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Scharia

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Die Schari'a (arabisch شريعة scharī'a, «deutlicher, gebahnter Weg», «Göttliches Gesetz», «Ritus»; auch: شرع schar`, ناموس namus), das islamische Recht, mit dem sich u.a. die islamische Rechtswissenschaft (Fiqh) befasst. In kasuistischem Aufbau bestimmt sie die Rechte und Pflichten des Menschen Gott, den Menschen, anderen Lebewesen und der Natur gegenüber. Wegen der islamischen Interpretationsfreiheit des Korans werden manchmal einzelne Fragen strittig diskutiert. Die Pflege und Entwicklung der Schari'a obliegt der islamischen Jurisprudenz (فقه fiqh).

Der Begriff Schari'a ist keineswegs eine islamische Erfindung; während das Wort im Koran ein einziges Mal vorkommt

Alsdann setzten Wir dich über ein Gesetz betreffs der Sache (der Religion).
Drum folge ihm und folge nicht den Gelüsten der Unwissenden.
(Sure 45, Vers 18, Übersetzung von Max Henning), 

ist es in der Bibel - sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament - viel häufiger. Oft kommt es in den Kombinationen «das Gesetz und die Profeten» oder «das Gesetz Moses» vor. In griechischen Ausgaben der Bibel wird νόμος (nomos) verwendet, vergleichbar mit namus in einigen arabischen Ausgaben, in anderen sogar das synonyme arabische Wort scharia [1]. Sowohl das islamische als auch das biblische Recht basieren auf die Zehn Gebote.

Die Wurzeln der Rechtswissenschaft

Die vier sunnitischen Rechtsschulen kennen 4 «Wurzeln der Rechtswissenschaft» (اصول الفقه usūl al-fiqh), von denen allerdings nur die ersten beiden den Charakter von Quellen haben:

  1. Der Koran ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle. Allerdings haben nur etwa 500 Verse (ca. 8%) juristischen Bezug, weshalb schon früh die zweite Rechtsquelle hinzugezogen wurde.
  2. Die Sunna des Religionsstifters Muhammad, sein gelebtes Vorbild und seine Aussprüche, stellt den Großteil des Materials der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna wird in Hadithen überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Muhammads eskalierende «Hadith-Inflation» führte im 9. Jahrhundert zur Kodifizierung der «authentischen» Hadithe in den «Sechs Büchern» (الكتب الستة al-kutub as-sitta), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen.
  3. Qiyas, der «Analogieschluss», erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), dass strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, z.B. in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position die allerdings von keinem Rechtsgelehrten unterstützt wird.
  4. Idschma, der Konsens, meint nicht den Konsens der gesamten muslimischen Gemeinde (umma), sondern den der Rechtsgelehrten (consensus doctorum). Ist der Konsens erst einmal erreicht, was daran erkannt wird, dass kein Einspruch eines anerkannten Rechtsgelehrten vorliegt, gilt ein Rechtsproblem in der Orthodoxie als endgültig abgeschlossen. Das hat historisch zu einer Stabilisierung der Schari'a geführt, die allerdings von Manchen auch als «Erstarrung» bezeichnet wird.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:

  • Das Gewohnheitsrecht (عرف urf oder عادة āda). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den idschma legitimiert. Das medinensische Vertrag spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken der eroberten Gebiete.
  • Die «Entscheidung nach eigenem Urteil» (رأى ra'y) des Juristen, dort wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten, und ist heute dem Mufti als Fatwa vorbehalten. Anderen bleibt nur der qiyas.
  • Der Idschtihad (اجتهاد idschtihād), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt, bis im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen um das Jahr 300 der Hidschra, das «Tor des Idschtihad» als geschlossen galt. In der Schia wird er weiterhin eingesetzt, die formalen Anforderungen an die Ausbildung des entsprechend befähigten Theologen sind jedoch sehr hoch. In jüngerer Zeit wurde von Seiten von Reformbewegungen (z.B. der Salafiya, aber auch liberalen Muslimen – allerdings mit entgegengesetzten Zielen) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert, bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.

Handlungen des Menschen

Die fünf Kategorien

Die Schari'a teilt die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien ein, die wie angegeben bewertet werden:

  1. Pflicht (فرض fard oder واجب wādschib) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين fard al-ayn), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية fard al-kifāya «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة salat), in die zweite die Festgebete.
  2. Empfehlenswert (مندوب mandūb oder مستحب mustahabb oder سنة sunna) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen nicht bestraft
  3. Erlaubt (مباح mubāh) – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft
  4. Verwerflich (مكروه makrūh) – das Tun wird nicht bestraft, das Unterlassen belohnt
  5. Verboten (حرام harām) – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt

Wenn hier von «belohnt» und «bestraft» gesprochen wird, so sind damit nur teilweise juristische Folgen gemeint, denn Pflichtverstöße gegenüber Gott lässt das islamische Recht in der Regel ungesühnt, da Muslime von einer Ahndung dieser Vergehen im «Jenseits» ausgehen.

Elemente einer Handlung

Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان arkān) gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية nīya). Ob eine Hanlung gültig ist (صحيح sahīh) oder nichtig (باطل bātil), hängt mit dem Vorhandensein der Elemente der Handlung zusammen.

Teilbereiche der Schari'a

Bekleidungsvorschriften

Jeweils für Männer und für Frauen gelten verschiedene Richtlinien bezüglich ihres Äußeren. So soll eine Frau ihre körperlichen Reize vor Fremden bedecken. Für ältere, nicht mehr heiratsfähige Frauen gelten erleichterte Richtlinien (Koran Sure 24, Vers 60). Männer sollen immer mindestens den Bereich zwischen (und inklusive) Bauchnabel und Knie bedeckt halten und Bart und Haare pflegen.

Die verschiedenen Formen der Schleier bei der Frau beruhen auf verschiedenen Lebensumständen und Traditionen. Die Vollverschleierung der Frau war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in islamischen Ländern vor allem ein städtisches Phänomen, auf dem Land hingegen wurde die Art der Kopfbedeckung von praktischen und traditionellen Gesichtspunkten bestimmt.

Spätestens mit dem Kopftuchverbot durch Atatürk in der Türkei wurde aus der Marginalie ein Politikum und seit dem Kopftuchstreit wird die Debatte in Deutschland recht emotional geführt.

Als koranische Begründung für den Schleier gelten Sure 24, Vers 31 und Sure 33, Vers 59.

Ehe

Islamische Ehen werden durch einen Ehevertrag (عقد النكاح aqd an-nikāh) zwischen einem gesetzlichen Vertreter (ولى walī) der Braut, der mit den Zeugen die Einwilligung der Braut einholen muß, was jedoch nich für die Schafiiten Rechtschule gilt, die Verheiratung einer Jungfrau gegen ihren Willen erlaubt, und dem Bräutigam geschlossen. Scheidung ist für dem Mann leicht möglich, für die Frau jedoch kaum. Männer können bis zu vier Frauen gleichzeitig heiraten (Koran Sure 4, Vers 3f.), müssen diese dann aber alle gerecht behandeln oder sich mit einer Frau begnügen. Bei der Hochzeit wird die Brautgabe («Morgengabe» مهر mahr oder صداق sadāq) vom Bräutigam an die Braut fällig. Nach einer Scheidung gelten auch Vorschriften zur Sicherung des Unterhalts der Frau (Alimente نفقة "Nafaqa"). Eine Besonderheit sind extrem kurze Ehen, die in ihrer Realität der [[Prostitution ähneln (Morgengabe als Lohn für die Frau, Dauer oft nur eine Nacht)

Die Frau ist dem Mann in allen Bereichen untergeordnet, kann allerdings mit ihrem eigenen Geld wirtschaftich selbstständig handeln. Nur Männer sind zum Unterhalt verpflichtet, der allerdings nicht eingeklagt werden kann. Eine maßvolle körperliche Züchtigung der Frauen durch ihre Ehemänner ist durch die Schari'a gedeckt.

Die Polygynie (eine Form der Mehrehe) ist in Tunesien und der Türkei gesetzlich verboten.

Erbrecht

Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen).

Im Vergleich mit dem deutschen Erbrecht ist auffallend, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt.

Internationales Recht

Kriegsrecht

Das islamische Kriegsrecht wird im Artikel Dschihad behandelt. Der Dschihad ist eine Gemeinschaftspflicht und wird nur für Einwohner bedrohter Gegenden zur persönlichen Pflicht.

Religionsfreiheit

Die Glaubensfreiheit ist in der Scharia nicht gegeben: Muslime, die den Glauben wechseln wollen, werden mit dem Tode bestraft. Polytheisten werden nicht geduldet, sondern vor die Wahl Konversion zum Islam oder Tod gestellt. Christen und Juden dürfen nicht zu nicht-monotheistischen Religionen, etwa dem Buddhismus, übertreten.

Siehe auch: Aleviten, Ibaditen, Ismailiten, Kufr, Schirk

Strafrecht

Datei:Jeddah02.jpg
Amputation bei einem Dieb, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts

Strafrecht wird unter anderem in die Hudud geregelt ("Hadd" حد "Grenzlinie" (zwischen Erlaubtem und Verbotenem), pl. حدود). Davon betroffen sind u.a. Alkoholkonsum, Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl, Unzucht (زنا zina) und Verleumdung. Die vorgesehenen Sanktionen reichen laut Koran von Rüge über Peitschenhiebe bis hin zur Todesstrafe. Verleumdung betreffs Unzucht wird mit 40–80 Peitschenhieben bestraft (allerdings kann der Geschädigte auf die Bestrafung verzichten), ebenso der Alkoholkonsum. Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird mit 100 Peitschenhiebe für beide Beteiligte bestraft. Bei bereits verheirateten schreibt der Koran ein lebenslanger Hausarrest vor (Sure 4, Vers 15). Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für dieses Vergehen vier Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständniss-Widerrufs hinzuweisen hat. Bei drohender Todesstrafe haben die Angehörigen des Opfers die Möglichkeit, sich stattdessen für eine Entschädigungszahlung zu entscheiden. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische Blutrache (ثأر tha'r) und verhindert deren Eskalation.

Wirtschaft

Für den Kapitalverkehr sind Wucherzinsen verboten (u.a. Sure 2, Vers 278). Die einzige im Koran vorgeschriebene Steuer und gleichzeitig eine der «Säulen des Islam» ist die «Reinigungssteuer» (زكاة zakāt), eine Mischung aus Einkommens- und Vermögenssteuer, die nur bei 2,5% liegt. Ihre Verwendung ist im Koran (Sure 9, Vers 60) festgelegt. Schon in der ersten Expansionsphase reichte sie zur Deckung der Staatsausgaben (wozu sie auch nicht gedacht ist) nicht mehr aus und wurde durch weitere Abgabenarten (z.B. die Grundsteuer خراج charādsch) ergänzt.

Zivilrecht

Geltungsbereich

Auch in der Scharia gilt: Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. So unterscheiden einige Vorschriften zwischen Mann und Frau oder zwischen Minderjährige und Erwachsene. Die kultischen Vorschriften gelten nur für Muslime, Angehörige anderer Religionen (siehe Dhimmi) sind davon nicht betroffen, allerdings gelten für sie spezielle Regelungen.

Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف mukallaf) ist, steht jeweils genau fest. Meist muss man mündig sein, d.h. im Vollbesitz der geistigen Kräfte (عاقل `āqil) und volljährig (بالغ bāligh) sein, in vielen Fällen genügt es «differenzierend» bzw. «erkennend» (مميز mumayyiz), d.h. eingeschränkt rechtsfähig, zu sein.

In islamischen Staaten der Gegenwart

Datei:Jeddah04.jpg
Öffentliche Enthauptung, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts

Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» 1990 ist die Schari'a wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der Türkei, über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich (Tunesien) bis zur fast vollständigen Geltung (Sudan). Zuweilen gilt die Schari'a nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria). Zur Zeit ist die Schari'a geltendes Recht in Nigeria (einige Bundesstaaten), Iran, Saudi-Arabien, Bangladesch, Afghanistan, Marokko, Sudan, Katar und Pakistan.

Literatur

  • Richard Hartmann: Die Religion des Islam. Darmstadt 1987. ISBN 3-534-01664-4
  • Said Ramadan: Das islamische Recht: Theorie und Praxis. Wiesbaden 1980. ISBN 3-447-02078-4
  • Jusuf al-Qaradawi, Erlaubtes und Verbotenes im Islam, SKD Bavaria, München 1989, ISBN 3-926575-12-3
  • Joachim Gnilka, Bibel und Koran, Was sie verbindet, was sie trennt. 3. Auflage, Freiburg 2004, ISBN 3-451-28316-6


Siehe auch

Liste islamischer Begriffe auf Arabisch, Strafgesetz der Islamischen Republik Iran

Diskussion weiterer Teilbereiche der Schari'a, Geltung der Schari'a in einzelnen Ländern