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Sprache des Nationalsozialismus

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Mit Sprache des Nationalsozialismus wird einerseits ein häufig wiederkehrendes Vokabular gemeint, andererseits jedoch auch eine Art öffentliche Reden aufzubauen (Rhetorik). Hitler, Goebbels wurden damals und werden zu einem Großteil über ihre Sprechattacken als Demagogen wahrgenommen. Film und Radio wurden systematisch zu deren Verbreitung eingesetzt. Und so wie diese "mächtigen" Personen Sprache nutzten, setzte sich dieser Sprechstil auch bis in die Ansprachen von Bürgermeistern oder den Unterrichtsvortrag von Lehrern fort. In der Zeit des Nationalsozialismus gab es, wie in jedem längeren Zeitabschnitt einer Sprachbenutzung Neuschöpfungen von Wörtern und veränderte Bedeutungszuschreibungen für bereits vorhandene Wörter. Zum Teil als Folge einer willkürlichen Entscheidung, Wortschöpfung - zum Teil als unreflektierte Veränderung. Rückblickend wird die Frage gestellt, ob bereits der Sprachgebrauch etwas über die Ziele, Absichten der sie benutzenden Politiker, Journalisten, Beamten und Lehrpersonen aussagte.

Besonderheiten und Ausprägungen

  • In großer Häufigkeit werden Wörter wie einmalig, einzig, gigantisch, historisch, total, ungeheuer oder Superlative verwendet, die bisher nicht erreichte Höhepunkte der jeweiligen Leistung suggerieren sollen.
  • Eine Variante davon ist der um Hitler veranstaltete Personenkult mit dem Hitlergruß.
  • Ausdrücke, die ursprünglich der technischen, medizinischen, biologischen Fachsprache entstammen, werden zum Teil in einem übertragenen (metaphorischen) Sinn verwendet. Es soll dadurch der Eindruck von wissenschaftlichen Grundlagen für die jeweilige Aussage entstehen.
  • Eine sachliche Ausdrucksweise dient eigentlich dazu, über Sachverhalte wertfrei zu informieren. Im Nationalsozialismus wird sie aber oft verwendet, um Grausamkeiten oder ekelerregende Taten zu beschönigen (als Euphemismus), z. B. der extremsten Form als Endlösung der Judenfrage anstatt Tötung aller Juden in Europa.
  • Vielfache Anleihen der Nazipropaganda gibt es bei der kirchlichen Sakralsprache oder in dem Duktus von Reden; z. B. ewig, heilig, das nationalsozialistische Glaubensbekenntnis. Glauben wird anstelle von Wissen eingefordert. Die Antwort Sieg heil der "Massen" entspricht formal dem kirchlichen Wechselgesang, der als Ritual ja auf inhaltlicher Übereinstimmung beruht. Auch der Einsatz von "Liedern der Bewegung" wie "Die Fahne hoch ..." oder "heute gehört uns Deutschland, und morgen die ..." erinnert stark an die Bedeutung der Liturgie in den Kirchen. Vgl. Fahnenweihen mit der Blutfahne, Reichsparteitage.
  • Herabsetzende Äußerungen über politische Gegner basieren immer wieder auf Vergleichen aus der Tierhaltung und Schädlingsbekämpfung. Als Beispiel Hitler in Mein Kampf: „Der Jude ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt.“
  • Das neu geschaffene Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) übernahm schon ab März 1933 die inhaltliche Lenkung der Presse, der Literatur, der bildenden Kunst, des Films, des Theaters und der Musik reichsweit. Es übte mittels der Reichskulturkammer die Kontrolle über fast alle Bereiche der Kultur und Medien aus. Die Reichspressekammer war davon eine Unterorganisation. Außerhalb der parteieigenen Medien konnte damit auch der Staatsapparat zur Verbreitung der Ideologie genutzt werden, indem Zensur oder Fördermittel des Ministeriums die NS-parteikonforme Behandlung von Sport-, Kultur- und zwischenmenschlichen Themen in Spielfilmen erreichen konnte. Personalpolitik bis in einzelne Filmproduktionen wurde über die Reichsfilmkammer durchgesetzt.

Politische Ziele des Sprachgebrauchs

  • Nutzung als Erkennungsmerkmal Gleichgesinnter
  • Schaffung einer emotionalen und Wertegemeinschaft
  • Innerparteiliche Formierung und Motivation der Mitgliedschaft, um weitergehende Maßnahmen gegenüber Gegnern oder zu verfolgenden Personengruppen vorzubereiten. In Extremis zu hören in Himmlers so genannter geheimen „Posener Rede“ vom 4. Oktober 1943 zur nachträglichen Rechtfertigung der Massentötungen. Sie kann als Beispiel bodenloser Sprachverdrehung je nach aktuellem politischem Zweck neuer Zielsetzung gehört werden.
  • Ausgrenzung Andersdenkender, Einschüchterung
  • Nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurde der Hitlergruß verpflichtend für die Wehrmacht angeordnet, um damit deren Loyalität zu Hitler zu zeigen. Bis dahin galt die Wehrmacht als einer der wenigen Bereiche, wo man um den damit verbundenen Personenkult herumkommen konnte.
  • Propaganda der parteilichen Ziele insbesondere durch die Parteipresse (Völkischer Beobachter, Der Angriff. weitere siehe beim Parteiverlag Franz-Eher-Verlag, München, der die Spitze eines großen Pressekonzerns darstellte.)
  • zur Vermeidung inhaltlicher Argumentation, fast im wörtlichen Sinne eines Totschlagarguments (auch: Killerphrase)

Darstellungen und Analysen

in literarischen Formen

Von Victor Klemperer, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler (1935 auf Grund des nationalsozialistischen Berufsbeamtengesetzes aus seiner Professur an der TH Dresden entlassen), gibt es eine literarisch bearbeitete Bestandaufnahme der Sprache in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Sein möglichst unverfängliches Kürzel – und bereits eine Parodie auf die Abkürzungswut der Nazis – war damals LTI für Lingua Tertii Imperii. Das ist lateinisch für „Sprache des dritten Reiches“. Seine These ist, dass es weniger einzelne Reden, Flugblätter, Wörter oder ähnliches waren, die den größten Eindruck in der Bevölkerung hinterließen, sondern vielmehr die stereotypen Wiederholungen des ganzen Wortschwalls. Sie führten zu einer ständigen Beeinflussung im Sinne einer Suggestion.

Aus der Nach-Nazi-Zeit gibt es einen ähnlichen Ansatz von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind, die zwischen 1945 und 1948 für die Zeitschrift „Die Wandlung“ dazu Beiträge schrieben, die 1957 zum ersten Mal in Buchform erschienen: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen.

in Theater, Film, Kleinkunst

  • Charles Chaplin: Der große Diktator (USA, Uraufführung 15. Oktober 1940. Orig: The great dictator. Nominiert für 5 Oscars)

Charlie Chaplins Film, uraufgeführt Okt. 1940, leistete einen Beitrag zur inneramerikanischen Debatte um den Kriegseintritt der USA. Die „New York Times“ spricht bis heute von dem „vielleicht wichtigsten Film, der je hervorgebracht wurde“. Chaplin arbeitet mit satirische Entsprechungen oder Übertreibungen. Im Rahmen dieser Hitler-Persiflage und Satire auf die NS-Herrschaft verfremdet Chaplin die Namen der Staaten und der beteiligten Politiker. Der Rassengedanke der NS-Ideologie blieb jedoch Klartext. Auch die Begriffe "Ghetto" und "Konzentrationslager" wurden nicht verfremdet. Der Angriff auf das fremde Staatsoberhaupt war treffsicher. Hynkels (Hitler) Reden werden in einer vollkommen unverständlichen erfundenen Sprache, auf Tomanisch, gehalten. Doch der aggressive Tonfall, das Stakkato, Mimik und Gestik lassen auf den brutalen Inhalt der Sätze schließen. Die Schilder und Ladenbeschriftungen im Film-Ghetto sind in Esperanto verfasst.

Eine negativ bewertete Szene im Film ist die, in der KZ-Häftlinge im Konzentrationslager marschieren, was nach Meinung der meisten Kritiker überzogen lächerlich dargestellt wird. Chaplin entschuldigte sich später für diese Szene, er habe damals nicht gewusst, wie schrecklich es im KZ wirklich war. Der Große Diktator wurde für fünf Oscars nominiert und ging bei der Preisverleihung 1941 aber komplett leer aus.


Beispiele

Die Sprache der Opfer in den KZs

Eine Besonderheit ist die Sprache oder der Sprachgebrauch der Gefangenen in den Konzentrationslagern (KL oder später KZ). In fast jedem KZ gab es als Opfer Angehörige von 35 bis 40 verschiedenen Völkern oder Volksgruppen. Jeder brachte an diesen Ort natürlich seine eigene Muttersprache / Nationalsprache mit. Die Kommunikation mit den Bewachern erfolgte grundsätzlich auf deutsch, auch die Lagerpost hatte in deutscher Sprache zu sein. Mit den Bewachern durft nur deutsch gesprochen werden. Somit war ohne -zumindest rudimentäre- deutsche Sprachkenntnisse ein Überleben nahezu unmöglich. Aber zwischen den Gefangenen gab es ein multinationales Sprachgemisch, das sich zum Teil zu einer Sondersprache entwickelte. Dieses Idiom bestand aus Schlüsselwörtern und ergänzenden nonverbalen Zeichen. Um 1985 hat W. Oschlies vorgeschlagen dafür den im KZ bereits z. T. benutzten Begriff "Lagerszpracha" generell zu verwenden.

Literatur

  • Gerhard Bauer: Sprache und Sprachlosigkeit im „Dritten Reich“. Köln. 1988. 360 Seiten. ISBN 3766330977 .
  • Helga Brachmann (Jahrgang 1928; später sind das die Flakhelfer): Wie ich den Nationalsozialismus erlebte. Als Zeitzeugin im Projekt Zeitzeugen der Universität Leipzig
  • W. Bohleber/J. Drews (Hrsg.): Gift, das du unbewußt eintrinkst ...“. Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache. Bielefeld. 1991.
  • S. Bork: Mißbrauch der Sprache. Tendenzen nationalsozialistischer Sprachregelung. Bern/München. 1970.
  • K.H. Brackmann/R. Birkenauer: NS-Deutsch. Selbstverständliche Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen/Niederrhein 1988 (Europäisches Übersetzer-Kolloquium Straelen, Glossar 4).
  • Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens. Fischer-Verlag, 1964.
  • Charlie Chaplin Die Wurzeln meiner Komik in: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 3.3.67, gekürzt: wieder ebd. 12.4. 2006, S. 54
  • S. Frind: Die Sprache als Propagandainstrument des Nationalsozialismus, in: Muttersprache, 76. Jg., 1966, S. 129-135.
  • Victor Klemperer: LTI - Lingua Tertii Imperii. Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam, 1990. ISBN 3379007595; Frankfurt am Main (19. Auflage) 2001
  • Gerhard Lange (1968): Sprachreform und Sprechreform in Hitlers Reden. In: Muttersprache 78, H. 11. 1968, 342-349.
  • U. Maas: Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse. Opladen 1984
  • Stefan Moritz: Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich. Wien, Picus Verlag. 2002. 318 Seiten.
  • U. Nill: Die „geniale Vereinfachung“. Anti-Intellektualismus in Ideologie und Sprachgebrauch bei Joseph Goebbels. Frankfurt am Main. 1991. (Sprache in der Gesellschaft - Beiträge zur Sprachwissenschaft, 18).
  • Wolf Oschlies: Theorie und Empirie der "Lagerszpracha". In: Zeitgeschichte (Wien) Nr. 1/1985, S. 1-27. Kurz zusammengefasst und weitere Literatur bei Shoa.de
  • J. G. Pankau (Hrsg.): Rhetorik im Nationalsozialismus. Tübingen 1997. (Rhetorik, 16).
  • Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus. Aus dem Englischen Dietmar Zimmer. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 448 S., ISBN 3421059136
  • Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wilhelm E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1957. ISBN B0000BO90J (1962)
  • Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 1998. ISBN 311016888X. Dazu Rezension von Jutta Lindenthal beim Fritz-Bauer-Institut(F/M).

Siehe auch