Moskauer Prozesse
Als Moskauer Prozesse werden vier Moskauer Gerichtsverhandlungen in den Jahren 1935 bis 1938 bezeichnet, in denen in der Sowjetunion unter Josef Stalin hohe Partei- und Staatsfunktionäre wegen angeblicher terroristischer staatsfeindlicher Aktivitäten angeklagt wurden. Im Stalinismus – wie in vielen anderen Diktaturen – wurden solche Prozesse zumeist als Schauprozesse ohne Rechtsstaatlichkeit geführt. Drei Prozesse waren öffentliche Verhandlungen, einer ein nichtöffentlicher Militärgerichtsprozess.
Durch die Prozesse wurde praktisch die gesamte Führung der Oktoberrevolution vernichtet. Der eigentliche Hauptbeschuldigte war dabei Leo Trotzki, der ehemalige Vorsitzende des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets, der die Machtübernahme der Sowjets am 7. November 1917 organisiert hatte. Er war im russischen Bürgerkrieg von 1918 bis 1923 Oberkommandierender der Roten Armee gewesen und 1929 ins Exil gezwungen worden. Seitdem lebte er außerhalb der Sowjetunion und war dem direkten Zugriff der Moskauer Machthaber entzogen.
Chefankläger von 1936 bis 1938 war der Generalstaatsanwalt der Sowjetunion Andrej Januarjewitsch Wyschinski. In den Prozessen wurde jeweils behauptet, die Angeklagten hätten in einer verschwörerischen Verbindung mit Trotzki und Agenten des kapitalistischen Auslands zum Zwecke der Unterminierung der Sowjetmacht gestanden. Wer diese angeblichen Auftraggeber waren, richtete sich nach den jeweils vorherrschenden außenpolitischen Bündniswünschen der Kreml-Führung: Mal wurden sie mehr in Berlin, mal mehr in London angesiedelt.
Anlass der Prozesse war die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Sergei Mironowitsch Kirow 1934, hinter der angeblich Trotzki und seine vermeintlichen Handlanger im Politbüro der KPdSU steckten. Als „Beweise“ hierfür dienten vorher vom NKWD erfolterte Geständnisse der Angeklagten; materielle Beweise wurden nicht vorgelegt. Mehrere konkrete Aussagen der Angeklagten waren leicht zu widerlegen. Der im ersten Prozess angeklagte Golzmann wollte sich z. B. mit Trotzki bei dessen Besuch in Kopenhagen im Jahre 1932 getroffen haben, nach einem vorangehenden Treffen mit Trotzkis Sohn Leo Sedow im Hotel „Bristol“. Das Hotel war jedoch im Jahr 1917 abgerissen worden. Sedow, der damals in Berlin wohnte, hatte zudem wegen Visumproblemen überhaupt nicht nach Kopenhagen fahren können. Ein weiterer Angeklagter, Olberg, sagte aus, dass Sedows geplante Reise in letzter Minute abgesagt worden sei. Diese eklatanten Widersprüche zwischen Golzmanns und Olbergs Aussagen erregten jedoch weder die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes, noch anderer Prozessbeteiligter oder der gefügigen sowjetischen Presse.
Der damalige stellvertretende Volkskommissar Juri Leonidowitsch Pjatakow, angeklagt im zweiten Prozess, soll nach eigener Aussage im Dezember 1935 mit einem „Sonderflugzeug“ von Berlin nach Oslo geflogen sein, um sich dort mit Trotzki zu treffen. Abgesehen von der äußerst dürren und unwahrscheinlichen Schilderung der Reise konnten die norwegischen Behörden schnell feststellen, dass im Dezember 1935 kein einziges ausländisches Flugzeug in Oslo gelandet war.
Angebliche Tatsachen hielten der Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht stand.
Im einzelnen wurden folgende Prozesse geführt:
- 1. Prozess vom 19. bis 24. August 1936 gegen Lew Borissowitsch Kamenew, Grigori Jewsejewitsch Sinowjew und 14 andere Funktionäre;
- 2. Prozess: vom 23. bis 30. Januar 1937 gegen J. L. Pjatakow, Karl Radek, Grigorij Jakowletisch Sokolnikow, Leonid Petrowitsch Serebrjakow und 13 andere Funktionäre;
- 3. Prozess: vom 2. bis 13. März 1938 gegen Alexei Iwanowitsch Rykow, Nikolai Iwanowitsch Bucharin, Genrich Grigorjewitsch Jagoda und 18 andere Funktionäre;
- 4. Prozess (nicht öffentlich): im Juli 1937 gegen den Offizier Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski und 11 weitere Offiziere der Roten Armee, die damit faktisch enthauptet wurde. Dies sollte sich nach dem deutschen Angriff 1941 als beinahe fatal herausstellen.
Gegen 50 von den insgesamt 66 Angeklagten wurde die Todesstrafe verhängt. Die übrigen 16 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Über den Zweck dieser Prozesse und der Stalinschen Säuberungswelle insgesamt, deren blutiger Scheitelkamm sie waren, besteht in der Forschung noch keine Einigkeit. Es wird für möglich gehalten, dass Stalin die absurden Verschwörungstheorien, die den Anklagen zugrundelagen, wirklich glaubte – die Ursache also die persönliche Paranoia des „Führers“ der Sowjetunion war, wie er sich damals nannte. Andere vermuten, dass es Stalin im Gegenteil ganz rational um seine persönliche Machtsicherung ging – demnach habe er kühl kalkulierend alle ehemaligen engen Mitarbeiter Lenins aus dem Weg geräumt, die ihm seinen Herrschaftsanspruch hätten streitig machen können. Die Debatte ist noch nicht entschieden.
politökonomische Gründe
Es ist eher unwahrscheinlich, daß irgendwelche Verschwörungen/Paranoia/bloße Machtsteigerung als eigentliche(r) Grund(e) der Schauprozesse dienten. Die Frage stellt sich, warum fanden sie gerade zwischen den Jahren 36-38 statt, warum nicht schon früher? Es darf nicht übersehen werden, daß Deutschland seit 1933 ein faschistisches Regime besaß, das Begehrlichkeiten gegenüber der Sowjetunion hegte. In der gleichen Zeit war die Zwangskollektivierung abgeschlossen, so daß die "Bahn" frei war, für die nun größte Aufgabe, eine massive Industrialisierung. Diese konnte am effizientesten dadurch durchgeführt werden, in dem sämtliche Gegner ausgeschaltet wurden, um so ohne lange Diskussion(en),Richtungskämpfe sofort eine ökonomische Forcierung zu betreiben. Diese nahm dann auch zu dieser Zeit rasante Ausmaße an! Leute wie Bucharin standen einer vorangepeitschten Industrialisierung skeptisch gegenüber, zumal sie einerseits nur auf Kosten der Bauern betrieben werden kann, zum andern repressive Maßnahmen erforderlich macht. In diesem Rahmen sind die Moskauer Schauprozesse eingebettet.
Literatur
- Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR, Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, Moskau 1937
- Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR, Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen "Blocks der Rechten und Trotzkisten", Moskau 1938
- "The Case of Leon Trotsky", Report of Hearings on the charges made against him in the Moscow Trials (John Dewey, Carleton Beals, Otto Rühle, Benjamin Stolberg), New York 1937, Nachdrucke bei Pathfinder Press
- Wladislaw Hedeler, Steffen Dietzsch, Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938, Akademie-Verlag 2003, ISBN 3050038691
- Arthur Koestler, Die Sonnenfinsternis, Europa Verlag, Hamburg 2000, ISBN 3203791501
- Wadim S. Rogowin, 1937, Jahr des Terrors, Arbeiterpresse 2004, ISBN 3886340716
- Schauprozesse unter Stalin 1932 - 1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer. Mit einem Vorwort von Horst Schützler, Dietz Verlag Berlin 1990, ISBN 3-320-01600-8
- Leo Sedow: Rotbuch über den Moskauer Prozeß, Antwerpen 1936 (mehrere Nachdrucke in den 1970er Jahren)
- Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, 1937 (mehrere Nachdrucke in den 1970er Jahren, Neuauflage bei dietz berlin im Jahr 1990)
- Hermann Weber, Ulrich Mählert, Terror, Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953, Schöningh 2001, ISBN 3506753363
- Dimitri Wolkogonow: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Econ Taschenbuch Verlag 1989. ISBN 3-612-26011-1
- Simon Sebag Montefiore, "STALIN, am Hof des roten Zaren", aus dem Englischen, S-Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main, 2005
Weblinks
- Prozessbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums vom 19.–24. August 1936 (deutsch)
- Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums vom 23.–30. Januar 1937 (deutsch)
- Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“ vom 2.–13. März 1938 (deutsch)
- „Die sechzehn Erschossenen“ Victor Serge über die Verfolgung der alten Garde der Bolschewiki