James Madisons Argumente hin das System der „checks and balances“ eingeführt wurde. Dieses neue System „war im Unterschied zu den Bill of Rights, von keiner Tradition vorgezeichnet, sondern ausschließlich aus dem Geist der Revolution entstanden.“ (S. 201) Hier vollendet sich das Ziel der Revolution, die Gründung der Freiheit.
Nach Arendt suchten die Männer der Französischen Revolution nach einem Ursprung für die Quelle aller Macht. Im Absolutismus war der König göttlichen Ursprungs in dem der Gesetzgeber und die Macht zusammen fiel. Die französischen Revolutionäre stellten das französische Volk an die Stelle des Königs, es war „die Quelle aller legitimer Macht“ und „der Wille des Volkes bildetet den Ursprung der Gesetze.“ (S. 204) Den amerikanischen Revolutionären stellte sich dasselbe Problem, aber niemand „kam auf die Idee, Gesetz und Macht aus der gleichen Quelle abzuleiten. Der Ort der Macht wurde ins Volk verlegt, aber die Quelle aller Gesetze sollte die Verfassung werden.“ (ebd.)
Durch den Gründungsakt wurde die amerikanische Verfassung für das Volk „ein objektiver Bestandteil der Welt, der dem subjektiven Belieben ihrer Bewohner entzogen war.“ (S. 204) Die französischen Verfassungen wurden von dem Volkswillen häufig geändert und gaben somit keine Stabilität. „Ein Gebilde, das man auf dem Nationalwillen errichtet, [ist] auf Sand gebaut.“ (S. 212) Das dann aus so einem Nationalstaat leicht einen Diktatur entstehen kann, ist besonders in Krisenzeiten immer wieder bestätigt worden.
Arendt betont im letzten Abschnitt des 4. Kapitels die günstigen Umstände der amerikanischen Revolution. Sie hatten schon vor der Revolution über 150 Jahre Zeit, sich in der Selbstverwaltung zu üben. So betont Alexis de Tocqueville, dass »die Amerikanische Revolution mit ihrer Lehre von der Volkssouveränität in den townships aus-[brach] …und von dorther den Staat in Besitz [nahm]«. (S. 215) Das Volk war also „nichts Absolutes … sondern eine gegenwärtige Realität.“ (ebd.)
Das große Beispiel, das sich danach auch herumsprach, war der Mayflower-Pakt. Hier gaben sich die Pilgrimväter noch an Bord des Schiffes einen Vertrag, der auf gegenseitigen Versprechen und Vertrauen beruhte. Diese Erfahrungen waren nach Arendt wesentlicher als alle Theorien von Montesquieu, Rousseau und anderen, denn »Vernunft kann in die Irre leiten« (John Dickinson, S. 219). So knüpft auch John Locke in seinen Vertragstheorien (Gesellschaftsvertrag) daran an, ohne direkt darauf hinzuweisen, wie Arendt behauptet.
Arendt unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Verträge. Einerseits den Vertrag zwischen Menschen, der auf dem Vertragsakt und dem ihm zugrunde liegenden Versprechen beruht. Andererseits gibt es den „Gesellschaftsvertrag zwischen einer bereits existierenden Gesellschaft und einem außer ihr stehenden Herrscher“. (S. 221) Im ersten Fall verliert das einzelne Individuum zwar Macht, gewinnt sie aber durch den Akt des Versprechens wieder zurück. Außerdem wird die Isolierung der Individuen voneinander dadurch verringert. Im zweiten Fall entsteht durch die Zustimmung der Bürger ein Rechtsstaat, der aber gerade die Isolierung der Individuen schütz und insgesamt weniger Macht hat.
Für Arendt ist diese praktische Erfahrung der amerikanischen Siedler „die elementare Grammatik allen politischen Handelns … nach deren Regeln menschliche Macht sich entwickelt oder zugrunde geht.“ (S. 224)
In der Französischen Revolution hatte die Nationalversammlung, im Gegensatz zur Amerikanischen Revolution, kein wirkliches Mandat von der Bevölkerung. Die französischen Revolutionäre gingen vom guten Menschen aus, während die amerikanischen Revolutionäre pessimistischer waren. Sie machten die Erfahrung, „daß das wechselseitige Band von Versprechungen, Verträgen und Bündnissen stark genug ist, um das naturhaft Böse in den einzelnen Individuen unter Kontrolle zu halten.“ „Der Mensch ist schlecht, das war eigentlich ihre Meinung, und nur wenn er sich mit seinesgleichen zusammenschließt, kann aus ihm noch was Ordentliches werden.“ (S. 226)
5
Das fünfte Kapitel hat den Titel „Novous Ordo Saeclorum“, was Arendt mit absoluter Neuanfang oder Neugründung übersetzt. Am Anfang definiert sie Autorität, Macht und Gewalt. Autorität beruht auf dem Gehorsam eines Menschen gegenüber einem Befehlenden, der seine Autorität durch überlegenes Wissen oder ähnlichem erlangt. Macht beruht darauf, dass „die Glieder eines Machtverbandes sich auf etwas geeinigt haben und nun einmütig handeln“. (S. 232) Gewalt bewirkt, dass jemand einem anderen gehorcht, weil dieser Gewaltmittel – z.B. eine Pistole – hat.
Die französischen Revolutionäre unterschieden nicht zwischen Macht und Gewalt. Der absolute König in Frankreich hatte Gewalt aber keine Macht über die Bevölkerung und „diese Gewalt sollte nun durch die Revolution auf das Volk übertragen werden.“ (S. 233) Dies stellt dann den Allgemeinwillen dar. Die amerikanischen Revolutionäre unterschieden dagegen „zwischen dem Ursprung der Macht, der »unten« im Volk lag, und der Quelle des Gesetzes, die gleichsam von »oben«, in einer wie auch immer transzendenten Region angesetzt war“. (S. 237)
Hier erscheint ein Absolutheitsproblem bei beiden Revolutionen. Die Frage stellt sich, wie man einen Anfang machen kann „dessen Autorität nicht angezweifelt werden kann“. (S. 237) Die französischen Revolutionäre vergöttlichen das Volk im Allgemeinwillen. Die amerikanischen suchten nach einem »unsterblichen Gesetzgeber«. (ebd.) Die Revolutionäre kamen, trotzdem sie sich als aufgeklärte Menschen (Deisten) bezeichneten, immer wieder zu Lösungen die auf Religion beruhten. Einzige Ausnahme bei den politischen Theoretikern war nach Arendt Montesquieu.
Dies Problem kann man aus heutiger Perspektive besser verstehen, weil es nach Arendt ein historisches und kein sachliches Problem darstellt. Gerade die römische Republik kannte das Absolutheitsproblem nicht. Die Gesetze waren für die Römer nicht göttlichen Ursprungs, sondern regelten die Verhältnisse zwischen den Menschen oder den neuen Bundesgenossen. Nachdem das römische Reich zusammenbrach, übernahm die Kirche auch den politischen Raum und somit wurden „die weltlichen Gesetze also lediglich als der nur-weltliche Ausdruck göttlich-offenbarter Gebote“ (S. 244) wahrgenommen. Diese Gebote hatten Befehlscharakter und verlangten blinden Gehorsam. Jefferson beruft sich, trotz aller Aufgeklärtheit, auf »den Gott der Natur« (S. 245) – das Naturrecht kann nur verpflichtend sein, „wenn es selbst noch mal göttlich sanktioniert ist.“ (ebd.)
Arendt behauptet abschließend, dass durch „solche Verabsolutierung wieder eine Art despotische Gewalt in den politischen Raum eingeführt wurde“ (S. 248), die amerikanischen Revolutionäre aus politischer Einsicht heraus damit aber leben konnten.
Arendt betont im Weiteren den Gründungsakt der Amerikanischen Revolution. Er begann mit einem revolutionären Neuanfang der ersten Siedler, der aber noch keine Revolution war.
Arendt hebt den Einfluss der römischen Republik auf die Amerikanische Revolution hervor, da es eindeutige Parallelen gibt. Für die Römer war die Gründung der ewigen Stadt (Rom) der Neuanfang. Autorität, Tradition und Religion entsprangen alle aus der gleichen Quelle, „der Gründung der Stadt, das war und blieb von Anfang bis Ende Rückhalt römischer Geschichte.“ (S. 259)
In der Theorie versuchten die amerikanischen Revolutionäre der Anfangsproblematik mit der oben geschilderten Absolutheitslösung Herr zu werden. In der Praxis aber war das römische Vorbild ausschlaggebend.
John Q. Adams beschreibt wie die amerikanische Verfassung »unter dem Druck bitterster Notwendigkeit einer höchst widerwilligen Nation hat abgezwungen« (S. 255) werden können. Nachdem dies aber geschehen war, wurde diese Verfassung fast religiös verehrt. Die Stabilität der amerikanischen Republik verdankt sie „der Autorität, die der Gründungsakt und das Einen-neuen-Anfang-Setzen in sich tragen.“ (S. 256)
Die Autorität im amerikanischen Staatsapparat verlegten die Revolutionäre „von dem (römischen) Senat auf den Obersten Gerichtshof.“ (S. 257) Dies ist für Arendt die bedeutendste Veränderung. Der Oberste Gerichtshof verfügt zwar nur über „Urteilskraft“, aber im amerikanischen System der Checks and Balances ist er die entscheidende Institution.
Die Römer bevorzugten nach Arendt Aeneas als Ahnherren und nicht Romolus der Remus erschlug. Vergils Geschichte von Aeneas ist nach Arendt eine Umkehrung der homerischen Kriegs – und Siegesordnung und damit „einer radikalen Umwertung griechisch homerischer Tugenden.“ (S. 269) Am Ende eines Krieges kannten die Griechen nichts anderes als den Sieg für den einen und den Tod oder die Schande der Knechtschaft für die anderen.“ (ebd.) Anders die Römer, die die Besiegten zu Bundesgenossen durch Gesetze machten. Die Anfangsproblematik stellt sich den Römern nicht, da die Gründung Roms kein absoluter Neuanfang ist, sondern die Wiedergeburt Trojas.
Arendt wendet sich ausdrücklich gegen die „klassischen Ursprungslegenden“ nach denen Gewalt und das Verbrechen am Anfang menschlicher Geschichte stehe. Die Gründung Roms und auch die Amerikanische Revolution sind Beispiele eines Neuanfangs ohne Gewalt. Denn „diese Revolution ist bewusst und in gemeinsamer Beratung entfacht und auf der Grundlage wechselseitiger Verpflichtungen und Versprechen zu einem guten Ende geführt worden.“ (S. 275)
Arendts politische Philosophie beruht auf dem Gedanken der »Gebürtlichkeit«. Für sie ist jeder Mensch eine neue Hoffnung, weil er einen Neuanfang darstellt. Die Lösung für die logisch unlösbare Aufgabe einen neuen Anfang zu machen, sieht Arendt im Menschen selbst, der „gleichsam existentiell vorbestimmt ist, insofern er ja selbst einen Anfang darstellt“. (S. 272) Für Arendt stellt die Amerikanische Revolution ein Beispiel dafür dar, „daß der Mensch in der Tat dies vermag – einen Anfang machen, novus ordo saeclorum.“ (S. 276)
6
Im sechsten Kapitel mit dem Titel „Tradition und Geist der Revolution“ wendet Arendt sich der Frage zu, was die Folgen sind, „die Unkenntnis und [das] Versagen der Amerikanischen Revolution gezeitigt haben … [und Arendt versucht] die geschichtlichen Ursachen zu bestimmen“. (S. 282)
Da über die Amerikanische Revolution wenig nachgedacht wurde, gab es kein Andenken an diese, da das Andenken „nicht durch den Prozeß begrifflicher Klärung und Verdichtung gegangen ist, auf Grund deren es weiterwirken und sich entfalten kann.“ (S. 283)
Das Scheitern der Französischen Revolution wurde ausführlichst analysiert, aber die Amerikanische Revolution geriet in Vergessenheit und das weitere Bestehen der amerikanischen Republik rief wenig Anteilnahme hervor. So ist „die Tradition der Französischen Revolution … die einzige revolutionäre Tradition, die es überhaupt gibt.“ (S. 284) Eine Folge dieses Vergessens sei, dass die eigene revolutionäre Tradition in der US-Außenpolitik keine Rolle spielt. So wurden korrupte Regierungen (…) unterstützt und es herrschte paradoxerweise eine „verbreitete Revolutionsangst“. (S. 279) Eine weitere Folge sei die mangelnde Urteilskraft der Vereinigten Staaten im Umgang mit den revolutionären Regierungen Russlands, China und Kubas.
Die geschichtlichen Ursachen für den Verlust des revolutionären Geistes sieht Arendt in dem Bemühen der Revolutionäre, nicht nur etwas Neues zu gründen, sondern auch diesem Neuen Stabilität und Dauerhaftigkeit zu sichern. Das widerspricht sich, denn eigentlich müsste der Gründungsakt von jeder Generation wiederholt werden, was aber dann die Stabilität gefährde.
Die amerikanischen Revolutionäre waren durch das Studium der Demokratie in der griechischen Antike zum Ergebnis gekommen, dass die Demokratie absolut instabil ist. Kritikpunkte waren im Einzelnen „der Wankelmut der Bürger, der Mangel an Sinn für die öffentlichen Angelegenheiten [und] die Neigung, von Stimmungen und Emotionen hin und hergerissen zu werden“. (S. 289)
Um diese Gefahren zu kontrollieren, schufen die amerikanischen Revolutionäre den [[Senat (Vereinigte Staaten]|Senat]], um mit ihm die öffentliche Meinungsrepräsentation zu institutionalisieren, und die Institution des Kongresses, um die unterschiedlichen Interessen zu repräsentieren. Was den Revolutionären aber durch diese beiden neuen Institutionen und die Institutionalisierung des Obersten Gerichtshof nicht gelang, war den Geist der Revolution zu erhalten.
Das Einzige, was von dem Geist der Revolution übrig blieb, war die Sicherung der Grundrechte, die Sorge um das private Wohlergehen der größten Zahl, das Wissen um die Macht der öffentlichen Meinung und die Fähigkeit, pressure groups zu bilden. Dies sind nach Arendt gesellschaftliche Werte, aber keine politischen Prinzipien wie „öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und öffentlicher Geist.“ (S. 284)
Der Einzige der „den entscheidenden Fehler der neuen Republik“ (S. 302) ahnte, war Jefferson. Er sah das Problem, dass nur die erste Generation in Freiheit handeln und einen Neuanfang machen kann. Er suchte nach Lösungen, wie jede Generation sich in einem Staat neu konstituieren kann.
Jeffersons Kritik war, dass die amerikanische Republik „zwar dem Volk die Freiheit [gab], aber sie enthielt keinen Raum, in dem diese Freiheit nun auch wirklich ausgeübt werden konnte.“ (S. 302)
Das Repräsentationssystem schaffte es nach Jefferson nicht, das alte Prinzip von Herrschern und Beherrschten aufzuheben. Der öffentliche Raum gehört hier nur den gewählten Abgeordneten und das Volk verlor jede Möglichkeit der politischen Anteilnahme an öffentlichen Angelegenheiten. Das Volk kann deshalb entweder in Lethargie verfallen oder Widerstand gegen die Staatsmacht üben.
Ein Lösungsvorschlag Jeffersons war, dass jede Generation »das Recht [habe], selbst die Staatsform zu wählen.« (S. 301) Dies würde bedeuten, dass ca. alle 19 Jahre ein Neuanfang gemacht werden müsste. Arendt betont, dass dies „zu phantastisch“ (ebd.) sei, weil dann ja auch erstens nichtrepublikanische Regierungen entstehen könnten und zweitens der Neuanfang zur Routine wird.
Die Entwicklung verlief nach Arendt während der Französischen Revolution genau umgekehrt. Während der Revolution entwickelten sich „die ersten schüchternen Ansätze einer neuen politischen Organisation- und einer bis dahin unbekannten Staatsform.“ (S. 353) Die erste Pariser Kommune mit ihren 48 Sektionen stellt für Arendt den ersten Ansatz einer Räterepublik dar. Innerhalb der Sektionen ging es inhaltlich um Aufklärung und Informationen über neue Gesetze und über alles, was mit Freiheit, Gleichheit usw. zu tun hat. Im Prinzip war Meinungsbildung ihre wesentliche Aufgabe. Nach Arendt wurde aber ihre parteipolitische Neutralität der Sektionen zum Verhängnis. Den Jakobinern war die Macht der Sektionen zu groß.
Die Sektionen bestanden damals noch aus zwei voneinander getrennten Elementen, „die Straße, die sich zusammenrottet, und der neue öffentliche Volksgeist.“ (S. 313) Die Sansculotten übten einen gewaltigen Druck aus, der aus der Not und dem Elend ihrer Existenz entsprang. Die Schreckensherrschaft Robespierres vernichtet die Sektionen, unter anderem, weil die Sektionen sich föderal organisieren wollten und Robespierre einen zentralen Nationalstaat gründen wollte, der auf dem Allgemeinwillen beruht. Gleiches wiederholte sich mit den Sowjets.
Nach Arendt entstand neben dem Rätegedanken zur gleichen Zeit unser heutiges Parteiensystem, „es ist der ebenso gloriose wie unheilvolle Moment der Geburt des Nationalstaates und des Untergangs der freien Republik.“ (S. 317) Mit dem Untergang der freien Republik verlor die Bevölkerung seine Macht an die parlamentarischen Vertreter. Im Wesen des Mehrparteiensystems sieht Arendt die Anlage zur „Ein-Partei-Diktatur“ (ebd.), historisch zum ersten Mal in Robespierres Schreckensherrschaft verkörpert.
Im dritten Abschnitt des letzten Kapitels stellt Arendt die politische Alternative zur Amerikanischen Revolution vor. Sie beruft sich hier fast ausschließlich auf Jefferson der nach seiner aktiven politischen Zeit über die Revolution und seine Präsidentschaft nachdachte. Die Quelle für Arendt stellen Jeffersons Briefe [4] dar. Jeffersons Hauptinteresse galt der Stabilität der Republik, die er durch die Nichtteilnahme der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten gefährdet sah.
Wer nur alle zwei oder vier Jahre zur Wahlurne geht, interessiere sich hauptsächlich für seine Privatinteressen. Damit werde unter anderem die Korruption in die öffentliche Politik getragen. Arendt warnt davor, dass „Korruption und Machtmissbrauch durch private Interessen“ sehr viel wahrscheinlicher sind als „durch den Machtmissbrauch der öffentlichen Gewalten.“ (S. 323) Dies ist nur durch Öffentlichkeit zu verhindern, in dem die Korrupten die „Angst vor der Schande“ (ebd.) fürchten.
Jeffersons Lösung war das »ward-system« (»divide the counties into wards« (S. 319)) was Arendt mit Bezirkssystem oder elementare Republiken übersetzt. An andere Stelle spricht Jefferson von Bezirken, die 100 Bürger enthalten. Jefferson benutzt auch das Wort »councils« (S. 325) – Räte –in seinem Brief vom 2. Februar 1816 an Cabel [5]. In seinem Brief beschreibt Jefferson, wie diese councils in den amerikanischen Staatsapparat integriert werden können:
- »Die Elementarrepubliken der Räte, die Kreisrepubliken, die Länderrepubliken und die Republik der Union sollten sich in einer Stufenfolge von Machtbefugnissen gliedern, deren jede, im Gesetz verankert, die ihr zufallenden Vollmachten besitzt und die alle zusammen in ein System von wirklich ausgewogenen Hemmungen und Kontrollen für die Regierung integriert sind.« (S. 325f)
Arendt wirft Jefferson vor, dass er die spezielle Funktion der Elementarrepubliken nicht beschreibt. Jefferson schreibt nur, dass man »nur für gleich welchen bestimmten Zweck den Anfang mit [den Räten] zu machen brauche«, um sehr schnell zu entdecken, »wofür sie sonst sich wohl noch am besten eignen mögen«. (326)
Endziel einer Revolution sowie natürlich auch der Überlegungen Jeffersons ist die politische Freiheit der Bürger, da
- "keiner glücklich genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daβ niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daβ niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht." (S. 326f)
In Amerika waren vor der Revolution die townships die Elementarrepubliken, die in der Verfassung nirgends auftauchen. In Europa entwickelten sich in fast allen Revolutionen spontan Rätesysteme, die dann von den Parteien, ob links, rechts oder revolutionär, vernichtet wurden. Arendt betont an mehreren Stellen den parteilosen und vor allem friedlichen Charakter der Räte, die nach Jeffersons Meinung „die einzig mögliche gewaltlose Alternative zu seinen früheren Vorstellungen … einer dem Generationswechsel entsprechenden Revolutionsfolge bildete.“ (S. 321)
Arendt bezeichnet Marx und Lenin als „die beiden größten Revolutionäre“ (S. 328), aber auch sie haben keine Revolutionen vorausgesehen, sondern wurden von ihnen überrascht. Damit eine Revolution ausbricht, muss das bestehende Staatssystem brüchig sein. Nach Arendt gehört eine „weit verbreitete Verachtung für den Staatsapparat zu den mächtigsten verursachenden Kräften einer Revolution“. (S. 334) Die Berufsrevolutionäre bildeten sich zwar ein, eine Revolution verursacht zu haben, aber die Berufsrevolutionäre wissen nur, wann die Macht auf der Straße liegt, und ihre größten Vorteile seien, dass „ihre Namen bekannt und nicht kompromittiert sind.“ (ebd.)
Während einer Revolution bilden sich jedes Mal spontan Räte - bis auf die Februarrevolution 1848 und die Märzrevolution 1848 - die eine neue Staatsform repräsentierten. Aber die Berufsrevolutionäre sind nach Arendt gerade „besonders ungeeignet, das wirklich Neue einer Revolution zu sehen und zu verstehen.“ (S. 335) Für sie widersprachen die Räte dem, was sie gelernt hatten, und die Räte waren damit konterrevolutionär. Sie wurden als reaktionär bezeichnet oder wie von Max Adler als “ein romantischer, der »ständischen Vergangenheit« nachjagender Traum“. (S. 339)
In den Räten konnte jeder Bürger in Freiheit handeln. Dies bildete für die revolutionären Parteien bzw. das Parteiensystem eine tödliche Gefahr. Arendt zitiert Rosa Luxemburg, um deutlich zu machen, was die Folgen einer Ein-Partei-Diktatur sind:
- »Mit dem Erdrücken des politischen Leben im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird das Scheinleben in der Bürokratie allein das tätige Element. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker.« (S. 340)
Die Räte selbst bildeten sich zum Beispiel während der russischen Februarrevolution 1917 und der Ungarischen Revolution spontan. Irgendwelche politischen Theorien waren hier nebensächlich. Hier erkennt Arendt den Geist der Revolution, der sich immer mit föderalen Prinzipien verband. Das Erstaunliche ist, dass die Räte (Arbeiterräte, Soldatenräte, Bauernräte, Nachbarschaftsräte, revolutionäre Räte, Schriftsteller– und Künstlerräte, Studentenräte, Jugendlichenräte, Beamtenräte usw.) in den beiden Revolutionen sich in kürzester Zeit selbst organisierten und miteinander in Kontakt traten, „um schließlich sehr schnell durch die Weiterbildung von Regional- und Provinzialräten ein System zu errichten, aus dem die Abgeordneten zu einer Nationalversammlung, die das ganze Land repräsentierte, gewählt werden konnten.“ (S. 344) Trotzdem schafften es die Parteien, dieses System zu unterwandern und zu vernichten.
Arendt hält nicht viel von der Parteiendemokratie. Das englische und amerikanische Zweiparteiensystem leiste bloß eine wirksame Kontrolle der Regierenden. Den Parteien im europäischen Mehrparteiensystem wirft Arendt vor, dass sie eine oligarchische Bürokratie darstellen mit mangelnder innerer Demokratie und wegen ihrer Unfehlbarkeit zum »Totalitären« neigen. Arendt betont auch die Nähe von Ein-Partei-Diktaturen zu den Mehrparteiensystemen.
Aber das, nach Arendt, bewährte Zweiparteiensystem habe es versäumt, einen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem die Bürger aktiv werden können. Meinungsbildung der Bürger kann sich aber nur im öffentlichen Raum entwickeln. Die Presse, die so genannte vierte Gewalt, biete zwar die Möglichkeit der Meinungsbildung, aber auch die Möglichkeit der Manipulation von Journalisten durch Abhängigkeitsverhältnisse.
Nach Arendt vertreten die Parteien die Grundüberzeugung, „daß der Zweck aller Politik die Wohlfahrt des Volkes sei, daß also in der richtigen Ordnung der Dinge Politik zugunsten von Verwaltung ausgeschaltet werden müsse.“ (S. 352) Der Wohlfahrtsstaat stellt eine Verwaltungsmaschine dar, die besser von Verwaltungsexperten geleitet werden könnte als von gewählten politischen Abgeordneten. Die Abgeordneten seien nur noch Beamte ohne wirklich freie Handlungsmöglichkeiten. Dies alles bezeichnet Arendt als antipolitisch und ihre große Befürchtung ist der Verlust des Politischen überhaupt.
Gleichzeitig misstrauen die Parteien dem Volk und setzen es mit der Masse gleich. Nach Arendt behaupten die Parteien, dass das Volk sich selbst nicht regieren könne und die politischen Geschäfte eine Bürde darstellen, die nur wenige auf sich nehmen würden. Andersherum ist es auch so, dass das Volk großes Misstrauen gegen Parteien und das parlamentarische System hat. Für populistische Bewegungen kann es deshalb umso leichter sein, das Volk in Masse zu verwandeln, je unfähiger das Parteiensystem und je korrupter die Parlamente sind.
Nach Arendt stellen die Räte für die Parteien eine große Gefahr dar. „Keine Partei .. hat je daran gezweifelt, dass sie eine wirkliche Verwandlung des Staates in ein Rätesystem nicht würde überleben können.“ (S. 351) Nur in Ausnahmesituationen – Krieg oder Revolution – konnte man die Räte gebrauchen. Danach galt es sie zu vernichten. Da die Räte parteipolitisch neutral waren, wurden sie automatisch zu Feinden der Parteien.
Die Parteien bezweifelten außerdem die Fähigkeit der Räte, den Staat zu verwalten. Aber das sei nie der Anspruch der Räte gewesen. Räte sind politische Organisationen und keine Verwaltungsmaschinen. Zum Beispiel werden die Vertreter der Arbeiterräte nach politischen Kriterien ausgewählt und nicht danach, ob sie einen Betreib gut führen können. Weist man Arbeiterräten diese Aufgaben zu, werden die Räte überfordert. Arendt fordert hier, wie auch überhaupt, eine klare Trennung zwischen dem öffentlichen politischen Raum, in dem man in Freiheit handeln kann, und dem Raum, der durch notwendige Prozesse von Experten zu regeln ist. Beide Räume brauchen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten.
Für den politischen Raum benutzt Arendt in ihren Büchern die Metapher von der Oase in der Wüste oder von Inseln im Meer der Notwendigkeiten, um deutlich zu machen, dass hier die Freiheit absolut ist, aber nur einen kleinen Bereich im (heutigen) menschlichen Leben darstellt, der aber zu schützen ist, weil er von außen bedroht ist. Die Begriffe von Jürgen Habermas, Lebenswelt versus System, ähneln Arendts Begriffen stark.
Arendt führt den Begriff der Elite ein, der ihr zwar selbst „peinlich“ (S. 355) sei, aber sie fand keinen passenden anderen Begriff. Nicht jeder Mensch hat die politischen Leidenschaften (Adams), ohne eigenes Interesse sich für öffentliches Glück usw. einzusetzen. Dem Parteiensystem wirft sie vor, dass zwar die Geburtselite (Adlige) abgeschafft wurde und eine so genannte Volkselite jetzt die Regierungsgeschäfte führt, aber es nicht geschafft wurde einen öffentlichen Raum für die Bürger bereit zu stellen. Außerdem wählen die Parteien ihre Elite nach Kriterien aus, „die selbst zutiefst unpolitisch sind. Es liegt im Wesen des Parteiensystems, daß es echte politische Begabung nur in Ausnahmefällen hochkommen läßt.“ (S. 357)
Die Räte wählen auch eine Elite aus, die „die einzig echte aus dem Volk stammende Elite“ (S. 357) darstellt. Diese echte Volkselite tritt der Bevölkerung zwar auch wieder als Regierende gegenüber, aber Arendt hat die Hoffnung, dass das Rätesystem zwar „die uralte Gestalt der Pyramide annehmen, also die Gestalt aller Staatsformen, die wesentlich auf Autorität beruhen [würde, aber hier] die Autorität weder oben noch unten ihre Quelle haben, sondern auf jeder Stufe der Pyramide gleichsam neu entstehen.“ (S. 358) Arendt betont, dass die hier skizzierte Elitenauswahl für den politischen Raum gilt und nicht für andere Bereiche wie zum Beispiel den kulturellen oder wissenschaftlichen Bereich.
Wie genau das Rätesystem aussehen soll, beschreibt Arendt nicht, weil es klüger sei, Jefferson zu folgen, der sagt, man solle nur einen Anfang machen, danach werde es sich herausstellen, für welche Zwecke die Räte sich am besten eignen.
Kritik
Seyla Benhabib kritisiert unter anderem „Arendts Versuch, auf dem Wege einer ontologischen Abgrenzung zwischen Freiheit und Notwendigkeit das Politische vom ökonomischen zu trennen, ist … zwecklos und unplausibel. Das Reich der Notwendigkeit ist ganz und gar von Machtverhältnissen durchdrungen: Macht über die Verteilung von Arbeit, von Ressourcen, über Autorität usw.“ [6] Das Problem wo das Politische und wo das „Gesellschaftliche“ anfängt definiert Arendt nicht. Dies gibt sie in einem Gespräch auch zu. [7]
Oliver Marchart verteidigt Arendts Ansatz, denn „fände Globalisierung in einem Raum der Alternativlosigkeit statt, dann könnte es nur um Fragen der entweder effizienteren oder gerechteren Verwaltung gehen – letztlich um ein besseres Globalisierungsmanagement. Man bliebe dabei völlig im Denkhorizont des Ökonomischen, also des Reichs der Notwendigkeit. Wenn es aber um die Welt geht, dann geht es zugleich um Forderungen nach Demokratisierung und nach Ausweitung und Vervielfachung öffentlicher Räume. Erst das wäre die eigentlich politische Alternative zum scheinbar unüberschreitbaren Horizont des Ökonomischen.“ [8]
Benhabib kritisiert auch, das Arendt nicht gesehen hat, „daß die Amerikanische Revolution auch ihren Anteil an Gewalt und Terror hatte, als ein Jahrhundert später der von 1861 bis 1865 andauernde Sezessionskrieg ausbrach. [9] Die Gewalt entlud sich, im Gegensatz zur Französische Revolution, 100 Jahre später.
Benhabib betont die Wirkung die Arendt auf Habermas gehabt hat. Besonders „die Wiederentdeckung des Begriffs vom öffentlichen Raum.“ [10]
Siehe auch
Zeittafel zur Französischen Revolution
Quellen
- ↑ Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, vom 15. Mai 1963, S. 540
- ↑ „Mit Blücher hatte Arendt gleichsam die lebendige Erinnerung an revolutionäres Handeln im Wohnzimmer sitzen.“ Marchart, S. 94f
- ↑ Hannah Arendt und Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968, vom 4. März 1963, S. 559
- ↑ Jeffersons Briefe
- ↑ Brief vom 2. Februar 1816 an Cabel
- ↑ Benhabib, S. 251f
- ↑ Arendt, Ich will verstehen, S. 87ff
- ↑ Marchart, S. 94f
- ↑ Benhabib, S. 255
- ↑ Benhabib, S. 310
Literatur
- Hannah Arendt: Über die Revolution (On Revolution New York 1963), Piper, 4. Aufl. München 1994, ISBN 3-492-21746-X
- Hannah Arendt und Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968, hrsg. v. Lotte Köhler, München, 1999; 2. Aufl. 2002 ISBN 3-492-228350-6
- Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg, v. Lotte Köhler und Hans Saner, New York 1992, München, 2001 ISBN 3-492-21757-5)
- Hannah Arendt: Ich will verstehen, 1996; Piper, München, 2007 ISBN 3-492-22238-2
- Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, 1998, Originaltitel: The Reluctant Modernism of Hannah Arendt. 1996
- Oliver Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Verlag Turia + Kant, 2005, ISBN 3-85132-421-8