Gesetze zur Homosexualität
Die Zeichnung bezieht sich auf die Frankfurter Prozesswelle von 1950/51, die zu einer Reihe von Selbstmorden führte.
Der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB), welcher zuerst die "widernatürliche Unzucht" (Analverkehr) und dann jede Form der "Unzucht" zwischen Männern unter Strafe stellte, existierte von der Deutschen Reichsgründung (1871) bis zum Jahr 1994, als er im Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR wegfiel. Er war jedoch bereits 1969 reformiert worden, so dass er sich die letzten 25 Jahre nur noch auf Sex mit männlichen Minderjährigen bezog und selten Anwendung fand. Davor aber hatten etwa eine viertel Millionen Männer wegen Paragraph 175 vor Gericht gestanden, von denen weit über 100.000 zu manchmal langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Kaiserreich und Weimarer Republik
Seit den 1890er Jahren kämpften Sexualreformer, allen voran das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK), gegen den "Schandparagraphen" 175 und fanden dabei schnell Unterstützung bei den linken Parteien. Da es jedoch in der Weimarer Republik nie zu keiner Koalition zwischen SPD und KPD kam, fiel auch die angestrebte Reform aus.
Der 1925 von einer Mitte-Rechts-Regierung vorgelegte Entwurf für ein neues Strafrecht (E 1925) plante erstmals sogar eine Verschärfung des Paragraphen 175. So sollte zusätzlich zum Paragraphen 296, der sich weitgehend mit dem alten Paragraphen 175 deckte, der Paragraph 297 geschaffen werden. Er sah vor, so genannte "qualifizierte" Fälle wie homosexuelle Prostitution, Sex mit männlichen Jugendlichen unter 21 Jahren sowie Missbrauch von Männern in einem Dienst- und Arbeitsverhältnis als "schwere Unzucht" und damit als Verbrechen statt als Vergehen einzustufen. Für diesen neuen Tatbestand sollten nicht mehr nur beischlafähnliche Handlungen relevant sein, sondern auch andere Formen der homosexuellen Betätigung wie z.B. gegenseitige Masturbation.
Zur Begründung der beiden neuen Paragraphen beriefen sich die Verfasser auf den Schutz der "Volksgesundheit":
- "Dabei ist davon auszugehen, daß der deutschen Auffassung die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft." (Zit. n. Stümke 1989, 65 f.)
Als dieser Entwurf im Jahr 1929 vom Strafrechtsausschuss des deutschen Reichstags diskutiert wurde, gelang es KPD, SPD und DDP zunächst, eine Mehrheit von 15:13 Stimmen gegen den Paragraphen 296 zu mobilisieren. Gleichzeitig wurde aber mit übergroßer Mehrheit – gegen nur drei Stimmen der KPD – die Einführung des neuen Paragraphen 297 beschlossen. Doch auch dieser Teilerfolg, den das WhK als "einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück" charakterisierte, wurde im März 1930 zunichte gemacht, als der Interparlamentarische Ausschuß für die Rechtsangleichung des Strafrechts zwischen Deutschland und Österreich mit 23:21 Stimmen den Paragraphen 296 wieder in das Reformpacket aufnahm. Zu dessen Verabschiedung kam es allerdings nicht mehr, da die Präsidialkabinette der frühen 30er Jahre das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren weitgehend zum Erliegen brachten.
"Drittes Reich"
1935, zwei Jahre nachdem der Reichstag die Macht an die Nazis übergeben hatte, verschärften diese den Paragraphen 175 auf dreierlei Weise: Erstens verdoppelten sie im Zuge einer Umdefinition vom Vergehen zum Verbrechen den Strafrahmen, zweitens übernahmen sie aus dem Strafrechtsentwurf von 1925 die Idee, einen Tatbestand der "schweren Unzucht" zu schaffen (Paragraph 175a), und drittens strichen sie das Adjektiv "widernatürlich", das die Anwendbarkeit des Gesetzes auf den Analverkehr beschränkte. Unter dem neuen Paragraphen reichte zur Erfüllung des Tatbestands der Unzucht daher schon ein "unzüchtiger Blick", etwa auf einer öffentlichen Toilette.
In der amtlichen Begründung wurde die Novellierung des Paragraphen 175 mit dem Interesse an "der sittlichen Gesunderhaltung des Volkes" gerechtfertigt, denn "erfahrungsgemäß" habe Homosexualität die "Neigung zu seuchenartiger Ausbreitung" und übe "einen verderblichen Einfluß" auf die "betroffenen Kreise" aus.
Die Verschärfung zog eine Verzehnfachung der Zahl der Verurteilungen auf jährlich 8.000 nach sich. Darüber hinaus konnte die Gestapo schwule Männer jederzeit in ein Konzentrationslager verschleppen. Dazu war weder eine Anklage notwendig, noch schützte ein Freispruch davor. Hauptsächlich aber waren es so genannte Wiederholungstäter, die man nach dem Ende ihrer Haftzeit zur nachträglichen "Umerziehung" in ein Konzentrationslager zwang. Nur etwa 40 Prozent jener etwa 10.000 Männer, die mit dem Rosa Winkel gekennzeichet wurden, gelang es, das infernalische Lagersystem zu überleben. Einige von ihnen wurden nach ihrer Befreiung durch die Alliierten zurück an ein Gefängnis überstellt, weil sie ihre Freiheitsstrafe noch nicht fertig verbüßt hatten.
Nachkriegszeit
1950 kehrte die DDR zur Weimarer Fassung des Paragraphen 175 zurück, während die Bundesrepublik dessen Nazifassung beibehielt. Am 10. Mai 1957 verteidigte das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung. Der Paragraph 175 sei "nicht in dem Maße 'nationalsozialistisch geprägtes Recht'", dass ihm "in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse". Zwischen 1945 und 1969 wurde gegen ungefähr 100.000 Männer Anklage erhoben und ca. 50.000 Männer zu Gefängnisstrafen verurteilt. Eine Verhaftungs- und Prozesswelle in Frankfurt zeitigt 1950/51 erschütternde Folgen:
- "Ein Neunzehnjähriger springt vom Goetheturm, nachdem er eine gerichtliche Vorladung erhalten hat, ein anderer flieht nach Südamerika, ein weiterer in die Schweiz, ein Zahntechniker und sein Freund vergiften sich mit Leuchtgas. Insgesamt werden sechs Selbstmorde bekannt. Viele der Beschuldigten verlieren ihre Stellung." (Kraushaar 1997, 62).
Am 25. Juni 1969 wurde kurz vor Ende der Großen Koalition von Bundeskanzler Kiesinger der Paragraph 175 erstmals reformiert und auf Sex mit Minderjährigen beschränkt. Das so genannte Schutzalter lag zunächst bei 21 Jahren und wurde 1973 auf 18 Jahre abgesenkt. Die DDR hatte ihren Paragraphen dagegen bereits 1968 reformiert. Und sie war es auch, die ihn 1988 als erste abschaffte. In der Bundesrepublik dagegen war der Wegfall des Paragraphen 175 vor allem eine Folge der Rechtsangleichung mit der ehemaligen DDR. Da sich sich der Bundestag bis 1994 – dem Jahr, an dem die Frist für die Rechtsangleichung ablief – nicht dazu entschließen konnte, den Paragraph 175 auch auf Ostdeutschland auszuweiten, musste er aus verfassungsrechtlichen Gründen gestrichen werden.
Gleichzeitig entstand jedoch der Paragraph 182, der das allgemeine Schutzalter unter bestimmten Voraussetzungen von 14 auf 16 Jahre anhob. Da dies parallel zur Streichung des Paragraphen 175 geschah, mutmaßten Kritiker wie die lesbische Bundestagsabgeordnete Christina Schenk, dass das Gesetz geschaffen wurde, um Eltern ein Rechtsmittel gegen die gesellschaftlich nicht erwünschten homosexuellen Kontakte ihrer pubertierenden Kinder an die Hand zu geben.
Entschädigung
Die Opfer des Paragraphen 175 sind bis heute nicht entschädigt worden.
Allerdings hat der Bundestag am symbolhaften 17. 5. 2002 gegen die Stimmen von CDU und FDP eine Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes beschlossen. Dadurch wurden die Urteile gegen Homosexuelle und Wehrmachts-Deserteure in der Zeit des Nationalsozialismus für nichtig erklärt. Der rechtskonservative CSU-Politiker Norbert Geis bezeichnete die generelle Aufhebung als "Schande". Kritik wurde jedoch auch von linker Seite laut, da der Bundestag die Urteile nach 1945 unangetastet ließ, obwohl die Nazifassung des Paragraphen 175 erst im Jahr 1969 revidiert wurde.
Literatur
- Elmar Kraushaar: Unzucht vor Gericht : Die "Frankfurter Prozesse" und die Kontinuität des § 175 in den fünfziger Jahren. In: Ders. (Hrsg.): Hundert Jahre schwul : Eine Revue. Berlin 1997.
- Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland : Eine politische Geschichte. München 1989.
- Burkhard Jellonnek: Homosexuelle unter dem Hakenkreuz : Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990.
Siehe auch: Rosa Winkel, Homosexualität, Heteronormativität, § 176 StGB, Sodomiterverfolgung
Weblinks
- Die Liberalisierung des § 175 – Die Debatte um die Liberalisierung des § 175 StGB in den 50er und 60er Jahren