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Cem Özgönül

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Cem Özgönül (* 1972 in Sakarya, Türkei) ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist, der 2006 im Kölner Önel-Verlag sein Erstlings-Buch Der Mythos eines Völkermordes. Eine kritische Betrachtung der Lepsiusdokumente sowie der deutschen Rolle in Geschichte und Gegenwart der "armenischen Frage" veröffentlichte, in der er bestimmte historische Quellen für den Völkermord an den Armeniern in Frage stellte.

Leben

Özgönül studierte Mathematik, Soziologie[1] und Philosophie. Er lebt und arbeitet als Freier Publizist in Köln.

Debatte

Özgönül befasst sich in seinem Buch mit den so genannten Lepsiusdokumenten, einer Quellenedition der Originalakten des deutschen Auswärtigen Amts, die nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1919 von Johannes Lepsius publiziert wurde und bis heute als die wichtigste Quelle für den Völkermord an den Armeniern galt. Nachdem weitreichende Manipulationen in den Lepsiusdokumenten festgestellt wurden, hat Wolfgang Gust 2005 eine überarbeitete Quellenedition der Originalakten des Auswärtigen Amts veröffentlicht.

Özgönül versucht zu beweisen, dass die durch Lepsius selbst vorgenommenen Manipulationen an den Dokumenten nicht nur zur Kaschierung der deutschen Beteiligung entstanden wären (wie zuvor schon u.a. der Journalist und Historiker Wolfgang Gust erklärt hatte), sondern geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass Lepsius nicht nur zu Gunsten der Deutschen, sondern auch zu Gunsten der Armenier die Dokumente manipuliert hätte.

Lepsius hat entsprechende Passagen in den Telegrammen der deutschen Botschafter im Osmanischen Reich, in denen sie mitteilten, dass die Osmanische Regierung die humane Durchführung der Umsiedlung angeordnet hat oder die Passagen, die Massaker der Armenier an der muselmanischen Bevölkerung oder Verwüstung der muselmanischen Stadtteile durch die Armenier aufzeigen und Passagen über weitere Vor- und Nachgeschichten konsequent ausgeblendet oder manipuliert.

Diese Behauptungen sind für jedermann nachvollziehbar, der die Originaldokumente des Auswärtigen Amtes mit der Quellenedition von Lepsius vom Jahre 1919 (Deutschland und Armenien 1914-1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke) selbst vergleicht. Die Akten des Auswärtigen Amts Berlin zum Themenkomplex sind die Mikrofiche-Nr. 7086 bis 7204 (Akte: Türkei 183) und die Mikrofiche-Nr. 7205 bis 7270 (Akte: Botschaft Konstantinopel - Armenien).

Dass es Manipulationen in der Quellenedition von Lepsius gibt, ist unumstritten. Auch der Historiker Wolfgang Gust hat darüber schon berichtet.[1] Strittig ist der Grad der Manipulationen. Allerdings schreibt Özgönül Bezug nehmend auf die Schrift Magisches Viereck von Gust schon in seinem Buch auf Seite 116: wer aber die Originale mit der Lepsius-Edition vergleicht, wird sehen, das eben nicht nur zu Gunsten der Deutschen manipuliert wurde, sondern ebenso zugunsten der Armenier.

Auch unumstritten ist die Bedeutung und der Stellenwert der Lepsius-Edition in der bisherigen Genozidforschung. Gust hat dazu kurz vor Erscheinen von Özgönüls Buch in seiner Schrift Magisches Viereck schon folgendes geschrieben: Ohne Lepsius hätte die deutsche Öffentlichkeit nur wenig von den Ungeheuerlichkeiten erfahren, die die Armenier erst im befreundeten, dann sogar verbündeten Osmanischen Reich zu erleiden hatten. Und bis heute gelten im deutschen Sprachbereich seine Schriften über die Tragödien der Armenier als die wichtigsten.[2]

Die zweite Quellenedition der Originaldokumente des Auswärtigen Amts hat nun Wolfgang Gust nach 86 Jahren nach der gefälschten Lepsius-Edition veröffentlicht (Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts). Özgönül schreibt, dass wegen den Manipulationen in den Lepsiusdokumenten der Ruf nach einer neuen, auf den ersten Blick von Lepsius unabhängigen Edition des deutschen Archivmaterials erschallte. Diesen Bedarf hat neuerdings Wolfgang Gust mit einer fast siebenhundert Seiten starken Edition mehr oder minder gedeckt. Mehr oder minder deswegen, da auch diese neue Edition auf der Grundlage des Postulats eines in seiner Faktizität zweifelsfreien Genozids vorgenommen und dementsprechend selektiv gestaltet wurde. (Zitat aus Özgönül S. 25)

Özgönül kritisiert dieses selektive Vorgehen von Gust bei dessen Analyse der Manipulationen von Lepsius als unverständlich. Gust betitelt eine seiner Schriften schon als "Magisches Viereck", wobei Gust in dieser Schrift eben jenes Viereck erwähnt, das die in einem Brief selbsterklärte Lebensaufgabe von Lepsius war, nämlich: Entlastung Deutschlands, Belastung der Türkei, Reservebedürftigkeit des Amtes und Vertrauensgewinnung der Armenier[3]. Özgönül schreibt im Bezug auf Gusts Arbeitsweise bei dessen Analyse der Lepsius -Manipulationen: Wie man sich trotz dessen auf eine beim wahrsten Sinne des Wortes - zweidimensionale Analyse hinsichtlich der Manipulationsmotive des Lepsius fokussieren kann, welche sich auf die Motive "Entlastung Deutschlands" sowie "Reservebedürftigkeit des Amtes" beschränkt, ist offen gesagt ein Rätsel. (Zitat Özgönül S. 119)

Auf der großen dreitägigen Konferenz Neue Ansätze in den türkisch-armenischen Beziehungen (2006) in Istanbul[4], auf der neben Gegnern und Infragestellern der Genozid-Auffassung auch drei Wissenschaftler, die die Ereignisse klar als Genozid klassifizieren teilnahmen, trat Özgönül als zweiter Historiker (nach Wolfgang Gust) in der Geschichte der Genozidforschung auf, der die deutschen Originaldokumente des Auswärtigen Amtes mit den Versionen in der Quellenedition verglichen hat, die 1919 von Johannes Lepsius veröffentlicht wurde, und als erster Historiker, der die pro-armenischen Manipulationen thematisiert hat. (Gust hatte nur die pro-deutschen Manipulationen thematisiert.) Ara Sarafian, einer der gegenwärtigen Genozidverfechter, sagte während der Konferenz den türkischen Historikern zu, in Zukunft gemeinsame Projekte zu machen. Hilmar Kaiser, ein weiterer Genozid-Verfechter auf der Konferenz, hat Özgönüls Thesen nicht widersprochen.

Boris Kalnoky sprach im März 2006 in der deutschen Tageszeitung Die Welt von einer möglichen "Trendwende in der Debatte über den Genozid an den Armeniern", die Özgönüls Buch herbeiführen könne, wenn es einer kritischen Prüfung standhalte.[2] und nannte es als wohl das beste Werk in deutscher Sprache, das die türkischen Argumente synoptisch zusammenfaßt[3].

Tessa Hofmann und Wolfgang Gust sprachen sich bereits kurz nach der Konferenz massiv gegen die Thesen Özgönüls aus. Gust kritisiert dessen Kernthesen in der Zeitschrift Armenisch-Deutsche Korrespondenz als wissenschaftlich unhaltbar.[4]. Er führt an, dass die von Özgönül vorgetragene Kritik an den durch Johannes Lepsius bekannt gewordenen Dokumenten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes zum Armenier-Genozid erstens unbegründet und zweitens noch nicht einmal durch eigene Quellenstudien untermauert sei. Özgönül werte Manipulationen in der von Lepsius 1919 herausgegebenen Dokumentensammlung, die seit der Neuedition sämtlicher Originaldokumente durch Wolfgang Gust 2005 sowohl als Buch[5] als auch im Internet[6] für jedermann nachvollziehbar sind, als Beleg für die Fälschung historischer Zeugnisse; er lasse dabei außer Acht, dass die Augenzeugenberichte über die Deportationen und Massaker, auf die sich die deutschen Konsuln im (mit Deutschland kriegsverbündeten) Osmanischen Reich in ihrer internen Korrespondenz mit der deutschen Botschaft in Konstantinopel beziehen, die den wichtigsten Teil der Dokumentensammlung ausmachen, von Lepsius in keiner Weise beeinflusst sein könnten, da dieser nach Kriegsbeginn keine direkte Verbindung mehr zu den Orten des Geschehens gehabt habe. Özgönüls Versuch, Lepsius als Schlüsselfigur der Orientpolitik des Deutschen Kaiserreiches aufzubauen, der während des Völkermordgeschehens Verbindungen ins Innere des Osmanischen Reiches hinein gehabt habe, erscheint in der kritischen Betrachtung von Gust, der Lepsius' Rolle unter bestimmten Aspekten selbst problematisiert hat[7], als abwegig.

Darüber hinaus hat Wolfgang Gust zugesagt, den "Assistenten von Özgönül zu spielen", indem er in seinem Internetportal[5] die Telegramme des Auswärtigen Amtes so umbenennen wird, wie Özgönül sie in seinem Buch genannt hat.Seite 39 Özgönül kritisiert in seinem Buch (S. 26), dass Gust in seiner Quellenedition unverständliche Quellverweise auf die Originaldokumente des AA verwendet hat und dass eine solche Zitation faktisch eher einer Quellverweigerung gleicht, als dem Nachweis einer solchen. Gust verwendet in seiner Quellenedition sogenannte "R"-Nummern als Verweise. Eine "R"-Nummer fasst drei bis fünf Mikrofiche-Nummern zusammen. Es ist demnach keine Seltenheit, dass ein Verweis auf eine "R"-Nummer ein Verweis auf bis zu 500 Seiten AA-Dokumente ist. (Eine Mikrofiche-Nr. umfasst in der Regel 98 Seiten). Özgönül gibt in seinem Buch dagegen die exakte Mikrofiche-Nummer als Verweis an, so wie sie in den Originaldokumenten des Auswärtigen Amts vergeben sind.

Tessa Hofman hat sich dagegen nicht mehr gemeldet. Sie hatte sich kurz nach der Nachricht über die Konferenz im WDR zu Wort gemeldet und das Werk "als alten Hut" bezeichnet. Sie hat dann allerdings zugegeben, das Buch noch gar nicht gelesen zu haben. Seitdem hat sie zu dem Buch nicht mehr Stellung genommen. [6]

Der Turkologe und Historiker Hans-Lukas Kieser von den Universitäten Bamberg und Zürich warf Özgönül ein folgenschweres gravierendes Fehlurteil vor. Er wies darauf hin "dass der Hauptbefund des Vergleiches zwischen Originaldokumenten und der Lepsiusausgabe von Özgönül übergangen wird, nämlich derjenige, dass die Veränderungen zum allergrößten Teil vom Auswärtigen Amt vorgenommen wurden", das daran interessiert gewsen sei, die deutsche Mitverantwortung am Völkermord zu verwischen. "Insofern irrt sich Özgönül schlicht im Adressaten". Außerdem gebe es im Gegensatz zu Özgönüls Behauptungen zahlreiche von einander unabhängige Primärquellen für die Vernichtung der Armenier. [1]

Wolfgang Gust und Tessa Hofmann haben bezweifelt, dass es Özgönül, der die bekannten Tatsachen des Völkermordes an den Armeniern formal nicht abstreitet, wirklich um seriöse wissenschaftliche Arbeit gehe. Özgönüls Meinung nach ist dieses Kapitel der osmanischen Geschichte noch zu wenig erforscht, um eine abschließende Beurteilung darüber zu ermöglichen, inwieweit die Bezeichnung der zweifelsohne für die Armenier vernichtenden Geschehnisse als Völkermord historisch haltbar ist. In diesem Zusammenhang versucht Özgönül mit seiner Hinterfragung der Lepsius-Dokumente, Zweifel daran aufzuwerfen, dass das Thema aus historisch-kritischer Sicht tatsächlich bereits eindeutig einzuordnen ist.

Özgönül dagegen bezweifelt, ob es Tessa Hofmann und Gust wirklich um wissenschaftliche Arbeit geht. Oben wurde schon erwähnt, wie Özgönül Gusts selektives Vorgehen bei dessen Arbeit rätselhaft findet und kritisiert. Tessa Hofmann wird von Özgönül dagegen weitaus härter kritisiert. Schon in der Einleitung (s. Özgönül Seite 31f.) wird das Buchcover von Tessa Hofmanns 1980 erschienenem Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht - Der Prozeß Talaat Pascha exemplarisch behandelt, das eine Schädelpyramide aufzeigt und in Hofmanns Buch mit den Worten Türkische Barbarei: Eine Schädelpyramide in Westarmenien 1916/17 beschrieben ist. Es wurde später allerdings durch Prof. Türkkaya Ataöv nachgewiesen, dass es sich dabei um das Ölgemälde Apotheose des Kriegs aus dem Jahre 1871 vom russischen Maler Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin handelt und heute in der berühmten Tretjakow-Galerie in Moskau aushängt.

Özgönül versucht hauptsächlich durch simple Abgleichung mit den Originaldokumenten des Auswärtigen Amts Berlin die Behauptung aufzustellen, dass sich durch mehrere Manipulationen und selektive Vorgangsweisen seitens der radikalsten Genozidverfechter mittlerweile ein Mythos vom Völkermord in den Köpfen festgesetzt hat, obwohl die wissenschaftliche Beweislage aus seiner Sicht längst nicht so eindeutig ist. Özgönül behauptet, dass es besonders schwer ist, gegen Mythen anzukämpfen, da Mythen auch einen Teil der Identität eines jeden Volkes ausmachen und die radikalsten Genozidverfechter zu weiteren selektiven Vorgehensweisen verleiten - auch unbewusst.

Selbst Franz Werfels Klassiker Die vierzig Tage des Musa Dagh kommt dabei in seiner Rolle als mythosbildendes Element nicht zu kurz (s. Özgönül Seite 28f.). Özgönül vermutet, dass selbst für den berühmten Satz in Werfels Roman La question arménienne n'existe pas (de: Die armenische Frage existiert nicht.), den im Roman Talat Pascha in der Zuversicht sagt, mit diesem Satz im Herbst schon all diesen Leuten mit der größten Aufrichtigkeit antworten zu können, ein Nachweis in den Originaldokumenten des AA zu finden ist, wonach dieser Satz anscheinend tatsächlich von Talat Pascha gesagt worden ist, allerdings in genau gegensätzlicher Bedeutung und mit einem anderen Wort im Original. In einem Bericht vom deutschen Botschafter, Hohenlohe-Langenburg, vom 4. September 1915 aus Istanbul nach Berlin ist folgendes zu lesen: Talaat Bey übergab mir am 2. d. M. die in Abschrift beigefügte deutsche Uebersetzung von verschiedenen telegraphischen Befehlen, die er in Sachen der Armenierverfolgungen an die in Betracht kommenden Provinzialbehörden gerichtet hat. Er wollte hiermit den Beweis liefern, daß die Zentralregierung ernstlich bemüht ist, den im Innern vorgekommenen Ausschreitungen gegen die Armenier ein Ende zu machen und für die Verpflegung der Ausgewiesenen auf dem Transporte Sorge zu tragen. Mit Bezug hierauf hatte Talaat Bey einige Tage vorher mir gegenüber die Äußerung getan: La question arménienne n'existe plus (de: Die armenische Frage existiert nicht mehr.)(vgl. Mikrofiche-Nr. 7126)

Eine Sichtweise auf Mythenbildung, die der Vorwortautor Dr. Udo Witzens teilt.

Quellen

  1. a b Benedict Maria Mülder: Genozid in Armenien?. Artikel für die 3sat-Sendung Kulturzeit, 24. April 2006
  2. Boris Kalnoky: 1634 türkische Offiziere zum Tode verurteilt In: Die Welt, 20. März 2006
  3. Boris Kalnoky: Kunst zwischen vier Fronten. In: Die Welt, 22. März 2006
  4. Wolfgang Gust: Deutsche Verfassung auf den Kopf gestellt. In: Armenisch-Deutsche Korrespondenz, Jg. 2006, Heft 1 & 2 = Nr. 131/132. PDF-Version
  5. Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Verlag zu Klampen, 2005, ISBN 3-934920-59-4
  6. http://www.armenocide.de
  7. Wolfgang Gust: Magisches Viereck. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien

Siehe auch

Literatur


Veröffentlichungen