Geiselnahme von Gladbeck
Als Gladbecker Geiseldrama wird ein Verbrechen bezeichnet, das sich im August 1988 ereignete. Aus einem gescheiterten Banküberfall durch zwei Täter in der nordrhein-westfälischen Stadt Gladbeck entwickelte sich eine Flucht quer durch Deutschland mit mehrfacher Geiselnahme, bei der es insgesamt drei Tote (zwei Geiseln und ein Polizist) und viele Verletzte gab.
Das Geiseldrama erregte in der Öffentlichkeit viel Aufsehen, da Journalisten die Geiselnehmer wie Medienstars behandelten.
Chronik der Ereignisse
16. August
Am Morgen des 16. August 1988 drangen die beiden vermummten und mit einer Colt M1911 A1 und einem Smith & Wesson Revolver bewaffneten Täter Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner (zum damaligen Zeitpunkt 32 und 31 Jahre alt) vor Schalteröffnung in eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck in Nordrhein-Westfalen ein. Die Bank befand sich im Atriumbereich des Geschäftszentrums Rentfort-Nord an der Schwechater Straße 38 und war nur von zwei Seiten zugänglich. Auf der Rückseite befanden sich hochgelegene Oberlichter, die auf einen breiten, um den gesamten Gebäudekomplex führenden Versorgungsweg führten. Der Eingangsbereich lag in einem der vier überdachten Zugangsbereiche des Atriums. Links und rechts der Bank befanden sich weitere Ladenlokale. So war es für Degowski und Rösner aus der Bank heraus kaum möglich, die potentiellen Fluchtwege zu beobachten. Sie hatten lediglich einen Teileinblick auf das Atrium sowie einen Blick auf die zwei überdachten Zugänge zum Atrium zur linken Seite und zur – weiter entfernten – rechten Seite. Der Zugang auf der linken Seite führte auf den für den Verkehr gesperrten Versorgungsweg, der auf der rechten Seite zur Straße.
Um 8:04 Uhr ging bei der Polizei der Notruf eines Arztes ein, der seine Praxis im ersten Obergeschoss des selben Gebäudeteils hatte und die Täter beim Eindringen in die Bank unbemerkt beobachtete. Die ersten eintreffenden Beamten parkten ihren Streifenwagen direkt vor dem zur Straße führenden Zugang zum Atrium. Als Degowski und Rösner die Bank – zunächst noch ohne Geiseln – verließen, bemerkten sie das Fahrzeug sofort. Sie kehrten in die Bank zurück, nahmen zwei Bankangestellte als Geiseln und forderten einen Fluchtwagen und Lösegeld.
Bereits hier gaben sie, um ihre Forderungen zu unterstreichen, die ersten Schüsse ab. Ein Rundfunksender bekam das erste Interview.
Sie erhielten nach stundenlangen Verhandlungen 300.000 DM (153.388 Euro) und einen Fluchtwagen. Um 21:45 Uhr fuhren sie mit den Geiseln los. Noch in Gladbeck stieg Marion Löblich zu, die Freundin Rösners.
17. August
Sie fuhren über die Autobahn nach Bremen, wo sie im Ortsteil Huckelriede am 17. August um 19:00 Uhr einen Bus der Linie 53 mit 32 Fahrgästen an Bord in ihre Gewalt brachten und kaltblütig der Presse Rede und Antwort standen. Auch die Opfer, denen die Pistole an die Kehle gehalten wurde, wurden interviewt. Unter den Fahrgästen waren auch Silke Bischoff und Ines Falk (damals Ines Voitle), zwei befreundete junge Frauen aus Bremen.
Nachdem sie fünf der Geiseln freigelassen hatten, fuhren sie mit 27 Geiseln wieder auf die Autobahn, diesmal bis zur Raststätte Grundbergsee. Dort wurden die beiden Bankangestellten freigelassen.
Zwei Polizeibeamte nahmen ohne dienstlichen Auftrag Marion Löblich fest, als diese die Toilette der Raststätte besuchen wollte. Rösner und Degowski verlangten die sofortige Freilassung Löblichs und drohten die Erschießung einer Geisel an. Nach Ablauf der gesetzten fünf Minuten schoss Degowski dem 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi in den Kopf. Ca. eine Minute später wurde Löblich freigelassen. Ihre Freilassung verzögerte sich, weil in der Hektik der Schlüssel für die Handschellen abgebrochen war. Da die Polizei es versäumt hatte, Rettungsfahrzeuge bereit zu halten, verblutete Emanuele. Es ist medizinisch erwiesen, daß der Junge nicht umgehend tot war und eine sofortige Versorgung das Leben des Jungen möglicherweise gerettet hätte. Der Bus fuhr dann weiter in die Niederlande. Bei der Verfolgung verunglückte ein Polizist tödlich, ein weiterer wurde schwer verletzt.
18. August
Am Morgen des 18. August, um 2:30 Uhr, überquerte der Bus die Grenze. Um 5:15 Uhr wurden zwei Frauen und drei Kinder freigelassen. Dafür bekamen die beiden Täter um 6:30 Uhr einen BMW 735i als neues Fluchtauto. Als die Geiseln versuchten zu fliehen, wurden der Busfahrer und Marion Löblich verletzt.
Mit zwei verbliebenen Geiseln aus Bremen, Silke Bischoff und Ines Voitle, fuhren Degowski und Rösner ins Rheinland nach Köln. Dort sprachen sie um 11:00 Uhr mit Journalisten und Passanten. Hier boten sich einige Journalisten als Lotsen an und zeigten den Geiselnehmern Fotos von Polizisten, damit diese ihnen nicht im Austausch gegen die Geiseln untergeschmuggelt werden konnten. Nach diesen makabren Szenen kam es zu einem regelrechten Wettrennen der Journalisten um die besten Bilder. Um 12:00 Uhr fuhren die Geiselnehmer auf der A3 weiter in Richtung Frankfurt am Main. Zwischen Köln und der Raststätte Siegburg fuhr der Journalist Udo Röbel im Fluchtwagen mit.
In Höhe von Bad Honnef, kurz vor der Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, griff ein Spezialeinsatzkommando der nordrhein-westfälischen Polizei mit einem dramatischen Ramm-Manöver und Waffengewalt ein. Ursprünglich war beabsichtigt, den Motor des präparierten Fluchtfahrzeuges durch eine Fernsteuerung auszuschalten. Die für die Fernsteuerung notwendige Fernbedienung war jedoch irgendwo vergessen worden. Im Rahmen der Befreiung wurde das Fahrzeug von ca. 60 Kugeln aus Polizeiwaffen getroffen. Silke Bischoff wurde von Rösner durch einen Schuss, der zuerst das linke Handgelenk und die daran befindliche Armbanduhr durchschlug und dann genau ins Herz traf, erschossen. Laut Aussage der Ermittlungen hat sich der Schuss unbeabsichtigt aus der Pistole von Rösner gelöst. Ines Voitle wurde durch einen Streifschuss am Rücken verletzt, als sie während des Zugriffs aus dem noch fahrenden Auto sprang.
Das Innenministerium von Rheinland-Pfalz hatte bereits den Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) um Übernahme der Aktion gebeten, und Beamte der GSG 9 standen hinter der Grenze zum Zugriff bereit.
Gerichtsverfahren
Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski wurden am 22. März 1991 vom Landgericht Essen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Sie kamen in nordrhein-westfälische Gefängnisse. Marion Löblich bekam eine neunjährige Haftstrafe, die sie vollständig verbüßte.
2002 lehnte das Oberlandesgericht Hamm „wegen der besonderen Schwere der Schuld“ eine vorzeitige Haftentlassung von Degowski ab. Die Haftdauer wurde auf mindestens 24 Jahre festgelegt, so dass er frühestens im Januar 2013 entlassen werden kann.
Rösners Gesuch nach vorzeitiger Entlassung lehnte das Oberlandesgericht Hamm im Januar 2004 ab. Ebenfalls abgelehnt wurde eine Haftverkürzung, so dass Rösner seine Haft bis Februar 2016 verbüßen muss. Da zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wird er auch nach dem Verbüßen seiner Haftstrafe nicht aus dem Gefängnis kommen.
Politische Kontroversen entstanden, als Degowski Freigänge durch die Stadt Werl bekam. Diese Stadt, in der die Haftanstalt liegt, durfte er unauffällig gefesselt in Begleitung zweier bewaffneter Beamter besuchen.
Verarbeitung
Da das Gladbecker Geiseldrama ein traumatisches Ereignis mit möglichen Lehren für die Zukunft war, wurde mehrfach die Errichtung einer Gedenkstätte in Betracht gezogen, die zugleich der öffentlichen Verarbeitung der Ereignisse dienen soll. Dieses Vorhaben wurde allerdings trotz des regen öffentlichen Interesses nie umgesetzt.
Öffentliches Interesse
Durch Live-Berichte und Interviews machte das Fernsehen die beiden Verbrecher, den 32-jährigen Dieter Degowski und den 31-jährigen Hans-Jürgen Rösner, zu Medienstars. Das sensationshungrige Verhalten der Presse rief in der Öffentlichkeit Empörung hervor. Auch die Taktik der Polizei wurde heftig angegriffen. Ihr wurden Organisationsfehler und psychologisches Ungeschick vorgeworfen. Der Bremer Innensenator Bernd Meyer trat wegen polizeilicher Fehler zurück.
Das Verhalten der Journalisten in Bremen wurde nicht ganz richtig bewertet. Aufgrund der chaotischen Situation gelang es Journalisten, die Freilassung von fünf Geiseln zu erreichen. Auch die Freilassung der beiden Bankangestellten auf der Raststätte Grundbergsee wurde durch Journalisten im Gespräch mit Rösner erreicht.
Auch waren es Journalisten, die nach dem Schuss von Degowski auf den jungen Emanuel den Verletzten aus dem entführten Bus zum Notarzt brachten, allerdings geschah das erst 20 Minuten nach dem Schuss, und der Junge verblutete. Die Reporter hielten allerdings den herabhängenden Kopf des Jungen noch einmal fotogerecht in die Kamera.
Dennoch waren es immer wieder Journalisten, die verhinderten, dass Polizisten die Täter fassen konnten. Die Medien hatten eine nicht unerhebliche Teilschuld am Tod der Geiseln.
Als Konsequenz aus dem Verhalten der Journalisten während des Geiseldramas hat der Deutsche Presserat am 7. September 1988 festgestellt, dass es „Interviews mit Geiselnehmern während des Geschehens nicht geben darf“ und es „nicht die Aufgabe von Journalisten sei, eigenmächtig Vermittlungsversuche zu unternehmen“ und den Pressekodex entsprechend erweitert.
Künstlerische Verarbeitung
- Nach Silke Bischoff benannte sich eine Dark-Wave-Gruppe, heute nennt sie sich aus rechtlichen Gründen 18 Summers, was sich auf das Alter von Silke Bischoff zum Zeitpunkt ihrer Ermordung bezieht.
- Der Film Terror 2000 von Christoph Schlingensief entstand in Anlehnung an das Gladbecker Geiseldrama.
- Der von ARTE und ZDF 1999 ausgestrahlte Fernsehfilm „Ein großes Ding“ (von Bernd Schadewald) stellte in einer Mischung aus Reality und Drama die Ereignisse der Geiselnahme dar.
- Mitte der 1990-er Jahre entstand für den Sender RTL ein aufwändiges Doku-Drama über die Ereignisse, in welchem auch direkt Beteiligte zu Wort kamen.
- Im Liedtext von „Hier“ auf dem ersten Album „Wichtig“ der Hamburger Gruppe Die Sterne ist vom sogenannten Rösner-Degowski-Syndrom die Rede.
- Die deutsche Rockband Hammerhead brachte mit der Covergestaltung ihres Debütalbums, das ein Foto von den Ereignissen in Gladbeck zeigt, ihre Bestürzung zum Ausdruck.