Ghetto
Ein Ghetto bzw. Getto ist ein Stadtviertel, in dem eine bestimmte Bevölkerungs- oder kulturell geprägte Gruppe in einer mehr oder weniger strengen Isolation zu leben gezwungen ist. Der Name selbst stammt möglicherweise vom venezianischen Ghetto im Stadtteil Cannaregio, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich eine Gießerei befand (Dialektbegriff ghèto von getto = Guss). Mit einem Dekret vom 29. März 1516 beschloss die Regierung der Republik Venedig, die jüdische Gemeinde dort in einem einzigen Stadtviertel zusammenzufassen.
"Traditionelle" Ghettos
Juden leben in Europa seit der Antike (besonders in den Ländern um das Mittelmeer) und auch in Deutschland seit der Spätantike. Ursprünglich konnten sie fast allen Berufen nachgehen. Es wurde ihnen auch meist volle Handelsfreiheit gewährt, sie durften auch Grundeigentum erwerben. In der mittelalterlichen Stadt lebten bestimmte Gruppen von Handwerkern in einer Straße. So lebten die Juden als Händler meist zentral in der Judengasse ohne besondere Erschwerungen.
Im 13. Jahrhundert erst wurden die ersten Ghettos als abgesperrte Bezirke für Juden in Frankreich (unter Ludwig IX.), Deutschland, Spanien und Portugal an den Rändern der Städte errichtet. Ghettos waren keine Armutsviertel; viele Einwohner waren wohlhabende Handwerker oder Händler. Zudem kamen diese ummauerten Bezirke jüdischen Glaubenslehren entgegen, war dieses Ghetto doch eigentlich ein Eruv, indem die Einwohner auch am Sabbat einfachen Tätigkeiten, wie dem Tragen eines kleinen Gegenstandes oder Schieben eines Handwagens nachkommen konnten, quasi eine kollektiv erweiterte Wohnung. Im öffentlichen Raum außerhalb eines solchen Eruvs sind derartige Tätigkeiten am Sabbat verboten. In vielen Städten waren die Ghettobewohner allerdings erheblichen, zum Teil diskriminierenden Restriktionen unterworfen, etwa in der Frankfurter Judengasse, die von 1462 bis 1796 bestand.
Im Jahre 1555 ließ Papst Paul IV. das Römische Ghetto errichten und verpflichtete die Juden durch einen Kanon, in diesem besonderen Bereich zu leben. Papst Pius V. befahl allen Grenzländern die Errichtung von Ghettos. Anfang des 17. Jahrhunderts wiesen alle Hauptstädte ein Ghetto auf (ausgenommen Livorno und Pisa). Um die Ghettos verliefen Mauern, und nachts wurden die Tore geschlossen. Oft wurden die jüdischen Ghettobewohner gezwungen, außerhalb des Ghettos bestimmte Kennzeichen zu tragen, die sie als Juden auswiesen. Die Ghettos wurden zur Gefangenschaft für ihre Bewohner, die dorthin zwangsweise umgesiedelt wurden, und sie wurden immer wieder zum Ziel von brutalen Angriffen, Raubzügen und Plünderungen.
Die Auflösung des Ghettosystems verdankt sich weitgehend der Französischen Revolution und den liberalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1870 war das römische Ghetto schließlich das einzige der Welt und wurde durch den italienischen König Viktor Emanuel II. bei der Besetzung des Kirchenstaats aufgelöst.
Ghettos im Nationalsozialismus
Vor allem in den während des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern Osteuropas, also Polens und der europäischen Teile der Sowjetunion, aber auch etwa in Griechenland, fand die systematische Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung der jeweiligen Länder durch die deutschen Besatzer ab der ersten Jahreshälfte 1940 statt. Die etwa 500 Ghettos waren Teil des Vernichtungssystems des Nationalsozialismus.
Den Ausgang machte, der Reihenfolge des deutschen Vormarschs entsprechend, Polen, genauer gesagt das Generalgouvernement. Vorbereitende Maßnahmen waren hier zum einen die hier erstmalig von den Deutschen eingeführte Kennzeichnungspflicht für Juden, die von der Zivilverwaltung des Generalgouvernements, dem Generalgouverneur Hans Frank, schon Ende November 1939 auf dem Verordnungsweg durchgesetzt wurde (weiße Armbinde mit Davidsstern), somit ein Vorläufer der später im "Altreich" erfolgten einschlägigen Maßnahmen war. Damit einher gingen Maßnahmen, verordnet vom durch Himmler eingesetzten "Höheren SS- und Polizeiführer Ost" Friedrich-Wilhelm Krüger, welche die Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung einschränkten, nächtliche Ausgangssperren und das Verbot sich außerhalb des derzeitigen Wohnbezirkes niederzulassen. Eine weitere Maßnahme, die im Zusammenhang mit dem Ghettoisierungsprozess Bedeutung erlangen sollte, war die Bildung von sogenannten Judenräten, welche als jüdische Selbstverwaltungsorgane von der deutschen Besatzung als Ansprechpartner für die Belange ihrer Politik gegenüber den jüdischen Gemeinden geschaffen wurden. Sie waren zuerst der Zivilverwaltung gegenüber verantwortlich, später den SS-und Polizeikräften. In der Praxis kam diesen "Judenräten", vor und während der Ghettoisierung, die Aufgabe zu, Mannschaften für Zwangsarbeitseinsätze zusammenzustellen, die Auslieferung der verbleibenden Vermögenswerte der jüdischen Bevölkerung zu organisieren und schließlich sogar, im Zuge der Auflösung der Ghettos ab dem Jahr 1942, lokale Maßnahmen zur Unterstützung der Deportation der Ghettoinsassen in die verschiedenen Vernichtungslager zu ergreifen.
Die Ghettoisierung an sich, die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in teilweise mit Mauern und Kontrollposten umgebenen (so etwa im Warschauer Ghetto) Teilen diverser Städte erfolgte in Polen im großen und ganzen von April 1940 bis Ende 1941. Die drei größten Ghettos waren das Warschauer Ghetto (Oktober 1940, errichtet in einem 1939 von der Militärverwaltung zum Seuchensperrgebiet deklarierten Teil der Stadt), das Ghetto in Lodz (April 1940) sowie - nachdem die Deutschen das eroberte sowjetische Galizien als fünften Distrikt ins Generalgouvernement eingegliedert hatten - das Ghetto in Lemberg (Dezember 1943).
Darüber hinaus existierten weiterhin ebenso Ghettos beträchtlichen Ausmaßes in verschiedenen Städten der besetzten Sowjetunion, so etwa das Rigaer Ghetto, in denen zum einen die restliche örtliche jüdische Bevölkerung konzentriert wurde, die nicht von der ersten Tötungswelle durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in der zweiten Jahreshälfte 1941 erfasst wurde, zum anderen aber vor allem auch ab Ende 1941 aus dem "Altreich" und den eingegliederten Gebieten in Polen deportierte Juden, welche nicht mehr in die Ghettos des Generalgouvernements transportiert wurden, da sich die dortige Zivilverwaltung aus Kapazitätsgründen bereits im Frühjahr 1940 gegen solcherartige Pläne wehrte.
Der Alltag der Ghettos war geprägt von Unterernährung, Krankheit und Tod. Seuchen wie Fleckfieber grassierten aufgrund der hygienischen Bedingungen und der katastrophalen Ernährungssituation. Nahrungsmittel wurden von den deutschen Besatzungsbehörden streng kontingentiert und man bemühte sich, die Kosten für die katastrophale Versorgung der Ghettos noch dadurch zu minimieren, indem man - wo aufgrund der Größe des Ghettos möglich - ghettoeigene Wirtschaftsbetriebe und in externen Betrieben oder Arbeitslagern eingesetzte Arbeitskräfte als Einnahmequelle für sich zu verbuchen suchte.
Ab Anfang 1942 - nachdem auf der Wannseekonferenz das Procedere der "Endlösung" der Judenfrage zwischen den involvierten Stellen des deutschen Reiches abgestimmt worden war - wurde schließlich damit begonnen, die diversen Ghettos schrittweise aufzulösen und ihre Insassen zum größeren Teil in die Tötungszentren der Vernichtungslager zu deportieren (im Fall des Warschauer Ghettos war dies z.B. der Anlass für den verzweifelten dortigen Aufstand, der ab dem Herbst 1942 vorbereitet wurde), teilweise aber auch an Ort und Stelle zu erschießen, wie dies v.a. in der besetzten Sowjetunion, so etwa in Minsk oder Riga, um zwei große Städte zu nennen, der Fall war.
Verwendung des Begriffs "Ghetto" im übertragenen Sinn
Der Begriff "Ghetto" wurde und wird auch in einem teilweise etwas prekär übertragenen Sinn im Zusammenhang mit sozial desolaten Vierteln mit einem hohen Anteil afroamerikanischer oder hispanischer Bevölkerung in Städten der USA verwendet. Grundlage waren hier die implizit sozialen und ökonomischen wie auch unmittelbar legislativen Zwänge der Segregation (einer historischen Rassentrennung), welche tatsächlich zu einer weitgehenden Konzentration der afroamerikanischen Bevölkerung in bestimmten Vierteln der jeweiligen Städte führten.
Diese Tatsache, aber vor allem auch der Umstand, dass die Bewohner dieser Viertel im Gegensatz zu den sich ebenfalls in den großen Städten lokal konzentrierenden Minderheitengruppen der "nichtangelsächsischen" europäischen Einwanderer wie der Italiener, Polen und Iren zusätzlich noch rechtlichen Beschränkungen unterworfen waren, legte den Vergleich der afroamerikanischen Stadtviertel mit tatsächlichen, "klassischen" Ghettos oder Ghetti zumindest nahe. Diese rechtlichen Beschränkungen wurden zwar während der fünfziger und sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durch Einzelklagen und die Bemühungen der amerikanischen "Civil Rights"-Bewegung überwunden, an der ökonomischen Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung allerdings änderte sich nur wenig, so dass nicht nur in den Großstädten der USA häufig soziale Brennpunkte mit größtenteils homogen afroamerikanischer, im Südwesten des Landes in zunehmenden Maße auch hispanischer Bevölkerung weiter existierten und existieren, und auch der Begriff des "Ghettos" in diesem Zusammenhang vor allem aus europäischer Perspektive gerne weiterhin verwendet wird.
Die prominentesten Beispiele eines "Ghettos" in dieser Hinsicht waren vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts - einem Zeitraum im Übrigen, in dem der Begriff des Ghettos in diesem Zusammenhang in der deutschsprachigen Publizistik überhaupt zum Durchbruch kam - der New Yorker Bezirk Harlem und weite Teile des Bezirks Bronx. Schlagzeilen diesbezüglich machten im selben Zeitraum auch die südlichen Stadtbezirke Chicagos und zunehmend große Teile von Los Angeles, das wie viele andere Städte der Vereinigten Staaten auch besonders wieder in den neunziger Jahren eine prekäre Mischung aus flächendeckender Armut und einer exorbitanten Rate an Gewaltverbrechen in den entsprechenden Distrikten erlebte.
Selbst in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren eine Debatte entzündet, in der teilweise im Zusammenhang mit der von manchen als misslungen bewerteten Ausländer- und Integrationspolitik der letzten zwanzig Jahre - unter Heraufbeschwörung des Szenarios einer Entwicklung hin zu den vielzitierten "amerikanischen Verhältnissen" in deutschen Großstädten - von einer "Ghettoisierung" bestimmter Stadtviertel gesprochen wird.
Literatur
Zum "traditionellen" Ghetto
- Silke Berg: Il ghetto di Venezia. Das erste jüdische Getto in Europa, Frankfurt/Main 1996.
- Riccardo Calimani: Die Kaufleute von Venedig. Die Geschichte der Juden in der Löwenrepublik, München 1990.
- Gabriele von Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1996.
- Ronnie Po-chia Hsia (ed.): In and out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, Cambridge 1995.
Ghettos während des Zweiten Weltkriegs
- Andrej Angrick, Peter Klein: Die "Endlösung" in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Darmstadt 2006. ISBN 3534191498
- Christopher R. Browning: Die nationalsozialistische Ghettoisierungspolitik in Polen 1939-1941, in: Ders.: Der Weg zur 'Endlösung'. Entscheidungen und Täter, Hamburg 2002, S. 39-70.
- Adam Czerniaków: Im Warschauer Ghetto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939 - 1942, München 1986.
- Bernard Goldstein: Die Sterne sind Zeugen, Hamburg 1950.
- Bernard Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf, Berlin 1959.
- Eric J. Sterling: Life in the Ghettos During the Holocaust, Syracuse 2005.
- Michal Unger: The Last Ghetto. Life in the Lodz Ghetto 1940 - 1944, Jerusalem 1995.
- Erhard Roy Wiehn: Ghetto Warschau. Aufstand und Vernichtung. Fünfzig Jahre danach zum Gedenken, Konstanz 1993
- Avraham Tory: Surviving the Holocaust. The Kovno Ghetto Diary, hg. von Martin Gilbert, Cambridge 1990.
Ghetto im übertragenen Sinn
- Ulrich Best, Dirk Gebhardt: Ghetto-Diskurse. Geographie der Stigmatisierung in Marseille und Berlin, Potsdam 2001.
- Gerhard Milchram (Hg.): Walled Cities und die Konstruktion von communities - das europäische Ghetto als urbaner Raum, Wien 2001.
- Jens Sambale, Volker Eick: Das Berliner Ghetto - ein Missverständnis, in: Clara Meister, Anna Schneider, Ulrike Seifert (Hg.): Ghetto - Image oder Realität?, Berlin 2005, ISSN: 1861 - 4590, Leseprobe (PDF, 1,6 MB)
- Louis Wirth: The Ghetto, New Brunswick 1998.
Siehe auch
Weblinks
- Commons: Ghetto – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
- shoa.de - Jüdische Ghettos
- Jüdische Ghettos
- Liste der Ghettos
- Wilhelm Raabe - Holunderblüte Eine Erinnerung an das Prager Ghetto
- Das venetianische Ghetto
- Das Berliner Scheunenviertel - das „freiwillige" Ghetto
- Schulprojekt über das jüdische Leben in der Nazi-Zeit