Codex Sangallensis 381
Der Codex Sangallensis 381 (Signatur Cod. Sang. 381) ist eine frühmittelalterliche Musikhandschrift, die ursprünglich im Kloster St. Gallen produziert wurde und aktuell in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrt wird. Bekannt ist die Handschrift für ihre ausführlichen Sammlungen von Tropen, Versus und Sequenzen. Zusammen mit dem Cod. Sang. 484 trägt diese Handschrift zu einer der umfangreichsten Sammlungen dieser Kompositionen des ostfränkischen Reichs bei und spielt deshalb in der Musikgeschichte eine zentrale Rolle.
Beschreibung
Mit einem Flächenmass von 14.5cm x 11.5cm handelt es sich hierbei um eine Handschrift kleineren Formates. Der Inhalt des Codex beläuft sich auf 500 Seiten, wofür Pergament als Schreibmaterial verwendet wurde. Löcher im Pergament lassen darauf schliessen, dass hierfür hauptsächlich die Ränder von Schaf- und Ziegenhäuten verwendet wurden. Die Handschrift wurde im 15. Jahrhundert neu gebunden und 1992 restauriert. Der Einband besteht aus zwei Buchenplatten mit dunkelbraunem Leder über dem Buchrücken. Die Autorschaft des grössten Teils der Handschrift wird auf einen Hauptschreiber und -sammler des 10. Jahrhunderts zurückgeführt, wobei mehrere spätere Schreiber bis im 13. Jahrhundert Ergänzungen und Korrekturen vornahmen.
Geschichte
Eingeordnet werden die Ursprünge der Handschrift in einen grösseren Prozess der Tropierung und der Erweiterung der ursprünglich römischen Liturgie, die nicht nur durch die drei einflussreichen Figuren Tuotilo, Notker und Ratpert am Kloster St. Gallen, sondern auch im grösseren Kontext des gesamten Frankenreiches stattgefunden hatte.
Datiert wird die Produktion der Handschrift auf das zweite Viertel des 10. Jahrhunderts. Aufgrund der Schreiberhand wird vermutet, dass es sich beim Hauptschreiber um einen Mönch des Klosters namens «Salomon» handelte, der früher bereits den Cod. Sang. 484, eine frühere Tropensammlung, zusammengestellt hatte. Gestützt wird diese Annahme auf einer zwischen 926-928 datierten und mit «Salomon» unterzeichneten Urkunde, deren Schreiberhand mit der Hand des Codex identifiziert werden konnte. In der Fachliteratur herrschen dennoch restliche Zweifel bezüglich des Namens des Autors, weshalb in den meisten Publikationen die neutrale Bezeichnung Σ (Sigma) verwendet wird.
Beide Handschriften können daher in einen grösseren Prozess der Tropensammlung eingeordnet werden, der zur gleichen Zeit am Kloster stattgefunden hat. Die Tatsache, dass der Cod. Sang. 484 in fast ganzem Umfang als Teil des Cod. Sang. 381 wieder zum Vorschein kommt, deutet auf einen Abschreibungsprozess hin, der der Produktion der beiden Handschriften zugrunde liegt. Es wird vermutet, dass der Autor des weitaus weniger korrigierten Cod. Sang. 381 sich bei seiner früheren Kreation bediente und den durch häufige Rasuren, Materialverschiebungen und -einfügungen gekennzeichneten Cod. Sang. 484 als Vorlage benutzte. Die kleine und schlichte Ausführung der Handschrift lässt vermuten, dass der Codex für einen Kantor bestimmt war, dessen Rolle während der Messe der eines Vorsängers nahekam.
Im Codex enthalten sind Gesänge, die für spezielle Anlässe komponiert und demnach auch nur einmalig gesungen wurden. Die meisten Gesänge wurden jedoch in der liturgischen Praxis weiter bis ins 13. Jahrhundert verwendet. Enthalten ist zudem der gesamte Bestand von Notkers Liber Ymnorum, bestehend aus ca. 40 Sequenzen, die dem Bischof Liutward von Vercelli gewidmet waren.
Aufbau
Die Handschrift beginnt mit einer Sequenz, einer Litanei und Laudes auf den ersten Seiten. Auf den Seiten 6-9 wurde eine Kopie der «Epistola Notkeri ad Lantbertum» (Ein Brief Notkers an Lantbert) eingefügt, in welcher die Bedeutung der sogenannten «Litterae Significativae» erklärt wird. Es handelt sich dabei um schriftliche Ergänzungen zur normalen Neumennotation in Form von Buchstaben, die weitere Auskünfte zu Melodieverlauf, Rhythmus und Tongebung geben.
Die Seiten 10-12 enthalten ein mit «De Sono Singularum Litterarum Martiani» (Über den Klang einzelner Buchstaben des Martianus) betiteltes Fragment aus Martianus Capellas «De Nuptiis Philologiae et Mercurii». Beschrieben werden darin Artikulationstechniken für die korrekte Betonung der Buchstaben des lateinischen (und teilweise auch des griechischen und deutschen) Alphabets. Die restliche Handschrift enthält eine Sammlung von Versen, Tropen und Sequenzen.
Gliederung
Inhalt | Seitenangabe | Beschreibung |
---|---|---|
Ordinariumsgesänge mit griechischem Text | 13-22 | Gesänge, die als Teil des Ordinariums den unveränderlichen Teil der Messe darstellten |
Versus | 23-50 | Gibt einen Teil der insgesamt 23 an dem Kloster gedichteten Versen wieder, die in der Handschrift niedergeschrieben wurden. Hauptsächlich verwendet bei spezifischen Festen. Der grösste Teil der am Kloster komponierten Versen wird Ratpert zugeschrieben |
Verse zu Introitus und Communio | 50-141 | Verse zur Eröffnung der Messe (Introitus) sowie zur Kommunion (Communio, Teil des Propriums) |
Versus | 142-166 | |
Computus zum Osterdatum | 167 | Die Seiten enthalten eine Anleitung zur Berechnung des Osterdatums zwischen den Jahren 830-1008 |
Propriumstropen | 195-294 | Entsprechen in Anordnung und Anzahl grösstenteils den Propriumstropen des Cod. Sang. 484. Als Teil des Propriums waren diese Tropen ebenfalls für spezifische Feste bestimmt. Die Dichtung der Tropen am Kloster St. Gallen wird grösstenteils Tuotilo zugeschrieben |
Ordinariumsgesänge und -tropen | 295-324 | Entsprechen ebenfalls den gesammelten Ordinariumsgesängen des Cod. Sang. 484. Als Teil des Ordinariums waren diese Gesänge und Tropen Teil der unveränderlichen Abschnitte der Messe |
Sequentiar | 326-498 | Beifügungen in Prosaform |
Rezeption
Vor allem im sogenannten goldenen Zeitalter des Klosters zu Zeiten Notkers, Ratperts und Tuotilos war St. Gallen für die Ingenuität und Qualität der produzierten Dichtungen bekannt. Dementsprechend erfreuten sich einzelne Tropen einer sehr breiten Rezeption im europäischen Raum: Die Tropen «Hodie cantandus est» sowie «Puer natus est» von Tuotilo, zum Beispiel, finden sich in über 100 Handschriften Europas wieder.[1] Konzentriert sind diese Kopien vor allem im deutschsprachigen Raum; allerdings wurden auch eine nicht unbedeutende Anzahl an Kopien in Südfrankreich, im Elsass und in Norditalien nachgewiesen. Auch weitere Tropen tauchen in mehreren Handschriften in diesen Territorien auf, jedoch nicht mit derselben Häufigkeit.
Literatur
- Arlt, Wulf/Ranking, Susan: Codices 484 & 381. Band 1: Kommentar/Commentary, Winterthur 1996.
- Arlt, Wulf/Ranking, Susan: Codices 484 & 381. Band 2: Codex Sangallensis 484, Winterthur 1996.
- Hild, Elaine Stratton: Verse, Music, and Notation: Observations on Settings of Poetry in Sankt Gallen’s Ninth- and Tenth-Century Manuscripts, Doktorarbeit, University of Colorado, Ann Arbor 2014.
- Hospenthal, Cristina: Tropen zum Ordinarium Missae in St. Gallen. Untersuchungen zu den Beständen in den Handschriften St. Gallen, Stiftsbibliothek 381, 484, 376, 378, 380 und 382, Bern 2010 (Publikationen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 52).
- Rankin, Susan: Notker und Tuotilo: Schöpferische Gestalten in einer Neuen Zeit, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 11, 1991, S. 17-42.
- von Scarpatetti, Beat Matthias: Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Wiesbaden 2008 (Codices 450-546: Liturgica, Libri Precum, Deutsche Gebetsbücher, Spiritualia, Musikhandschriften 9.-16. Jahrhundert). Online: <http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/csg/0484/>, Stand: 02.04.2022.
- Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 484, Codex Sangallensis 484
Weblinks
- https://www.e-codices.unifr.ch/de - Schweizer Handschriftensammlung
- https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0484 - Digitalisiertes Facsimile des Cod. Sang. 484 inkl. Standardbeschreibung
- https://www.stiftsbezirk.ch/de/stiftsbibliothek/recherche/ - Rechercheportal der Stiftsbibliothek St. Gallen