Zum Inhalt springen

Religionskritik

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 23. September 2006 um 05:18 Uhr durch Jesusfreund (Diskussion | Beiträge) (Weblinks). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Religionskritik bezeichnet die rationale Infragestellung von religiösen Glaubensaussagen, Konzepten und praktischen Erscheinungsformen. So wie es verschiedene Religionen, Ausdrucksformen innerhalb einer Religion und Religionsbegriffe gibt, so ist auch die Kritik daran historisch vielschichtig. Der Artikel stellt philosophische, naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, psychologische und theologische Kritikansätze in Vergangenheit und Gegenwart dar.

Die Kritik, die sich von außen gegen eine empirische Religion richtet, kann von innen auf verschiedene Weise beantwortet werden. Die christliche Theologie hat seit dem 2. Jahrhundert für die Verteidigung der christlichen Lehren die Begriffe und Teildisziplin der Apologetik entwickelt; die reformatorische Theologie stellt demgegenüber seit dem 16. Jahrhundert heraus, dass Gottes Wort als einziger gültiger Maßstab des Christentums seinerseits eine Kritik an der menschlichen Religion und Religiosität ist.

Antike

Die abendländische Geistesgeschichte hat seit der griechischen Philosophie der Antike das Konzept der „Vernunft" (griech. λογος) ins Zentrum ihrer Reflexion gerückt. Die „Warum"-Frage, aus dem Staunen über den Kosmos geboren, nach seinem Grund und Sinn suchend, ist der Beginn dieser philosophischen Haltung. Damit begann „das Sterben der Götter": In allen Varianten griechischen Geistes war eine Kritik an überkommener Religion, am Mythos der Götterwelt, am Schein oder am falschen Sein des allzu selbstverständlich Gegebenen, an der Unvernunft möglich, angelegt und großenteils auch ausformuliert. Wissen stand tendenziell von vornherein gegen Glauben.

Jedoch verstand die frühe griechische Philosophie sich nicht primär als Religionskritik: Obwohl viele ihrer Denker die Götter und ihre Mythen als Illusion sahen und beschrieben, bekämpften sie die empirische Religionsausübung kaum. Auch für Skeptiker, kritische Empiristen und Materialisten war die Frage nach einem metaphysischen Weltgrund nicht erledigt und beschäftigte viele von ihnen zentral.

Griechische Ursprungsphilosophie

Schon die Vorsokratiker suchten den Urgrund aller Dinge (griech. αρχη, Arché) nicht jenseits der Welt, sondern in ihr. Die Theogonie Homers und Hesiods sah „Okeanos“ als Ursprung aller Götter. Dieser uralte Mythos steht auch hinter der biblischen Vorstellung von der „Urflut" (Gen 1,2). Doch Thales von Milet (um 630-560 v. Chr.) transformiert diesen Gedanken von einer mythischen in eine wissenschaftliche Aussage mit Anspruch auf empirische Prüfbarkeit: Er sieht das Wasser als einheitlichen Urstoff, aus dem alle übrige Stoffe hervorgingen.

Sein Schüler Anaximander (um 610-547 v. Chr.) versucht aus dem damals zugänglichen Wissen erstmals ein konsistentes Weltmodell abzuleiten. Er kommt vom Gedanken der unendlichen Zeit (Werden und Vergehen) zum negativen Grenzbegriff des Grenzenlosen (griech. απειρον): Der Urgrund kann selber kein bekannter Stoff sein, da alle Stoffe zeitlicher Veränderung unterliegen. Er muss in Allem enthalten sein, ohne je wahrnehmbar und bestimmbar zu werden. Das schließe alle positiven Aussagemöglichkeiten über ihn aus.

Für Anaximenes (um 585–524 v. Chr.) dagegen muss die grenzenlose Ursubstanz bestimmbar sein, da sonst aus ihr keine konkreten Dinge entstehen könnten. Er findet sie in der „Luft", die alle Substanzen durchdringe und als ständige Bewegung ihre Qualitätsänderungen bewirke.

Pythagoras (ca. 580–500 v. Chr.) führt die Veränderungen der Dinge nicht auf einen Urstoff, sondern auf mathematisch berechenbare Gesetzmäßigkeiten zurück. Diese sind dem Menschen erkennbar, weil seinem Geist das Zahlensystem innewohnt. Damit nahm er Platons Ideenlehre vorweg und begründete – ausgehend von den Proportionen der Obertonreihe – die Lehre der Sphärenharmonien. Er bekämpfte die Göttermythen Homers und lehrte eine unpersönliche Gottheit ohne menschliche Eigenschaften. Aber er glaubte unter ägyptischem Einfluss auch an die zyklische Seelenwanderung und übernahm Rituale aus dem Apolloskult und Orpheuskult.

Auch Xenophanes (570–475 v. Chr.) kritisiert den Anthropomorphismus der Homerischen Göttermythen und sieht darin Projektion (jedes Volk stellt sich die Gottheit so vor, wie es selbst aussieht). Er argumentiert ethisch gegen die Vielheit der Götter, die diesen unsittliches Verhalten zutraue, für die Reduktion des Göttlichen auf ein einheitsstiftendes Urprinzip. „Gott" muss ein einziges, umfassendes, alle Vorstellungen übersteigendes vollkommenes Verstandeswesen (griech. νους) sein: darin der Kugelform ähnlich.

Sein Schüler Parmenides (geb. um 540, Todesjahr unbekannt) stellt den Begriff des Seins (Οων) ins Zentrum seiner Reflexion und gibt der abendländischen Philosophie damit jahrhundertelang ihr Thema vor. Er geht (wie später Descartes, s.u.) vom Denken aus und schließt in einem klassischen Syllogismus das Nichtsein als undenkbar aus: Denken bedeutet Seiendes denken und ist nur als logisches Urteilen in Form des Aussagesatzes (Subjekt – Prädikat) möglich. Das „ist" im Urteilssatz beweist das Dasein des gedachten Gegenstandes. Das „Sein" ist nicht nur Objekt, sondern auch Mittel des Denkens, ja es denkt selber. Damit nimmt Parmenides den ontologischen Gottesbeweis schon vorweg.

Empedokles (um 483–423 v. Chr.) erkennt nur dem Stoff Sein zu, der bleibt. Werden ist Bewegung, die als Kraft auf quantitativ beständigen Stoff wirkt: Das begründete die mechanische Physik. Aber die Vielfalt des Werdens lasse sich unmöglich aus einem einzigen Urstoff erklären. So lehrt er die vier Elemente Feuer-Wasser-Erde-Luft, die sich ständig neu verbinden und trennen und so Werden und Vergehen erzeugen, ohne je das Gesetz der Stofferhaltung zu brechen: Das begründete die Chemie. Doch auch er hielt die Idee einer nichtstofflichen Geisterwelt fest und glaubte an die Seelenwanderung als Strafe des Schicksals für in diesem Leben begangene Verbrechen.

Bei Demokrit (460–390 v. Chr.) wird daraus eine konsistente materialistische Weltanschauung mit vier Grundaussagen:

  • Nichts existiert als Atome und leerer Raum.
  • Substanz besteht ewig und unveränderlich. Aus Nichts kann nichts entstehen.
  • Alles Werden ist mechanische Bewegung.
  • Nichts geschieht ohne Ursache: Das Kausalgesetz gilt universal.

Darauf baut er sein Weltbild auf, das etwa moderne Theorien der Planetenentstehung und den biologischen survival of the fittest (das Überleben der am besten Angepassten) schon erstaunlich genau vordachte. Für Götter und Geister war nun kein Raum mehr: Auch die Seele ist feinstofflich und zerstreut sich nach dem Tod des Einzellebens.

Anaxagoras (um 500–428 v. Chr.) fragt nach dem wahren „ersten Bewegenden" des mechanischen Prozesses, das Demokrit offen ließ. Zugleich lehrt er andere, feste Elementarteilchen (spermata), aus denen auch Feuer und Luft sich zusammensetzen. Alles entsteht aus Allem, indem es sich neu mischt und scheidet; Eigenschaften sind nur Mischungsverhältnisse. Umso mehr fragt sich, was zur ständigen Neuordnung der Teilchen den Anstoß gibt: Es kann nicht in der Materie selbst liegen, sondern muss Geist (νους) sein, der alle Dinge sinnvoll und zweckmäßig ordnet. Er sah diese einfache, mächtige und wissende Essenz aber nicht als Gottheit, sondern als feinsten aller Stoffe, der so von allen übrigen Substanzen geschieden ist und sie doch alle umgibt, durchflutet und umherwirbelt. Nur der Mensch hat Anteil an diesem Wesen; darum kann er es erkennen und die Welt der Dinge, Pflanzen und Tiere beherrschen. – Anaxagoras wurde als „Atheist" angeklagt und verließ Athen deshalb.

Sokrates

Platon

Aristoteles

Aristoteles kritisiert mit seiner metaphysischen Fragestellung nach der prima causa (ersten Ursache) sowohl die gewöhnliche Naturreligion, die an eine Vielzahl menschenähnlicher Götter glaubt, als auch das mechanistische und atomistische Weltbild, das der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht werde. Sein Begriff des notwendigen, aber transzendenten „unbewegten Bewegers" als Weltgrund kritisiert alle Ursprungsideen, die das Göttliche als Teil der Welt denken.

Stoa

Die Stoa wiederum kritisiert mit ihrer aus Naturbeobachtung gewonnenen Idee der providentia dei (Vorsehung) eben jene Gottesvorstellungen, die einen Weltgrund von der Welt getrennt denken, als rationale Erfindung.

Skepsis

Die Skepsis kritisiert die metaphysische Kosmologie wie die empirische Teleologie (Zielgerichtetheit) als menschliche Konstrukte, die an der widersprüchlichen Naturerfahrung zerbrechen würden. Sie bestreitet die Möglichkeit eines metaphysischen Rückschlussverfahrens zum Erweis eines Weltgrundes oder der Sinnhaftigkeit der Welt.

Die Zielrichtung skeptischer Kritik ist also divergent: Sie kann den Gottesbegriff (als Reflexion auf den Weltgrund) ebenso bestreiten wie die Gotteserfahrung (als Reflexion auf das eigene Welterleben). Sie zielt in jedem Fall auf die Behauptung einer Notwendigkeit eines – wie auch immer gearteten – Gottes für die Welt und den Menschen. Dabei ist der Ansatz dieser Kritik seinerseits empirisch:

  • Ohne direkte Hinweise auf die Existenz überirdischer Wesen gebe es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dies betrifft alle Religionen, die an Götter glauben, besonders aber personale Gottesvorstellungen.
  • Ohne direkte Hinweise auf die Existenz übernatürlicher Wirkungen gebe es keine Notwendigkeit, ihre Existenz anzunehmen. Dieser Kritikpunkt zielt auf religiöse Konzepte wie eine Weltkraft oder einen Weltgeist, also auf der Natur und Geschichte inhärente Gottesvorstellungen.

Im Ergebnis kommt diese philosophische Kritik jedoch nicht über die allgemeine Skepsis an allen positiven Glaubensaussagen hinaus: Religion als Begegnung des Menschen mit einer existierenden oder gedachten Transzendenz sei philosophisch weder zu beweisen noch zu widerlegen, vgl. Skeptizismus.

Epikur

Epikur gibt dann erstmals eine rationale Erklärung für das Entstehen der Religion, die den Projektionsverdacht Feuerbachs (s.u.) schon vorwegnimmt: Ihre Lehren seien nur ein Abbild menschlicher Ideen, die keine äußeren Einwirkungen zu ihrer Erklärung benötigen. Die Götter der griechischen Mythologie erwiesen sich durch ihre anthropomorphen (menschenähnlichen) Züge als Wunschgebilde. Diese Kritik trifft auch das personal gedachte Gottesbild der Bibel, das den Schöpfergott mit menschlichen Eigenschaften ausstattet und in bewusst menschlicher Sprache auch vom „eifersüchtigen", „zornigen", „reuigen" und „liebenden" Gott spricht.

Epikur formulierte das Theodizee-Problem: Wenn es (angeblich) einen allmächtigen und sehr gütigen Gott gibt, wie ist dann die Existenz von Übeln zu erklären?

Mittelalter

Naturwissenschaftliche Kritik am scholastischen Weltbild

Die Lehren vieler Religionen enthalten mehr oder weniger konsistente Grundannahmen über die Natur als Ganzes, über die Entstehung, aber auch die Zukunft („Erlösung“) der Welt und des Menschen. War damit ein Anspruch auf allgemeingültige deskriptive Wahrheit verbunden, dann geriet dieser auf der Ebene von Tatsachenprüfung unvermeidbar in die naturwissenschaftliche Kritik.

Die christliche Theologie und Philosophie hatte seit dem Zeitalter der Apologetik (2. Jahrhundert) versucht, christliche Glaubenssätze mit einem philosophischen Weltbild in Einklang zu bringen. Seit Thomas von Aquin wurde Offenbarung und rationale Welterkenntnis in ein gemeinsames umfassendes Lehrsystem integriert. Dabei legte die thomistische Scholastik sich auf das geozentrische Weltbild fest, das seit Pythagoras und Aristoteles als „bewiesen“ galt.

Mit Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei zerbrach dieses Weltbild und damit in gewisser Weise das Wahrheitsmonopol der katholischen Kirche. Die Emanzipation der experimentellen Naturwissenschaft ließ sich trotz theologischer Einwände nicht mehr aufhalten.

Die heutige Neuscholastik versucht, den Grundansatz der Synthese von Glauben und Wissen angepasst an heutige naturwissenschaftliche Welterklärung beizubehalten.

Aufklärung

Im Zeitalter der Aufklärung, also in der europäischen Neuzeit, begann die eigentliche Religionskritik. Hier entwickelten maßgebende Denker sonst ganz verschiedener Richtungen ihre Ideen in ausdrücklicher Abgrenzung von und im Gegensatz zu Religion, zu ihrer Bekämpfung oder sogar Abschaffung, wobei sie dieses Phänomen unterschiedlich definierten. So zählt man seit dem 20. Jahrhundert folgende Denker zu den „klassischen“ Religionskritikern: Comte, Feuerbach, Marx, Freud, Russell, Camus und Sartre

Comte

Descartes: Autonomes Selbstbewusstsein

Mit René Descartes gewinnt die Antithese zwischen Philosophie und Theologie in der frühen Neuzeit an Schärfe: Erstmals begründet das denkende Subjekt Selbstbewusstsein autonom. Von der intuitiven Erfahrung des cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich) aus gewinnt der Begriff Gottes nur noch sekundär stützende Funktion. Damit ist die Vorherrschaft der Scholastik mit ihrer Synthese von natürlicher Theologie und Philosophie einerseits und Offenbarung andererseits gebrochen.

Kant: Widerlegung der metaphysischen Gottesbeweise und neues Religionsverständnis

Immanuel Kant ist kein Religionskritiker im klassischen Sinne. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ war viel umfassender. Alle metaphysischen Gottesbeweise überschreiten nach seiner Auffassung unzulässig die kategorialen Grenzen menschlicher Vernunft. Er legt vor allem die Unmöglichkeit des ontologischen Rückschlusses von der Essenz zur Existenz Gottes (Anselm von Canterbury) dar, auf den er die übrigen Gottesbeweise zurückführt. Diese Rückführung ist umstritten. Doch seither ist die moderne Philosophie von deutlicher Distanz zu jeder Art von Metaphysik geprägt und sieht religiöse Deutungsmuster der Wirklichkeit unter dem Vorzeichen des Irrealen und Irrationalen (vgl. auch Kritizismus).

Kant lehnt die Religion jedoch nicht gänzlich ab, denn „es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde“. Dabei benötigt nach Kant die Vernunft oder Eigenart des menschlichen Denkens eine „wirkende Ursache“ sowie einen „entsprechenden Ausgang, es sei in diesem, oder einem anderen Leben“ (Kant 1787, B 840-841). „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (Kant 1787, B 841). Für Kant sind aber diese "herrlichen Ideen" der moralischen Gesetze und das gute Handeln hier in der Welt der eigentliche und einzige Sinn und Zweck der Religion, nicht die übernatürlichen Aspekte.

Die moralischen Gesetze waren es, „deren innere praktische Notwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbständigen Ursache, oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effekt zu geben“ (Kant, KRV, B 846). Der vorausgesetzte Gott darf daher nicht als ein neuer Gegenstand oder ein reales Sein angesehen werden, von dem umgekehrt dann die moralischen Gesetze abgeleitet werden. Das wäre nach Kant „schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft“ und würde „die letzten Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln“ (Kant, KRV, B 841). In dieser fatalen Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse wird das Hilfsmittel (das Gottesbild) zum eigentlichen Zweck und der ursprüngliche Zweck (das gute Handeln) zum bloßen Hilfsmittel. Die Religion kann nach Kant ihren eigentlichen Sinn und Zweck in der Welt in Übereinstimmung mit der Vernunft nur erfüllen, wenn gilt: „Wir werden, soweit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind“ (Kant, KRV, B 847).

Das Absolute kann für Kant genau wie in der negativen Theologie nicht bestimmt werden. Wenn es doch getan wird, muss es daher zwangsläufig zu Streit, Widersprüchen und Spaltungen darüber kommen, welche der vielen verschiedenen und sich widersprechenden Bilder und Bestimmungen des Absoluten die einzig wahren und realen sind. Diese Auseinandersetzungen laufen dann dem moralisch guten Handeln in der Welt als Hauptthema und eigentlichem Sinn der heutigen Religionen entgegen. Nur wenn daher restlos alle Gottesbilder zu den bloßen und austauschbaren Hilfsvorstellungen relativiert werden, die sie nach Kant sind, werden die religiösen Auseinandersetzungen beseitigt und damit der eigentliche Sinn und Zweck der heutigen Religion in der Welt erfüllt, nämlich das gute und sittliche Handeln auch auf der Ebene des interreligiösen Dialoges, statt eines Kampfes der Kulturen um die einzig wahre und reale Gottesvorstellung.

Lessing: Kritik der Intoleranz

Gotthold Ephraim Lessing betrachtet Religion in Gestalt von Judentum, Christentum und Islam einerseits als historischen Ursprung, andererseits als zu überwindende Vorstufe einer selbsttätigen Vernunftreligion. Er fordert einerseits Toleranz und gegenseitige Achtung von den drei monotheistischen Religionen (Nathan der Weise): Nach der Ringparabel ist von Menschen nicht zu entscheiden, wer Gott in der besten Form verehrt. Andererseits fordert er die Aufklärung des in Religionssystemen gefesselten Kinderglaubens zu Gunsten eines zukünftigen sittlichen Humanismus („Erziehung des Menschengeschlechts“).

19. Jahrhundert

Stand im 18. Jahrhundert die kirchliche Vormacht auf Welterklärung im Feuer der aufgeklärten Kritik, so rückte im 19. Jahrhundert die soziale Funktion der (vor allem christlichen) Religion in den Vordergrund des kritischen Interesses. Sie wird nun immer stärker als Sammlung von Methoden der Selbstberuhigung, Fremdkontrolle und Herrschaftssicherung angesehen.

Vorausgegangen waren große Umbrüche im theoretischen Selbstverständnis der Theologie und der Philosophie, die ein „Wesen“ der Religion auf verschiedene Weise für Humanität, Gefühl und Vernunft in Anspruch nahmen. Die Kritik daran tritt nun auch geisteswissenschaftlich als konsistent ausformulierte Position hervor, die die real existierende Religion nicht nur aufzuklären (Kant), zu humanisieren (Feuerbach) oder zu zerstören (Nietzsche), sondern als Ganzes zu überwinden (Marx) anstrebt.

Schleiermacher: Romantischer Subjektivismus

Friedrich Schleiermacher versucht im Rahmen der romantischen Gegenbewegung zum Rationalismus das religiöse „Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit“ den Gebildeten wieder nahe zu bringen. Er sieht das subjektive, nicht begrifflich fassbare Erleben der Unendlichkeit als rein rezeptive, passive Form des Selbstbewusstseins, die sich jedem aktiven kritischen Zugriff der Ratio entzieht. Damit greift er in gewisser Weise die mittelalterliche Mystik mit ihrer Kritik an veräußerlichten Religionsformen wieder auf. Er kritisiert von da aus den Dogmatismus und Konfessionalismus der protestantischen Staatskirchen, verlangt aber keine institutionelle Trennung von Staat und Kirche.

Hegel: Idealistischer Absolutismus

Im deutschen Idealismus versucht Hegel, das begrenzte subjektive Selbstbewusstsein – den religiösen Glauben – als Teilmoment der Selbstentfaltung des zu sich kommenden Weltgeistes dialektisch „aufzuheben“. Damit macht er gegen die Romantiker die Arbeit des Begreifens, den Anspruch der Wahrheit auf das Ganze – die Totalität der erfahrbaren Dinge inklusive der menschlichen Geschichte – wieder geltend.

Feuerbach: Projektionsthese

Ludwig Feuerbach, Schüler Hegels, wendet den zu-sich-selbst-kommenden Begriff kritisch gegen die Religion und „entlarvt“ sie als Projektion: „Gott“ sei nur der an den Himmel projizierte Selbstausdruck des endlichen Selbstbewusstseins, das sich Unendlichkeit ersehnt. Er entfaltet diese Kritik vor allem auch an Zentralgedanken der Theologie Martin Luthers: Die InkarnationGott wird endlicher Mensch – sei eigentlich „nicht anderes als“ der verkehrte Wunsch des Menschen, unendlich und unsterblich – wie Gott – zu werden. Indem der Mensch dies erkennt, könne seine in der Religion fehlgeleitete Vernunft zur Humanisierung freigesetzt werden: In der zwischenmenschlichen Liebe finde der Mensch seine wahre Erfüllung. Damit lehnt Feuerbach das religiöse Element des menschlichen Selbstbewusstseins nicht per se ab, will es aber „übersetzen“ und einsetzen für die Gestaltung eines humanen Zusammenlebens.

Marx: Kritik des religiösen Überbaus und revolutionärer Pragmatismus

Karl Marx übernimmt Feuerbachs Religionskritik und sieht sie analog zur Ideologiekritik als notwendige Vorstufe der Gesellschaftskritik. Mit diesem Impetus begreift er in seinen Frühschriften die Doppelnatur der Religion:

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.

Damit hat Marx klar die Ambivalenz religiösen Bewusstseins ausgesprochen: Es ist für ihn – wie für Feuerbach – Ausdruck eines grundlegenden Mangels im sozialen Miteinander. Es kann sich daher sowohl als Protest gegen das Elend wie als Flucht aus dem Elend in einen illusionären Rausch, also als Selbsttäuschung und Beruhigung über das Elend äußern. In beidem verbirgt sich jedoch eine fundamentale Unfähigkeit, dessen wahre Ursachen zu entdecken und ihnen praktisch abzuhelfen. Religion ist für Marx ebenso wie andere Ideologie ein „verkehrtes Bewusstsein", das aus den Verhältnissen geboren ist, ihnen aber nur das abstrakte Gegenbild einer irrealen besseren Welt gegenüberstellt.

Darum kritisiert er nun auch Feuerbachs rein individualistischen, selbst noch dem Idealismus verhafteten Ansatz und stellt ihm seine berühmten „11 Thesen zu Feuerbach" entgegen, die in der 11. These gipfeln:

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern.

Von da aus geht Marx nun von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie, also zur Analyse der auf gesetzmäßiger Ausbeutung gegründeten Klassengesellschaft über. Er kritisiert jene Religionskritiker, die diesen Sprung nicht mitvollziehen und sich an der äußeren Erscheinung der Religion abarbeiten. Mit der Überwindung des Kapitalismus, so erwartet er, wird auch die Religion ihre scheinhafte Notwendigkeit verlieren und – wie der Staat, dessen soziales Ferment sie ja ist – in der klassenlosen Gesellschaft „absterben".

Weber: Protestantische Verzichtsethik als Wegbereiter des Kapitalismus

Max Weber antwortete auf Marx mit einem eher geisteswissenschaftlichen und historischen Ansatz: Er sieht Religion in Gestalt des europäischen Protestantismus als Wegbereiter der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft. Die „Lohnethik" Johannes Calvins habe zu einer asketischen Verzichtshaltung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung beigetragen. Dies habe die Einführung von industriellen Fertigungsmethoden, Produktion von Überschüssen, Realisierung von Mehrwert in der neuen Massenproduktion ermöglicht. Anders als Marx sieht er darin nicht nur ein negatives Element von Klassenherrschaft, sondern auch ein Element des Fortschritts und größerer geistiger Freiheit des Individuums.

Darwin: Evolution ohne Schöpfer

Nietzsche: Lebensmacht statt lebensfeindlicher Moralismus

Friedrich Nietzsche greift im Rahmen einer umfassenden Kulturphilosophie das von der Religion geprägte Menschenbild an, um dem Menschen einen Raum für neue Selbstbestimmung zu eröffnen. Der klischeehafte moralische Dualismus betrachte Menschen entweder prinzipiell als „gut", „perfekt" und „heilig" oder aber als „schlecht" oder „sündig" und verfehle damit die Realität: Diese Kritik trifft neben dem Christentum auch andere Religionen, vor allem das Judentum, aber auch den Neokantianismus, den Nietzsches Vater (ev. Pfarrer) vertrat.

In seiner Spätzeit spitzt Nietzsche seine Kritik auf den Kern der christlichen Botschaft zu (Der Antichrist – Fluch auf das Christenthum): Er sieht in der Anbetung eines Gekreuzigten eine barbarische Schwächung aller edlen Eigenschaften des Menschen, so dass er sich die Befreiung zum wahren Menschsein nur als totales Abstreifen des abendländischen Christentums vorstellen kann. In seiner Theorie vom „Übermenschen" gelangt er zu einer Verherrlichung des Dionysoskultes. In seiner Idee der „ewigen Wiederkehr aller Dinge" übernimmt er eine aus Indien stammende Reinkarnationslehre, die bei ihm ganz auf die Steigerung des Lebensgefühls und der Lebensmacht ausgerichtet ist. Dieser anthropologischen Stoßrichtung dient auch die Metapher vom „Tod Gottes", die Nietzsche von Jean Paul übernimmt und radikalisiert (in Der Wanderer und sein Schatten, Die Fröhliche Wissenschaft und Also Sprach Zarathustra).

20. Jahrhundert

Für die neuzeitliche Naturwissenschaft ist ein „methodischer Atheismus“ verbindlich, d. h. man betreibt Naturwissenschaft ohne Einbeziehung von Dogmen oder Hypothesen über Gott („etsi deus non daretur“ – „als wenn es keinen Gott gibt“) - hier ist auch der (schon früher eingeführte) Begriff der Atheologie zu neuer Beachtung gekommen.

Der aktuelle Wissensstand über die Entstehung von Universum, Leben und Mensch widerspricht offenkundig bestimmten religiösen Vorstellungen:

  • dem Konzept einer Schöpfungsgeschichte (jüdisch-christlich-islamische Tradition): Sie lasse sich nicht mit der Theorie vom Urknall in Einklang bringen.
  • dem Konzept einer „ewigen Wiedergeburt“ (Hinduismus, Buddhismus): Dieses findet keine Bestätigung in der historischen Genese des Lebens und der Evolution der Arten.
  • der Theorie vom Intelligent Design: Intelligentes Bewusstsein wird in manchen Religionen als Qualitätssprung angesehen, der nicht evolutionär denkbar sei, sondern auf einen Schöpfer oder eine Weltvernunft (z.B. das Brahman) hinweise. Dagegen zeige die Evolutionstheorie mit dem Konzept der Emergenz, wie sich eine graduelle Entwicklung des menschlichen Großhirns vollzieht.
  • dem Konzept von „Wundern“ als kontingenten Ereignissen ohne physikalische Erklärung: Dies setze voraus, dass ein „höheres Wesen“ die Naturgesetze beliebig ein- und ausschalten könnte. Für ein solches unerklärliches Aussetzen des Ursache-Wirkungs-Prinzips gebe es aber keine empirischen Hinweise („es geht alles mit rechten Dingen zu!“).
  • dem Konzept der Transformation des Kosmos: Transzendente Zukunftserwartungen wie das jüdisch-christlich-islamische Konzept der Auferstehung würden dem gesetzmäßigen Energieausgleich gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik und der berechenbaren Endlichkeit des Universums gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie, die durch astronomische Beobachtung gestützt wird, widersprechen.

Psychoanalyse: Religion als Zwangsneurose und Masochismus

Sigmund Freud betrachtete die von ihm um 1900 begründete Psychoanalyse als eine Naturwissenschaft. Er ist davon überzeugt, dass ein religiöses Bewusstsein eine Selbstentzweiung ist und eine Neurose. Der Mensch sieht Gott als Vaterfigur, da er einen Vater braucht, der ihm die Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben abnimmt. Gottesglaube sei demnach der Wunsch nach Geborgenheit, Sicherheit und Autorität. Zugleich identifiziert Freud dieses Gottesbild mit dem Über-Ich, also jenem Teil der Psyche, der die normative Unterdrückung der Triebe, vor allem des Sexualtriebes leiste. Dieser Sublimation von Triebenergie sieht er aber nicht rein negativ, sondern im Zusammenhang mit den bedeutenden Kulturleistungen des Menschen. Freilich empfand er dem gegenüber ein Unwohlsein, dessen Ursache er zu formulieren suchte (s. Das Unbehagen in der Kultur und Die Zukunft einer Illusion), deren Aufdeckung jedoch seinerzeit nicht gelang. Freuds religionsfeindliche Thesen stehen im Zusammenhang mit dem Phänomen der Instinktreduktion zur Diskussion.

Freuds Schüler Wilhelm Reich versuchte zunächst, Psychoanalyse und Marxismus miteinander zu verbinden (Freudomarxismus) und damit u.a. zu einem tieferen Verständnis des Bedürfnisses nach Religion zu kommen. Er sieht die modernen Sexualneurosen als Ergebnis eines Jahrtausende alten kulturellen Masochismus, der in Form von Religionen und anderen Leidensideologien die menschliche Bereitschaft zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Macht- und Gewaltstrukturen prägt. Die mögliche Überwindung dieser Zwangsneurose sieht er in der freien Entfaltung der natürlichen Sexualität als wesentlichen Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Durch seine enge Freundschaft mit Alexander Sutherland Neill ist Reich in der 68er-Bewegung zu einem beliebten Vorbild für die antiautoritäre Erziehung geworden.

Einstein: Endlichkeit des Raums

Albert Einstein revolutioniert das seit Newton gültige mechanistische Weltbild erneut. Im Ergebnis der rasanten wissenschaftlichen Entwicklung stehen praktisch alle mythologischen, metaphysischen und theologischen Paradigmen in Frage.

Russell: Naturwissenschaftlicher Rationalismus

Diesen vertritt zum Beispiel der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell in seinem berühmten Essay Why I Am Not A Christian (1927). Die Grundlage der Religion sei die Angst – vor dem Mysteriösen, vor der Niederlage, vor dem Tod. Angst sei der Vater der Grausamkeit und so nehme es nicht Wunder, dass Grausamkeit und Religion historisch Hand in Hand gegangen seien. Die Konzeption Gottes entspringe einem altertümlichen orientalischen Despotismus, die dem freien Menschen unwürdig sei. Die Welt brauche keine Religion, sondern eine furchtlose Perspektive und freie Intelligenz.

Existenzialismus

Ähnlich argumentiert auch Jean-Paul Sartre mit seinem „atheistischen Existentialismus“. Für ihn ist Gott nichts als eine Bedrohung der menschlichen Freiheit. Der erste Schritt des Existenzialismus sei es, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen:

Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, als ob wir glaubten, dass Gott existiert, aber wir denken, dass die Frage nicht die seiner Existenz ist. Der Mensch muss sich selber wieder finden und sich überzeugen, dass ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.

Der deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers vertritt dagegen eine „existenziale Interpretation“, d.h. eine auf den einzelnen Menschen bezogene Auseinandersetzung mit dem Transzendenten und bezieht sich auf die „maßgebenden Menschen“ nach der Reihenfolge ihrer Bedeutung: Sokrates , Buddha, Konfuzius und Jesus. Offenbarungsglauben kritisiert er zugunsten eines philosophischen Glaubens, den das Individuum entwickeln muss und der keine Verheißung, sondern lediglich Selbstverantwortung mit sich bringt.

Neomarxismus und Neokantianismus

Ernst Bloch kritisiert den dogmatischen Marxismus in seinem Versuch, die Religion durch Revolution abzuschaffen. Er stellt dagegen das Moment der Utopie, das jede erstarrte Herrschaftsform transzendiert. Dieses unabgegoltene Hoffnungspotential findet er gerade auch in der Religion wieder (Atheismus im Christentum, Prinzip Hoffnung).

Auch die Philosophen der Frankfurter Schule sehen den vulgärmarxistischen Rationalismus kritisch als eine Art „Religion“, die ein absolutes Wissen über das Ziel der menschlichen Gesellschaft vorgibt und damit nur neue Eindimensionalität und Herrschaft etabliere (Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch).

Jürgen Habermas sieht den Empirismus in teilweise derselben Beweisnot wie die Religion: So sei auch der entschiedene A-Theismus einem negativen Gottesbild verhaftet, für das es in der Realität kaum Anhaltspunkte gebe. Der Nicht-Glaube an Gott sei letztlich auch nur eine (negative) Glaubensüberzeugung.

Agnostizismus, Relativismus und Eklektizismus

Eine heute weit verbreitete Haltung sieht die Existenz eines „Gottes“ als weder beweisbar noch widerlegbar an (Agnostizismus). Sie sieht in der Tradition Kants metaphysische Fragen, die auf eine transzendente Realität zielen, als sinnlose Fragen an, da die Antworten jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens lägen: so zum Beispiel Emil Heinrich du Bois-ReymondsIgnoramus et ignorabimus“ (lat. „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“).

Ebenso verbreitet ist ein postmoderner Relativismus, der jedem Menschen seine individuelle Form von Religiosität zugesteht und auf die Wahrheitsfrage weitgehend verzichtet. Diesem entspricht – ähnlich wie im Hellenismus um die Zeitenwende – ein neues Aufleben religiöser Strömungen, die sich nicht mehr von den großen Weltreligionen, Kirchen und Glaubensrichtungen her definieren, sondern Elemente daraus auswählen (Eklektizismus) und mit paganen Motiven zu einem Synkretismus und Pluralismus auch im Blick auf die Gottheit verbinden.

Dies findet man heute vor allem in der Esoterik, aber auch in eher nichtreligiösen Richtungen. Ihnen ist die Abgrenzung von den traditionell monotheistischen Religionen gemeinsam, die mit dem Glauben an einen einzigen universalen Gott oft einen Absolutheitsanspruch ihrer Lehre verbinden. So stimmt etwa der Philosoph Odo Marquard ein „Lob des Polytheismus“ an (in: Abschied vom Prinzipiellen, 1981), in dem er den Monomythos des Christentums als ersten Geschichtsunfall bezeichnet. Dem setzt er die segnende Wirkung des religiösen Pluralismus entgegen. (vgl. auch Jan Assmann)

Theologie nach Auschwitz

Unter diesem Schlagwort haben v.a. auch Theologen religionskritische Überlegungen angestellt, so Dorothee Sölle; auch das Theodizee-Problem hat durch Auschwitz (pars pro toto für die Shoa) eine Verschärfung erfahren, so bei Günther Anders - die katholische Kirche hat in der Folge mit Karl Rahner ein anonymes Christentum angedacht, also ein aus der Legitimität des Zweifels geborenes Abfallen von der Religion, das entgegen der Formel "extra ecclesiam nullum salus" doch sogar heilig sein könne. (vgl. auch [Vaticanum II.])


Neuere religionskritische Literatur

Seit 1945 sind vielfach schon lange bestehende religionskritische Ansätze von den unterschiedlichsten Autoren, oft aus dem Bereich der Humanwissenschaften, neu aufgegriffen und - auch in persönlicher Form - vertieft oder erneuert worden. Beispiele dafür sind:

  • das Buch des Theologen und Philosophen Joachim Kahl Das Elend des Christentums (1968), das in polemischer Form für eine Humanität ohne Gott (Untertitel) plädierte im Kontext der existenzialistischen "Gott-ist-tot"-Theologie der 1960er Jahre.
  • das Buch des Psychanalytikers Tilman Moser Gottesvergiftung (1976), in dem der Autor seine eigene religiöse Sozialisation beschreibt. Er kommt heute mit einem Nachfolgewerk Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gottesbild.
  • das Buch des Psychologen Franz Buggle Denn sie wissen nicht, was sie glauben (2003), das vor allem die Bibel als ungeeignete Basis für ethische Orientierung erklärt (siehe Bibelkritik), aber auch zu neueren theologischen Strömungen kritisch Stellung bezieht, z. B. zu Hans Küng.
  • Das Lebenswerk von Karlheinz Deschner, die 'Kriminalgeschichte des Christentums', ist eine Religionskritik, die sich v.a. mit den furchtbaren Auswirkungen der christlichen Aktivitäten auf die Menschen befaßt, von den historischen Anfängen bis in die Jetztzeit, gleichzeitig aber auch die Verlogenheit anprangert, die darin besteht, scheinbar humane und soziale Richtlinien zu vertreten, während man in Wahrheit aber aus Eigeninteresse mit Lügen und Gewalt Elend und Verderben über die Menschen bringt. Es handelt sich hierbei um eine minutiöse Auflistung und historische Aufarbeitung zahlreicher Verbrechen (Lüge, Betrug, Folter, Mord, Kollaboration) christlicher Kirchenmänner, deren Häufigkeit allein zweifeln läßt, ob es sich lediglich um 'individuelle Verfehlungen' einzelner Personen handeln könnte. Interessant sind auch die zeitgenössischen Forschungen Deschners zum Zusammenhang von Vatikan und faschistischen Regimen (Bsp.: Ustascha-Regierung in Kroatien).
  • Einige wenige, allesamt mit dem Tod bedrohte Personen erheben sich heute in ähnlicher Weise gegen die natürlich ebenso bezweifelbaren Aussagen und Auswirkungen des Islam, darunter Taslima Nasreen und Salman Rushdie; die meisten anderen Autoren scheinen aber zu behaupten, daß die Verbrechen des Islam individuelle Fehlinterpretationen der heiligen Schriften seien -- eine unlogische, aber übliche Argumentation zugunsten von Religionen. Der Mangel an rezenter Religionskritik des Islam ist ein erstaunliches Phänomen, das die aktuelle Gewalttätigkeit dieser Weltanschauung besser als alles andere unterstreicht. Hier wird vom Westen verabsäumt, eine im eigenen Bereich mühsam errungene Freiheit auch im Außenkontakt aufrechtzuerhalten.

Religionskritik im Buddhismus

Allgemeine Einleitung zu Religionen

Die traditionell in der Religionskritik angesprochene Kritik ist universell gesprochen eine Monotheismuskritik oder Schöpfergottkritik und nicht eine "Religionskritik" im Sinne 'aller' Religionen. Dieser Unterschied wird in der Regel übersehen, weil innerhalb der europäischen Kultur die Kenntnis von Christentum, Judentum und Islam -- die alle aus derselben Quelle schöpfen -- unzulüssig auf andere Kulturen erweitert wird, auch in Form von Kritik: So wurden antireligiöse Maßnahmen durch den Kommunismus, der sich von Anfang an gegen die kulturelle Vorherrschaft v.a. der katholischen Kirche richtete ('Opium fürs Volk'), in Rußland und China auch gegen ganz andere Religionen ergriffen.

Andere Religionen behaupten aber keineswegs 'dieselbe' Art von Wirklichkeit. So haben die meisten Religionen verschiedene Götter und Dämonen, die folglich kein 'Urprinzip', sondern lediglich bestimmte Wesenheiten sind. Die andernorts üblichen 'Erfahrungsreligionen' haben im Gegensatz zu den drei westlichen 'Bekenntnisreligionen' ein Interesse an der 'Wahrheit' oder an 'Vorteilen' (verschiedenen Umfangs), nicht jedoch an der Verbreitung der Religion und an religiöser Gleichschaltung. Somit fällt häufig der gesellschaftspolitische Aspekt gewaltsamer Mission usw. weg. Inhaltlich ist Kritik nicht 'Blasphemie', sondern als wichtig erachtete Reflexion zum Zweck besseren Verstehens. Erst Christentum und Islam, und nur diese, haben diese religiös tolerante Situation der Antike grundlegend verändert.

Im Rahmen des Buddhismus ist die genaue Kenntnis aller denkmöglichen und historisch belegten Weltanschauungen ein normales Lernfach im Rahmen der Mönchsausbildung. In den Klosteruniversitäten der Gelug-Schule in Tibet folgt man hierbei überblicksmäßig dem Werk "Kostbarer Kranz der Lehrmeinungen" (cf. Söpa & Hopkins 1984).

Kritik des Objektivismus

Der "Kostbarer Kranz der Lehrmeinungen" bespricht auch kurz eine Weltanschauung, die heute in Europa weitverbreitet ist: Der 'Hedonismus' ('Cârvâka', für Europa vielleicht 'Realismus' oder 'wissenschaftliche bzw. säkuläre Haltung'):

Die Cârvâkas [Hedonisten] sagen: Es ist nicht so, daß man aus einem früheren Leben in dieses Leben kommt, denn niemand hat eine Wahrnehmung vom früheren Leben. Durch das zufällige Vorhandensein eines Körpers erhält man durch Zufall einen Geist, genauso wie man aus dem zufälligen Vorhandensein einer Lampe durch Zufall Licht erhält [Kön-chok-jik-wang-po, in: Söpa & Hopkins, p. 102]

Dabei wird die Leugnung der Ursache-Wirkung-Beziehung für das, was man nicht ergründen kann, und der immanente Anspruch des Objektivismus kritisiert, dem das Faktum der allumfassenden und netzwerkartigen Ursache-Wirkung-Beziehungen in der Realität und die Nichtobjektivität der eigenen Wahrnehmung logisch entgegensteht:

So behauptet dieses System, daß es sich bei allen Objekten des Erkenntnisvermögens [also bei allem Existierenden] zwangsläufig auch um spezifisch charakterisierte [also direkt wahrgenommene] Erscheinungen handelt und daß alle gültigen Erkenntnismittel notwendigerweise auch direkte gültige Erkenntnismittel sind. Der Grund für diese Annahme ist, daß es für sie keine allgemein charakterisierte [das heißt nicht direkt wahrgenommene] Erscheinungen oder schlußfolgernd gültige Erkenntnismittel gibt. Einige Cârvâkas meinen, alle Erscheinungen [deren Ursache nicht direkt wahrgenommen werden kann] entstehen ohne Ursache, aus ihrer eigenen Natur. [...] [Kön-chok-jik-wang-po, in: Söpa & Hopkins, p. 102f.]

Diese Haltung hat große Ähnlichkeit mit Argumentationen in der Wissenschaftstheorie, die v.a. im Rahmen des sogenannten 'Radikalen Konstruktivismus' und der 'Wissenssoziologie' gemacht wurden; demnach bestehen nicht nur ernsthafte Zweifel an der Objektivität unserer Wahrnehmungen, sondern es ergibt sich auch die Einsicht in den vernetzten (zirkulären) Aufbau der Wirklichkeit. Nicht zuletzt hat der Konstruktivist Varela bis zu seinem Tod mit S.H. dem Dalai Lama gemeinsam wissenschaftstheoretische Kolloquien organisiert.

Kritik des Schöpfergottglaubens

Im Sinne der europäischen Religionskritik ist also besonders zu beachten, was der Buddhismus über die Annahme eines Schöpfers des Universums ('Ishvara') sagt. In dieser Angelegenheit verweist der berühmte Gelehrte Tsongkhapa auf die logische Schwäche, ein Ursache-Wirkungs-Prinzip anzunehmen, das bei einer postulierten 'ersten' Ursache beginnt. Nach buddhistischem Verständnis formuliert er, daß man niemals Befreiung [von der Welt] erlangen könnte, wenn es ein solches ewiges und grundlegendes (also unüberwindliches) Grundprinzip gäbe, von dem alles andere abhängt:

Die Schriften, in denen von anderen Schulen das Hauptziel der Personen gelehrt wird, widersprechen sich nur selbst. Zum Beispiel verkünden sie, ein unvergänglicher Faktor, etwa ein allgemeines Prinzip (pradhâna) oder ein Herr (ishvara), sei der Schöpfer des Existenzkreislaufes, und sie sagen weiter, wer nach Befreiung suche, überwinde diesen Existenzkreislauf, indem er den Pfad kultiviere. Das ist widersprüchlich, denn ohne seine Hauptursache zu überwinden, läßt sich der Existenzkreislauf nicht überwinden, und seine Ursache ließe sich niemals überwinden, wäre sie unvergänglich. In gleicher Weise ist es widersprüchlich, die Ansicht der Selbstlosigkeit [= Ichlosigkeit] zurückzuweisen und [gleichzeitig] als Objekt der Erlangung eine Befreiung zu nehmen, die die Fesseln des Existenzkreislaufes durchschneidet. [Tsong-kha-pa 1987: 84]

Stattdessen ist also zu verstehen, daß die Welt nicht 'objektiv' existiert, sondern das Resultat einer Fehlwahrnehmung des eigenen Bewußtseinsstroms ist, der sein eigenes Erleben in Ich vs. Welt aufspaltet. Dadurch wird die Annahme eines vom Selbst abgetrennten (unvergänglichen) 'Schöpfers' obsolet -- die Welt ist unsere Interpretation unseres eigenen Erlebens, keine 'Schöpfung'.

Erkenntnistheorie

Im Buddhismus wird das Erkenntnisproblem ausführlich erörtert, und man macht dabei eine Unterscheidung, die für die Beurteilung von 'Religionen' (und allgemeiner 'Weltanschauungen') von Belang sind. Zunächst muß man einsehen, daß jeder Mensch als in sich geschlossenes System agiert und Verständnis immer nur auf Basis seiner eigenen (augenblicklichen) Voraussetzungen hervorbringt; das bedeutet aber auch, daß nicht alles, was man nicht versteht, deshalb auch falsch wäre. Weiters unterscheidet man daher 'offensichtliche Fakten' (die die meisten sofort einsehen), 'nicht sofort offensichtliche Fakten' (die von den allermeisten nach kurzer reflexion verstanden werden können), und 'nur sehr schwer zugängliche Fakten' (die normalen Menschen nicht leicht verständlich werden), cf.

Die Lehren, die der Buddha über die nicht-offensicht[lichmach]baren Erscheinungen gegeben hat, sowie die äußerst subtilen Darstellungen solcher sehr verborgenen Erscheinungen wie Handlung und Wirkung, können nicht durch Beweisführungen als richtig erkannt werden. Wie kann man dann ihre Richtigkeit feststellen?

Die Richtigkeit von offensicht[lichmach]baren Erscheinungen braucht man nicht durch Beweisführung festzustellen, weil sie direkt den Sinnen erscheinen. Dagegen kann man die leicht verborgenen Erscheinungen mit Hilfe einer Beweisführung erkennen, die ein Verständnis aus Schlußfolgerungen bewirkt.

Leerheit ist zwar etwas sehr Tiefes, aber nur leicht verborgen und deshalb der Beweisführung zugänglich. Mit dem Entstehen einer Überzeugung von der Unbestreitbarkeit von Buddhas Lehren über die tiefe Leerheit gelangt man auch zu der Überzeugung von der Gültigkeit seiner Lehren über die sehr verborgenen Erscheinungen, die einer Beweisführung nicht zugänglich, aber auch weniger wichtig sind.

Wir fragen uns vielleicht, wie es zum Beispiel möglich sein kann, was der Buddha in Sutras wie Der Weise und der Tor ('Damamûkonâsûtra') über die Wirkung von Taten berichtet. Da es sich um sehr verborgene Erscheinungen handelt, lassen sie sich durch Beweisführung nicht erkennen – es scheint so, als könne der Buddha behaupten, was er will. Allerdings können wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen Lehren bestätigen, die der Buddha zu wichtigeren Punkten gegeben hat – zur Leerheit, zum selbstlosen Erleuchtungsgeist, zur Liebe und zum Mitgefühl. Diese Lehren sind fähig, einer Untersuchung standzuhalten und können als mächtige Gedankenquellen dienen. Dabei spielt es keine Rolle, wer sie untersucht, wenn der Betreffende nicht durch Begierde und Haß beeinflußt ist. Wenn man sieht, daß der Buddha mit diesen Erscheinungen, die von größerer Wichtigkeit sind, nicht fehlgeht, kann man ]zum ersten Mal[ [zunächst einmal] auch die anderen Darstellungen von ihm annehmen. [Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama 1987: 28f.]

Wie man bei dieser Darstellung feststellen kann, ist also für eine Religionskritik nicht einfach nur das augenblickliche eigene Verständnis notwendig, sondern eine Evaluierung der Behauptungen einer Weltanschauung im Hinblick darauf, ob zentrale Lehren 'relativ leicht' auch logisch-intellektuell zu verstehen sind oder nicht. Dies ist dann ein Maßstab dafür, ob man sich möglicherweise der Mühe unterzieht, auch die komplexeren Aussagen zu überprüfen oder zunächst ohne Beweis als 'möglich' anzunehmen.

In diesem Sinn ist eine weltanschaulich sehr zentrale, aber gleichzeitig nicht-offensichtliche Annahme eines Schöpfergotts eine erkenntnistheoretisch höchst problematische Anschauung.

Literatur

  • Hopkins, Jeffrey (ed.) 1987: Tantra in Tibet: Das geheime Mantra des Tsong-kha-pa. 3. Aufl. Köln: Diederichs (= Diederichs gelbe Reihe; 29: Tibet). 238 p. // Engl. Orig.: Tantra in Tibet. The Great Exposition of Secret Mantra. London: Georg Allen & Unwin.
  • Kön-chok-jik-wang-po n.d.: Kostbarer Kranz der Lehrmeinungen, in: Söpa & Hopkins, pp. 87-209.
  • Söpa, Geshe Lhündup & Jeffrey Hopkins 1984: Der tibetische Buddhismus. Köln: Diederichs (= Diederichs Gelbe Reihe 13).
  • Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama 1987: Das Wesen des Tantra. in: Hopkins, pp. 10-77.
  • Tsong-ka-pa 1987: Die große Darlegung des Geheimen Mantra. in: Hopkins, pp. 78-165.


Zitate

  • Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
  • Es ist wirklich dem Menschen natürlich, alles zu personifizieren, was er begreifen will, um es später zu beherrschen. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
  • Wir sollen glauben, weil unsere Urväter geglaubt haben. Aber diese unsere Ahnen waren weit unwissender als wir, sie haben an Dinge geglaubt, die wir heute unmöglich annehmen können.Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion.
  • Es gibt keine Instanz über der Vernunft. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
  • Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion
  • Ja, man hat das Recht, Gott zu karikieren. Kommentar der France Soir (französische Zeitung) zu ihrem Nachdruck von Mohammed-Karikaturen_von_Jyllands-Posten (dänische Zeitung)
  • Die männliche und weibliche Ejakulation beweist die Unmöglichkeit einer Liebesreligion und das Vorhandensein eines Atheismus in der Materie. - Michel Onfray, Theorie des verliebten Körpers (vgl. Atheologie)
  • Karl Rahner spricht dagegen vom Umstand, (d)aß man einem Bösewicht eine mathematische Wahrheit, nicht aber einen Gottesbeweis einleuchtend machen kann, [...] kein Zeichen für die Stärke des einen und ein Zeichen der Schwäche des anderen, sondern ein Zeichen für den Grad, in dem der Beweis den Einsatz des Menschen selbst verlangt.

Literatur

Siehe auch