Flugzeugkollision von Überlingen
Der Zusammenstoß zwischen DHL-Flug 611 und Bashkirian-Airlines-Flug 2937 über Owingen bei Überlingen am 1. Juli 2002 gilt als eines der tragischsten Flugunglücke über Deutschland.
Am Abend des 1. Juli 2002 startete kurz nach 23:00 Uhr (MESZ) eine Frachtmaschine der DHL vom Typ Boeing 757-200 vom norditalienischen Flughafen Bergamo mit Zielflughafen Brüssel. Gegen 23:20 Uhr erbat der Pilot von der zuständigen Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich die Erlaubnis, auf eine Flughöhe von 36.000 Fuß (ca. 11.000 m) steigen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde kurz darauf erteilt und um 23:30 Uhr erreichte die Boeing 36.000 Fuß.
Zu dieser Zeit meldete sich eine von Osten kommende Tupolew Tu-154M der Bashkirian Airlines in Zürich an. Die Passagiermaschine war zuvor in Moskau gestartet und auf dem Weg nach Barcelona. Ihre Flughöhe betrug ebenfalls 36.000 Fuß.
Kurz nach 23:35 Uhr kollidierten die beiden Flugzeuge zwischen Owingen und Überlingen am Bodensee miteinander, wobei alle 71 Menschen in beiden Flugzeugen ums Leben kamen.
Unfallgeschehen
Die ersten Anzeichen für eine Kollision gaben die Anti-Kollisions-Systeme TCAS (Traffic alert and Collision Avoidance System) in beiden Flugzeugen. Um 23:34:42 Uhr ertönte zeitgleich in der Boeing und in der Tupolew ein Warnton ("Traffic, Traffic"), der auf die Kollisionsgefahr mit einem anderen Luftfahrzeug hinwies. Sieben Sekunden später meldete der Fluglotse in Zürich den Piloten der Tupolew die nahende Boeing und wies sie an, unverzüglich auf 35.000 Fuß (10668 m) zu sinken.
Genau dorthin flog in dem Moment die DHL-Boeing. Ihre Piloten hatten sofort auf die TCAS-Warnung reagiert und einen Sinkflug eingeleitet. Und obwohl der Computer in der Tupolew "Steigen" signalisierte, folgten die Piloten den Anweisungen des Fluglotsen und sanken ebenfalls. Um 23:35:32 Uhr kam es in einer Höhe von 34.890 Fuß (10634,5 m) zur Kollision.
Die Tupolew raste im rechten Winkel von rechts ins Heck der Boeing und zerbrach noch in der Luft in 4 Teile. Beide Tragflächen und das Heck mit den 3 Triebwerken lösten sich vom Flugzeugrumpf. Die Trümmer wurden nördlich von Überlingen über 2 Kilometer verstreut. Die Boeing stürzte 8 Kilometer weiter nördlich über dem Gebiet der Gemeinde Owingen ab.
Alle 60 Passagiere (darunter 45 Kinder) und die 9 Besatzungsmitglieder der Tupolew sowie die beiden Piloten der Boeing starben bei dem Unglück. Am Boden gab es keine Opfer.
Flugunfalluntersuchung
Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig leitete die Untersuchung des Unglücks. Ihr Abschlussbericht vom Mai 2004 stellt fest:
- Beide Flugzeuge befanden sich in einwandfreiem technischen Zustand und verfügten über identische Anti-Kollisions-Systeme (TCAS), die einwandfrei arbeiteten. Die Cockpitbesatzungen waren mit dem System vertraut.
- Zürich Control war am Abend des 1. Juli 2002 mit 3 Personen besetzt, was den Vorschriften entsprach. Der zweite Lotse war zum Zeitpunkt der Ereignisse aufgrund einer Kaffeepause nicht an seinem Arbeitsplatz, so dass der verbleibende Lotse Peter Nielsen beide Radarmonitore überwachen musste. Die dritte Person war nicht mit der operativen Flugüberwachung beschäftigt.
- Aufgrund von Wartungsarbeiten bei der Bodenkontrolle Zürich war das bodengestützte Kollisionswarnsystem STCA (Short Term Conflict Alert) am Abend des Unglücks nicht verfügbar. Auch die Telefondirektleitungen zu den benachbarten Luftüberwachungszentren waren außer Betrieb. Das Zentrum für die obere Luftraumüberwachung in Karlsruhe hatte mehrfach vergeblich versucht, Zürich telefonisch auf die drohende Kollision hinzuweisen.
Die BFU verweist in ihrem Unfallgutachten auf verschiedene strukturelle Fehler, die das Unglück unmittelbar begünstigten. Im Besonderen kritisiert sie den privaten Betreiber der Zürcher Flugsicherung. Der hatte seit Jahren hingenommen, dass während der verkehrsarmen Nachtstunden nur ein Lotse Dienst tat. Die BFU sieht aber ausdrücklich von der Nennung eines Alleinschuldigen ab.
Der Lotse in Zürich hatte wegen der Wartungsarbeiten an dem Abend keinen Telefonkontakt zu den benachbarten Kontrollzentren. Deshalb galt seine Aufmerksamkeit länger als normalerweise nötig einem Airbus, den er nach Friedrichshafen lotsen musste. Er beschäftigte sich zu spät mit dem aufkommenden Konflikt zwischen der Boeing und der Tupolew. Die Crew der Boeing hatte per Funk mitgeteilt, aufgrund der TCAS-Warnung auf 35.000 Fuss zu sinken; dies wurde in Zürich offenbar nicht gehört. Der Anweisung zum Sinkflug an die Tupolew wurde dort unverzüglich nachgekommen, obwohl das bordeigene TCAS den Befehl zum Steigflug gab. Auch in der Boeing gab es vor der TCAS-Warnung keine Anzeichen für einen Konflikt. 10 Sekunden vor dem Ertönen des Warnsignals hatte der DHL-Kopilot das Cockpit verlassen, was er wahrscheinlich nicht getan hätte, wäre der Konflikt evident gewesen. Er kehrte zwar unverzüglich ins Cockpit zurück, verlor aber durch die kurze Abwesenheit wichtige Sekunden der Aufmerksamkeit.
Der Tod des verantwortlichen Fluglotsen
Am 24. Februar 2004 wurde der 36-jährige Fluglotse Peter N., der in der Nacht des Unglücks in Zürich Dienst hatte, von Witali Kalojew erstochen, dessen Frau und zwei Kinder beim Absturz der Tupolew ums Leben gekommen waren. Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte den Täter wegen Totschlags zu acht Jahren Haft.
Rechtliche Auseinandersetzungen
Bashkirian Airlines reichte 2005 Klage gegen Skyguide ein, gefolgt 2006 von einer Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Vorwurf mangelnder Flugsicherung und -überwachung. Die geforderte Schadensersatzsumme für das zerstörte Flugzeug beläuft sich auf 2,6 Millionen Euro.
Nach einer Klage der Bashkirian Airlines gab das Konstanzer Landgericht am 27. Juli 2006 der Bundesrepublik Deutschland die alleinige Schuld am Unglück, da die Übertragung der Flugsicherung im süddeutschen Raum am Bodensee an das Schweizer Unternehmen Skyguide gesetzeswidrig sei. Der Bund trägt nach Auffassung des Landgerichtes die alleinige Verantwortung für das Unglück, da die Übertragung der Flugsicherung an skyguide aufgrund ungültiger Verträge unwirksam sei; der Vertrag verstoße gegen das Grundgesetz, das besagt, dass die Luftverkehrsüberwachung in bundeseigener Verwaltung geführt werden müsse.
Nach dem Urteil muss die Bundesrepublik Deutschland alle Schadensersatzansprüche aus diesem Unglück übernehmen, die Bundesregierung hat vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe Berufung gegen das Urteil eingelegt. Die Revision wird vor dem 9. Zivilsenat der Außenstelle Freiburg verhandelt werden.
Nach dem Unglück begannen die Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaften Winterthur Unterland und Konstanz gegen die beiden diensthabenden Flugverkehrsleiter und weitere sieben Mitarbeiter von Skyguide wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und anderer Straftaten. Die Staatsanwaltschaft Winterthur reichte am 04. August 2006 vor dem Bezirksgericht Bülach Klage gegen die Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs ein. Aufgrund der Anklageerhebung und der schweizerischen Staatsbürgerschaft der Beschuldigten hat die Staatsanwaltschaft Konstanz am 07. August 2006 das Ermittlungsverfahren an die schweizer Behörden abgegeben.