Szientismus
Mit der Bezeichnung Szientismus (von lat.: scientia Wissen, Wissenschaft, auch Szientizismus, Scientismus oder „Wissenschaftsgläubigkeit“) wird in der Wissenschaftstheorie die Auffassung kritisiert, dass das Verständnis des methodologischen Naturalismus von der empirischen Wissenschaft (insbesondere der Naturwissenschaft) eine Vorrangstellung in Bezug auf Erkenntnisgewinn, Wahrheitsuche und Lebensdeutung gegenüber anderen Methoden der Welterschließung besitzt. Die Kritik kann dabei sehr differenziert ausfallen; von der Kritik an einem unreflektierten Glauben an die absolute Wahrheit naturalistisch gewonnener Theorien bis hin zu einer Ablehnung empirisch-wissenschaftlicher Methoden für die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Formen
- Im Hinblick auf die in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommende Methodik mit ihrem Kernstück, der experimentellen Überprüfung – als Spezialfall der methodisch kontrollierten Erarbeitung von Wissen, die Wissenschaft auszeichnet – kann der Szientismus als methodischer Monismus vertreten werden.
- Es ist möglich, ihn auch als allgemeinen (nicht selten dann als weltanschaulich verallgemeinerten oder metaphysischen bzw. ontologischen) Naturalismus zu verfechten.
- Als Empirismus bezeichnet man es, wenn der Bezug auf die Erfahrung oder Empirie als Grundlage von Wissenschaft betont wird.
Geschichte
Im Hinblick auf die methodologische Norm des Kausalprinzips als der in den Naturwissenschaften wichtigsten forschungsleitenden Maxime vertreten szientistisch eingestellte Wissenschaftler oft einen weltanschaulich verallgemeinerten Determinismus. Dieser schließt logisch einen Reduktionismus ein, nach dem programmgemäß alle Phänomene letztlich auf Physik in jeweiliger Ausarbeitung zurückzuführen sind.
Der Szientismus ist historisch deswegen in verschiedenen Formulierungen vertreten worden:
- im 18. Jahrhundert als gleichfalls spekulativer Mechanizismus;
- im 19. Jahrhundert verallgemeinert als Physikalismus;
- in der Verallgemeinerung des Atomismus als Materialismus, der allerdings bereits um die Wende zum 20. Jahrhunderts im Haeckel'schen Monismus eine Wendung ins evolutionär Biologische erhielt;
- und schließlich in spekulativer Fortentwicklung dieses Ansatzes als wahrnehmungsphysiologisch begründete und wahrnehmungspsychologisch ausgreifende Evolutionären Erkenntnistheorie, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts in informationstheoretischer Umformulierung als Radikaler Konstruktivismus bekannt wurde.
Szientistisch gesehen sind die Naturwissenschaften alleinige Quelle von Wissen; individuelles Erfahrungswissen von Einzelpersonen bis hin zu dem von Wissenschaftlern muss und kann danach nur neurophysiologisch erfasst und dargestellt werden: als individuelle Reiz-Reaktionsfolgen, die der Theorie nach in neuronalen Netzen organisiert und in Synapsenveränderungen verankert sein sollen.
Kritik
Kritiker bringen gegen den Szientismus u.a. folgende Argumente vor:
- Nicht selten sei mit dem Szientismus die unterschwellige oder ausdrückliche Haltung verbunden, allein Naturwissenschaften für wissenschaftlich anzusehen oder normativ nur sie für wissenschaftlich zu "erklären".
- Die für menschliches Handeln wesentliche, Differenzierung zwischen Wissen und Werten werde zugunsten des Wissens relativiert oder aufgegeben und als Wertneutralität ausgegeben.
- Szientistisches Denken finde seine Grenzen dort, wo es darum gehe, menschliche Kulturleistungen wie psychologisch relevante mentale oder kognitive Aktivitäten beispielsweise bei der bewussten Verarbeitung emotionaler und sonstiger Erlebnisse, soziale Zusammenhänge aller Art sowie kulturelle Traditionen wissenschaftlich zu erfassen; denn es fehle eine kulturwissenschaftliche Methodik zur adäquaten Beschreibung von selbst initiierten intentional ausgerichteten, also zweckgerichteten oder zielorientierten und ggf. sozial abgestimmten Eigenaktivitäten von Menschen. In szientistischer Perspektive könnten sie nur als biologisches Verhalten wie das von Tieren aufgefasst werden. Bewusstes Erinnern und Denken sowie alle überlegten oder gar umsichtig geplanten und sinnvoll organisierten Tätigkeiten wie beispielsweise sich ausreichend auf Prüfungen vorzubereiten, ihr erfolgreiches Bestehen und andere planvoll vorbereiteten und durchgeführten persönliche Leistungen von Lernenden werden deswegen von Hirnforschern (Gerhard Roth) zu kognitiven Konstruktionen von Gehirnen umgedeutet. Dadurch sei es nur noch möglich, Leistungen von Menschen "behavioristisch" als von inner- oder extraorganismischen Reizen abhängiges Reagieren aufzufassen. Neben dem erwähnten Behaviorismus ist philosophiehistorisch der Operationalismus des Nobelpreisträgers P.C.Bridgman bekannter geworden, der in Konsequenz derartigen Denkens versuchte, die Theoriebildung in der Physik als eine Abfolge von Messgeräte-Ablese- und "Papier-und-Bleistift-Operationen" zu rekonstruieren.
- Kritiker des Szientismus bringen grundsätzliche Bedenken gegen die Gleichsetzung von Naturwissenschaft und Wissenschaft vor und behaupten, sie sei wissenschaftlich weder gerechtfertigt noch rechtfertigbar und damit unzulässig. Abgesehen davon sei sie logisch widersprüchlich bzw. zirkulär und widerspreche damit auch oder gerade von Szientisten erhobenen Exaktheitsidealen. Vor allem würden in szientistischer Perspektive naturwissenschaftliche Wissenschaftskriterien zu allgemeinen wissenschaftlichen Standards erhoben. Eine mehr als intrinsische Diskussion wissenschaftlicher Theorien auf allgemeine Plausibilität, innere Konsistenz und logische Widerspruchsfreiheit sei dann nicht mehr möglich, eine kritische Reflexion auf die insbesondere normativen Voraussetzungen der Naturwissenschaften und im weiteren auch ihre kulturbestimmenden und gesellschaftlich verankerten Grundlagen und Folgen werde ausgeschlossen.
Eine solche "Immunisierung" gegenüber kritischen Untersuchungen und Reflexionen gelte jedoch gerade nicht als wissenschaftlich; sie sei vielmehr typisch für ideologisches Denken.