Zum Inhalt springen

Glenn Gould

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 22. September 2006 um 22:16 Uhr durch Phrood (Diskussion | Beiträge) (Goulds Interpretationen: {{Neutralität}}, s.disk.). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Datei:Glenn Gould 1974.jpg
Glenn Gould während einer gestellten Aufnahme, 1974. Der Stuhl ist nicht sein üblicher, die Sitzhaltung stimmt ebenfalls nicht. Das Foto wurde damals schnell improvisiert und zeigt ihn nicht bei einer echten Aufnahme.

Glenn Herbert Gould (* 25. September 1932 in Toronto, Kanada; † 4. Oktober 1982 ebenda) war ein bedeutender kanadischer Pianist des 20. Jahrhunderts und zudem Komponist und Musikautor. Er ist vor allem für seine Bach-Aufnahmen bekannt.

Leben

Nachdem Gould bereits ab seinem dritten Lebensjahr das Klavierspiel von seiner Mutter erlernt hatte, die nach eigenen Angaben entfernt mit dem Komponisten Edvard Grieg verwandt war, besuchte er ab dem Alter von zehn Jahren das Royal Conservatory of Music in Toronto.

Dort studierte er Klavier bei Alberto Guerrero, Orgel bei Frederick C. Silvester und Musiktheorie bei Leo Smith. Den internationalen Durchbruch schaffte er 1955 mit seinem USA-Debüt in New York. Nur Tage später wurde er für das Label Columbia Records verpflichtet, dem er bis an sein Lebensende treu blieb; es entstand die berühmte erste Aufnahme von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen. Zwischen 1955 und 1964 konzertierte Gould ausgiebig in Nordamerika und Europa, darunter auch eine Serie legendärer Auftritte in der Sowjetunion 1957. Zunehmend wurde er jedoch des Konzertierens überdrüssig, da er die Art des Konzertes eines einzelnen Künstlers vor einer großen Menge von Menschen für den Künstler unwürdig und für die Musik ungeeignet hielt. Daher konzentrierte er sich ab 1964 ganz auf die elektronischen Medien und gab bis zu seinem Tod kein einziges öffentliches Konzert mehr. Es entstanden weiterhin zahlreiche Tonaufnahmen für CBS, daneben Ton- und auch Filmaufnahmen für die kanadische Rundfunkgesellschaft CBC, sowie drei Dokumentar-Hörspiele für eben diese. Gould hatte großes Interesse am Aufnahmeprozess und besaß daher ein eigenes Tonstudio, in dem er die Auswirkungen des Zusammenschneidens einer Aufnahme aus unzähligen Versionen („takes“) auf das musikalische Argument erforschte. Mit der Zeit wurde Gould immer kontrollsüchtiger, so dass selbst Zeitungs- und Fernsehinterviews von ihm selbst Wort für Wort verfasst wurden. Goulds Schriften gehören dennoch zum brillantesten, was über Musik geschrieben wurde, und sind gesammelt in zwei Bänden auch auf Deutsch erschienen (siehe Schriften).

1982, nur wenige Monate nach Erscheinen seiner zweiten Aufnahme der Goldberg-Variationen und neun Tage nach seinem 50. Geburtstag starb Gould an den Folgen eines Schlaganfalls. Den enormen Erfolg dieser zweiten Aufnahme, der den der ersten noch in den Schatten stellte, konnte er nicht mehr miterleben.

Repertoire

Goulds Aufnahmen konzentrieren sich auf den Barock, die Klassik und die klassische Moderne. So finden sich nahezu das gesamte Klavierwerk von Johann Sebastian Bach, die meisten Beethoven- und alle Mozartsonaten, das gesamte Klavierwerk von Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg und alle Sonaten für Klavier sowie für Bläser mit Klavierbegleitung von Paul Hindemith.

Goulds teils scharf artikuliertes Spiel ist nicht unumstritten. Während diese Art der Interpretation bei Barockmusik als Cembalo-Imitation sehr erfolgreich war, wurden seine röntgenartig zergliederten Mozart-Sonaten von der Kritik zerrissen. Zu den Komponisten der Romantik und ihren Werken hatte Gould, der sich halb im Scherz einst als „der letzte Puritaner“ bezeichnete, ohnehin größtenteils ein schwieriges Verhältnis, weil er in den Werken dieser musikalischen Epoche das strukturelle Element der Musik zu sehr vernachlässigt sah. Allerdings existieren trotzdem einige Aufnahmen romantischer Musik, wie z. B. zehn Intermezzi und vier Balladen von Johannes Brahms, fünf Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn Bartholdy, die Klaviersonate Nr. 3 h-moll von Frédéric Chopin (dessen Musik er genau wie die Robert Schumanns eigentlich ablehnte), Klaviersonaten von Alexander Skrjabin und Klaviermusik, Lieder und das Melodram Enoch Arden von Richard Strauss sowie der Mitschnitt der legendären Aufführung des 1. Klavierkonzertes von Johannes Brahms mit Leonard Bernstein am Dirigentenpult. Außerdem spielte Gould mit einem Orchester Wagners Siegfried-Idyll ein, das er auch zusammen mit einigen anderen Transkriptionen Wagnerscher Werke für den Konzertflügel aufnahm. Zu dieser Art von Aufnahmen zählen auch die Transkriptionen von Beethovens 5. und 6. Symphonie durch Franz Liszt (gegenüber dessen eigenen Werken er ebenfalls eine starke Abneigung hegte), die er 1968 für die Columbia (5. Symphonie) bzw. das kanadische Radio (6. Symphonie) auf Tonträgern festhielt.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auf die Vielzahl von Goulds Aufnahmen detaillierter einzugehen. Für einen kompletten Katalog seiner Aufnahmen sei auf die Weblinks verwiesen.

Goulds Interpretationen

Der in nahezu allen seinen Aufnahmen leise, aber hörbar mitsummende Gould genießt heute noch ein einzigartiges Ansehen, insbesondere aufgrund seiner Bach-Aufnahmen mit den zwei legendären Einspielungen der Goldberg-Variationen, einem Werk, das mit dem Namen Glenn Gould und seiner Lebensgeschichte untrennbar verbunden ist. Nach wie vor aber werden seine intellektuell anspruchsvollen Interpretationen bei Hörern klassischer Musik meist entweder begeistert aufgenommen oder energisch abgelehnt. Dies liegt offenbar an seinem oft ungewöhnlichen Verständnis allgemein bekannter und etablierter Werke, die er von einem nicht romantisierenden Standpunkt aus betrachtete und interpretierte. Es ist aber eine nicht den Tatsachen entsprechende - jedoch häufig angeführte - Behauptung, Goulds Klavierspiel sei unsensibel oder gar mechanisch. Seine Spielweise war zwar stets bis ins letzte Detail durchdacht, stark von seinem Intellekt geprägt und unkonventionell, jedoch ist er in seinen Aufnahmen als wandlungsfähiger und auf seine eigene, besondere Art tief empfindender Künstler zu erleben. Strittig war oft seine Wahl extrem schneller (und bisweilen auch langsamer) Tempi, die aber trotzdem nicht auf Kosten der Transparenz und Klarheit der musikalischen Darbietung ging. Seine untraditionelle Spieltechnik, die wohl das Produkt des langjährigen Klavierunterrichts durch die Mutter in seiner Kindheit war und kaum der eines normalen Pianisten ähnelte, ermöglichte ihm diese technische Virtuosität, die oft als seelenlos dargestellt wurde. Sein überwiegend für Barockmusik gewähltes Non-legato-Spiel (nicht staccato!) war als ungewöhnliches Stilmittel bei vielen Kritikern und romantisch orientierten Hörern verpönt und maßgeblich mitverantwortlich für seinen Ruf als Exzentriker.

Datei:Glenn Gould 1959.jpg
Vor einem Auftritt mit Orchester, 1959.

Durch seine einzigartige Technik versuchte er aber auch die klanglichen Möglichkeiten seines Instruments zu erweitern. Durch spezielle Arten des Anschlags vermochte er auf dem Klavier Stücke regelrecht zu orchestrieren, indem er, was auf diesem Instrument recht schwierig ist, bei polyphoner Musik die einzelnen Stimmen in unterschiedlichen „Klangfarben“ spielte.

Tatsächlich lag es Gould fern, in seinen Interpretationen romantische Effekte zu erzielen, wie es viele andere Pianisten z. B. durch rhythmische Freiheiten zu erreichen suchen. Beispielsweise spielte Gould Barockmusik streng rhythmisch, was ihm von Seiten der Kritik oftmals zum Verhängnis wurde. Jedoch wirken beispielsweise seine Bach-Interpretationen gerade durch ihre rhythmische Intensität für viele Hörer mitreißend. Die Aufnahmen der Werke Johann Sebastian Bachs waren es auch schließlich, die hauptsächlich seine bis heute anhaltende Geltung begründeten. Er tat sich aber ebenso als Interpret der Werke Ludwig van Beethovens hervor, die in seinen Einspielungen mit großer Leidenschaft, teils jugendlich-ungestüm, teils nachdenklich-stimmungsvoll erklingen. Weiterhin gilt er als großer Schönberg-Interpret. Allerdings ist auch sein respektloses Verhältnis zu Mozart bekannt, das sich in einer heftig umstrittenen Gesamtaufnahme seiner Klaviersonaten niederschlug.

Zum tieferen Verständnis von Goulds Interpretationen muss gesagt werden, dass er sich nicht als rein wiedergebender Interpret, sondern vielmehr als nachschöpfender, Klavier spielender Komponist verstand. Dies ist letztlich auch der Grund seiner Bemühungen, bekannte Musik in oftmals nicht bekannter, ungewohnter Weise aufzuführen. Es ging ihm darum, Facetten der Musik aufzudecken, die von der Tradition vernachlässigt wurden. In die gleiche Richtung ging sein Streben, wenig populäre Musik zu spielen, wie z. B. die von Bach, die zwar zu allen Zeiten als Meilenstein abendländischer Kunst galt, aber lange Zeit wegen ihrer Komplexität kaum zu größerer Beliebtheit innerhalb breiter Hörerschichten gelangte. Gould versuchte diese Musik nicht wie üblich dem Publikum durch interpretatorische Annäherungen an das populäre romantische Repertoire näher zu bringen, sondern wagte es, Alte Musik in all ihren Eigenheiten lebendig und ohne akademischen Dünkel, aber stets exakt und überdacht zu spielen. Zeugnis vom Erfolg dieser Herangehensweise legen die phänomenalen Erfolge seiner beiden Einspielungen der Goldberg-Variationen ab, von der teilweisen Inakzeptanz durch Kritik und Publikum die bis heute anhaltenden Anfeindungen seiner Person.

Kurz erwähnt seien auch seine Orgel-Einspielungen der Kunst der Fuge von Bach. Die Mikrophone standen so nah an den Orgelpfeifen, dass Windgeräusche hörbar waren, auch wurde so die Raumakustik unterdrückt. Diese dadurch sehr fremd aber ungemein transparent klingenden Aufnahmen wurden von der Fachwelt weitestgehend abgelehnt. Es sind einige der wenigen Einspielungen auf denen Gould nicht auch singend zu hören ist.

Radio-Dokumentationen

Weniger bekannt als seine Musikaufnahmen sind Goulds Radio-Dokumentationen für die CBC, die aber trotzdem die Anerkennung der Kritik fanden. Besonders hervorzuheben ist unter ihnen die Solitude Trilogy, eine Serie von drei Hörspielen über das Leben nördlich des Polarkreises. Sie besteht aus dem ersten Teil The Idea of North, der vom Norden und seinen Bewohnern handelt, The Latecomers, einer Sendung über Neufundland, und The Quiet in the Land, einem Hörspiel über die Mennoniten in Manitoba. Alle Teile der Solitude Trilogy benutzen eine Technik, die Gould selbst „kontrapunktisches Radio“ nannte. Hierbei sprechen mehrere Personen gleichzeitig, aber nicht willkürlich aneinander vorbei. Der Sinngehalt des Gesagten der einzelnen Personen ergänzt sich gegenseitig - ähnlich wie die Stimmen einer Fuge. Goulds Co-Produzent bei diesen Dokumentationen, Lorne Tulk, erzählte einst, dass Gould diese Technik bei The Idea of North aus einer gewissen Notlage heraus entwickelt hatte. Die Sendung durfte nur 60 Minuten dauern, aber Gould besaß Material für weitere 14 Minuten, das er unbedingt verwenden wollte. Auf diese Weise kam ihm, der ohnehin ein großes Faible für die Kompositionstechniken des Barock besaß, die Idee, Gesprochenes wie kontrapunktische Musik zu behandeln. Diese neuartige Technik, die nicht nur die Sprecher untereinander, sondern auch das Gesprochene mit unterlegter Musik verband, in Verbindung mit Goulds großen Fähigkeiten im Schneiden von akustischem Material lassen diese Hörspiele weit aus der Masse herausragen.

Kompositionen

  • Streichquartett op. 1
  • So You Want to Write a Fugue? für vier Stimmen und Streichquartett
  • Klaviersonate (unvollendet)
  • Sonate für Fagott und Klavier
  • Zwei Stücke für Klavier
  • Lieberson Madrigal
  • Kadenzen für Beethovens Erstes Klavierkonzert

Schriften

  • Glenn Gould, Tim Page (Hrsg.) Schriften zur Musik 1. Von Bach bis Boulez. Piper, München, 2002, ISBN 3-492-23614-6.
  • Glenn Gould, Tim Page (Hrsg.) Schriften zur Musik 2. Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Piper, München, 2002, ISBN 3-492-23615-4.
  • Briefe. Piper, München, 1999, ISBN 3-492-22939-5.

Biographien und Verwandtes

  • Kevin Bazzana Wondrous Strange: The Life and Art of Glenn Gould. Oxford University Press, New York, 2004, ISBN 0-19-517440-2.
    Obwohl dies die neueste von allen Gould-Biographien ist, ist sie sicherlich die ausführlichste und vielleicht auch aufschlussreichste aller hier aufgelisteten Publikationen.
  • Kevin Bazzana Glenn Gould. Oder die Kunst der Interpretation. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, 2002, ISBN 3-476-01873-3.
  • Jonathan Cott Telefongespräche mit Glenn Gould. Alexander Verlag, Berlin, 1999, ISBN 3-923854-23-4. (Link zum Verlag)
  • Otto Friedrich Glenn Gould. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1991, ISBN 3-8052-0513-9.
    (nur noch antiquarisch erhältlich)
  • Glenn Gould. Ein Leben in Bildern. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2002, ISBN 3-87584-475-0.
  • John McGreevy: Glenn Gould Variations, By Himself and his Friends. Toronto/New York 1983, versch. ISBN (2. über Gould erschienenes Buch; enthält Schriften von Gould selbst, damals noch nicht in Buchform erhältlich, und von Weggefährten)
  • Geoffrey Payzant: Glenn Gould, Music and Mind. Toronto/New York 1978, 1982², 1993³, versch. ISBN (die erste Biographie; noch zu Goulds Lebzeiten erschienen)
  • Michael Stegemann Glenn Gould. Piper, München, 1996, ISBN 3-492-22284-6. (stark angelehnt an die Werke von Payzant und Friedrich)

Literarische Darstellungen

Filmische Darstellung

  • The Idea of North, Dokumentarfilm von Judith Pearlman, CBS 1970
  • Thirty Two Short Films About Glenn Gould, Kanada, 1993 (IMDb-Link)
  • Glenn Gould - The Alchemist (EMI Classics)
  • Glenn Gould: Jenseits der Zeit (Originaltitel: „Au Delà Du Temps“), Dokumentarfilm von Bruno Monsaingeon, Frankreich/Kanada 2005 (Arte-TV)