Hungerplan
Hungerplan (auch Backe-Plan) ist die Bezeichnung einiger Historiker für eine Theorie, nach der die nationalsozialistische Führung des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkriegs gezielt wirtschaftliche Maßnahmen zur Aushungerung und Vernichtung der russischen Zivilbevölkerung ergriffen habe. Maßgeblicher Vertreter dieser Hypothese ist Christian Gerlach, dessen Thesen unter Fachhistorikern jedoch umstritten sind.
Der „Hungerplan“
Den Ersten Weltkrieg hatte Deutschland unter anderem wegen des Mangels an Rohstoffen und Nahrungsmitteln verloren. Im Zweiten Weltkrieg stand man vor einer ähnlichen Situation. Trotz der aufwendigen Erzeugungsschlachten der deutschen Landwirtschaft genügte die Agrarproduktion des Reiches nicht zur Selbstversorgung. Am 14. Februar 1940 erklärte der Reichsminister für Ernährung Herbert Backe im Generalrat des Vierjahresplans, es drohe der „Zusammenbruch der Ernährungwirtschaft im Laufe des zweiten Kriegsjahres, wie im Jahre 1918“[1] Nach der Hungerplan-These sollte das deutsche Ernährungsproblem mit dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion gelöst werden. Da aber Berechnungen der Landwirtschaftsführung zeigten, dass größere Überschüsse in Russland nicht vorhanden waren, habe man einen „Hungerplan“ für die sowjetische Bevölkerung entworfen, um ein Höchstmaß an Nahrungsmitteln aus dem Land zu pressen und gleichzeitig die nationalsozialistische Vernichtungspolitk im Osten voran zu treiben. Nach Gerlachs These war die nationalsozialistische Wirtschaftsführung im Osten ein Instrument der Massenvernichtung von Zivilisten. Als Beweise führt Gerlach im wesentlichen folgende Belege an:
Der Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg erklärte am 20. Juli 1941 in einer Rede:
- "Die deutsche Volksernährung steht in diesen Jahren zweifellos an der Spitze der deutschen Forderungen im Osten, und hier werden die Südgebiete und Nordkaukasien einen Ausgleich für die deutsche Volksernährung zu schaffen haben. Wir sehen durchaus nicht die Verpflichtung ein, aus diesen Überschussgebieten das russische Volk mit zu ernähren. Wir wissen, dass das eine harte Notwendigkeit ist, die außerhalb des Gefühls steht. Zweifellos wird eine sehr umfangreiche Evakuierung notwendig sein und dem Russentum werden sicher sehr schwere Jahre bevorstehen."[2]
In den Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft“ vom 23.Mai 1941 heißt es:
- „Damit ist das wesentliche des Problems gekennzeichnet. Die Überschüsse Russlands an Getreide werden entscheidend nicht durch die Höhe der Ernte, sondern durch die Höhe des Selbstverbrauchs bestimmt. […] Diese Tatsache ist der Schlüsselpunkt, auf dem unsere Maßnahmen und unsere Wirtschaftspolitik aufzubauen haben. Denn: […] Da Deutschland bzw. Europa unter allen Umständen Überschüsse braucht, muß der Konsum also entsprechend herabgedrückt werden. […] Die Bevölkerung dieser Gebiete, insbesondere die Bevölkerung der Städte, wird größter Hungersnot entgegensehen müssen. […] Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.“[3]
Nach Angaben von Christian Gerlach genehmigte Hitler den Plan. Auch von der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Reichsbank sei der Plan geprüft und für grundsätzlich gut befunden worden. Hermann Göring sagte in einer Unterhaltung mit dem italienischen Außenminister Ciano:
- "In diesem Jahr werden in Russland zwischen 20 und 30 Millionen Menschen verhungern. Und vielleicht ist das gut so, denn gewisse Völker müssen dezimiert werden."[4]
Nach einer Berechnung des Historikers Götz Aly raubte Deutschland in der Sowjetunion (einschließlich dem was die Wehrmacht verbrauchte) von 1941-1943 4.372.339 Tonnen Getreide, 495 643 Tonnen Fleisch, 723 450 Tonnen Speiseöle und Fette und 1.895.775 Tonnen Kartoffeln. Umgerechnet nach Nährwert waren das 106.268.262 Getreideeinheiten. Da ein Mensch zum Überleben 2,5 Getreideeinheiten pro Jahr braucht wurde also rein rechnerisch 21,2 Millionen Menschen die Ernährungsgrundlage entzogen.
Nach neuesten Angaben starben im Zweiten Weltkrieg 17 Millionen sowjetische Zivilisten, davon sind nach Gerlachs These schätzungsweise 9 Millionen durch den deutschen Hungerplan ums Leben gekommen.
Kritik an der Hungerplanthese
Die Hungerplan-These ist umstritten und wird daher in der Fachliteratur über den Krieg in der Sowjetunion normalerweise nicht behandelt. Es steht fest, dass durch die wirtschaftliche Ausbeutung der sowjetischen Gebiete Millionen Menschen die Nahrungsmittelgrundlage entzogen wurde und dementsprechend viele Zivilisten verhungerten. Die meisten Historiker gehen allerdings nicht davon aus, dass es sich dabei um einen Beitrag zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Form eines gezielten Mordes an der unerwünschten slawischen Bevölkerung handelte. Stattdessen habe man die Bedürfnisse der deutschen Kriegswirtschaft in den Vordergrund gestellt und Verluste der russischen Bevölkerung dabei in Kauf genommen:"Über den voraussehbaren Hungertod von vielen Millionen Sowjetbürgern machte man sich weder im OKW noch in der Landwirtschaftsführung größere Gedanken."[5]
Wichtig ist auch, dass es nie zu einer Anklage im Laufe der Nürnberger Prozesse kam. Hermann Göring, dem Verantwortlichen für die wirtschaftlichen Pläne in den besetzten sowjetischen Gebieten, wurde das Protokoll von der Anklage vorgehalten. Er qualifizierte es als "Unsinn aus Referentenbesprechungen" ab, worin ihm das Gericht offenbar folgte, denn Göring wurde nicht wegen einer geplanten Ermordung der russischen Zivilbevölkerung verurteilt, sondern wegen einer geplanten "Ausplünderung" Russlands (Vgl. IMT, Bd. I, S. 317) Die Mordabsicht der Nationalsozialisten hat sich selbst dem Nürnberger Urteil nach nicht gegen die Bevölkerung als ganzes gerichtet.
Zwischen Januar 1940 und dem Angriff 1941 waren insgesamt 1.5 Millionen Tonnen Getreide aus der UdSSR an das Deutsche Reich geliefert worden (ca. 1 Mio. t. / Jahr). In einem weiteren Abkommen hatte sich die UdSSR bereits dazu verpflichtet diese Lieferung auf 2 Millionen Tonnen jährlich zu steigern.[6] Zwischen dem Angriff auf die UdSSR im Sommer 1941 und dem Ende des Jahres 1943 wurden aus den besetzten Ostgebieten 6.32 Millionen Tonnen Getreide an das Deutsche Reich und die Wehrmacht geliefert. Danach wurden weitere Lieferungen wegen der immer stärkeren Partisanentätigkeit praktisch unmöglich.[7] Das macht im Schnitt etwa 2.5 Millionen Tonnen geliefertes Getreide pro Jahr und es war damit pro Jahr nur 20% mehr als die sowjetischen Lieferungen nach Deutschland vor dem Krieg betragen sollten (Die Exportrate der UdSSR in der Vorkriegszeit betrug zeitweise bis zu 5.2 Millionen Tonnen.[8])
Die sowjetische Gesamtproduktion lag nach damaligen Veröffentlichungen bei mindestens 90 Millionen Tonnen (Im Jahr 1931 waren es 97.8 Millionen Tonnen, 1937 sogar 120.3 Millionen Tonnen.[9] Angesichts dieser Zahlen konnte die deutsche Führung davon ausgehen, dass der russische Staat neben den exportierten Mengen jährlich weitere 3.5 bis 5.3 Millionen Tonnen beiseite legen konnte. Insgesamt wären nach diesen Zahlen, die den Planungen in Berlin zugrunde lagen maximal bis zu 9.3 Millionen Tonnen Getreide aus der sowjetischen Produktion für Deutschland abzuzweigen gewesen, ohne dass dem russischen Verbraucher auch nur ein Pfund der Ernte zur Verwendung für seine Mahlzeiten Verlorenzugehen brauchte. "Der Reichsnährstand", so zitiert Christian Gerlach selbst, "schätzt den Zuschussbedarf Deutschlands und der von Deutschland beherrschten Gebiete auf 5 Mill. t."[10] In den "Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten" (auch "Grüne Mappe")wurden dann etwa 4.5 Millionen Tonnen Getreide als Ziel genannt, also etwa so viel, wie die UdSSR in Friedenszeiten maximal exportiert hatte(NGB Dok. NG-1409]. Als die Zahl von 4.5 Millionen Tonnen in die "Grüne Mappe" geschrieben wurde, hat deshalb niemand dadurch sein Einverständnis zu einem Massensterben durch Hunger gegeben, sondern nur eine erreichbare Zielmenge festgelegt, die von den wahrscheinlich bald eroberten Gebieten aller Voraussicht nach geliefert werden konnte.
Die Begründung eines Hungerplans ruht lediglich auf zwei Dokumenten: Dem Protokoll einer Staatssekretärssitzung vom 21.Mai 1941 und einem sehr langen Auszug aus den "wirtschaftspolitischen Richtlinien der Gruppe Landwirtschaft" vom 23.Mai 1941. Die Autoren beider Texte sind allerdings unbekannt. Desweiteren fanden sie keinen Eingang in die endgültigen "Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten" vom Juni 1941. Selbst Gerlach schreibt dies, allerdings nur in einer Fußnote.[11] Es handelt sich bei den Zitaten nicht um die Planungen der Wehrmachtführung, sondern um die Ideen eines unbekannten Autoren, dessen Zuverlässigkeit allein schon durch grobe Berechnungsfehler erschüttert wird. ("Wenn theoretisch der Verbrauch an Getreide und Kartoffeln (in Getreidewerten) von 250 auf 220 Kilogramm pro Kopf gesenkt werde, ergäben sich nach Rechnung des Stabsamts des Reichsbauernführers 8.7 Millionen Tonnen Überschüsse." Bei 30 Kilogramm Einsparung pro Kopf hätte die Bevölkerung der UdSSR 289 Millionen Menschen betragen müssen, um auf die berechnete Menge kommen zu können. Gezählt worden waren selbst in den optimistischen Zählungen von 1939 aber nur 170 Millionen.) Christian Gerlach rechnet dies ebenso wenig nach wie sein Zeuge. Es ist nicht leicht einzuschätzen, warum dieser Text produziert worden ist, ob er vielleicht nur eine Vorlage darstellt, die sich nach weiteren Recherchen als überholt herausgestellt hat. In jedem Fall ist es ein merkwürdiger Vorgang, den sachlich unrichtigen und in sich widersprüchlichen Text eines Unbekannten, der zudem noch aus nachvollziehbaren Gründen niemals Teil der offiziell erlassenen Richtlinien wurde, als Beweis für ein geplantes Verbrechen einer Institution wie der Wehrmacht heranzuziehen.
Der wichtigste Beweis für einen Hungerplan ist das Protokoll der sogenannten "Sitzung der Staatssekretäre". Es handelt sich bei diesem Dokument, das angeblich die Absicht der deutschen Führung wiedergeben soll, lediglich um einen Zettel, der im Rahmen eines Treffens nicht genannter „"Staatssekretäre" entstanden sein soll. Der Hintergrund des Dokumentes ist dementsprechend fragwürdig.
Zuletzt hat der Historiker Klaus Jochen Arnold die Hungerplan-These eingehend untersucht und konnte quellengesättigt nachweisen, dass von einer gezielten Massenvernichtung durch wirtschaftliche Ausbeutung, also einem Hungerplan, nicht die Rede sein kann.[12]
Anmerkungen
- ↑ Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspoltik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 60
- ↑ Rolf-Dieter Müller, Von der Wirtschaftsallianz zum kolonialen Ausbeutungskrieg in „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1983, Band 4, S. 153
- ↑ Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspoltik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 46 ff.
- ↑ Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in Russland, Düsseldorf 1958, S.133 f.
- ↑ Rolf-Dieter Müller: Von der Wirtschaftsallianz zum kolonialen Ausbeutungskrieg, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.4, Stuttgart 1983, S.149
- ↑ Vgl. Gerlach: Morde, S.62
- ↑ Helmut Krausnick: Die Truppe des Weltanschauungskrieges, München 1980, S.389
- ↑ Alan Bullock: Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1997, S.369
- ↑ Hermann Remmele: Die Sowjetunion, Hamburg/Berlin 1932, S.74
- ↑ Gerlach: Morde, S.67
- ↑ Gerlach: Morde, S.48
- ↑ Klaus Jochen Arnold: Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im "Unternehmen Barbarossa, Berlin 2004 (Zeitgeschichtliche Forschungen 23); vgl. dazu auch http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-191.
Literatur
- Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
- Klaus Jochen Arnold: Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im "Unternehmen Barbarossa", Berlin 2004 (Zeitgeschichtliche Forschungen 23).
- Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspoltik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
- Alex J. Kay: Exploitation, Resettlement, Mass Murder. Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940-1941, New York/Oxford 2006 (Studies on War and Genocide 10).
- Rolf-Dieter Müller: 'Von der Wirtschaftsallianz zum kolonialen Ausbeutungskrieg' in Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 4, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1983.