Norbert Denef



Norbert Denef (* 5. Mai 1949 in Delitzsch) war in den Jahren 2010 bis 2018 Vorsitzender des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt (netzwerkB). Denef selbst ist Betroffener sexuellen Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche.[1]
Leben und Beruf
Denef wurde in seiner Heimatstadt Delitzsch als Messdiener vom 10. bis zum 16. Lebensjahr von einem Priester und vom 16. bis zum 18. Lebensjahr von einem Organisten missbraucht.
Der erste Täter, Alfons Kamphusmann (1924–1998), war 1952 zum Priester geweiht worden. Er war Vikar und Kurator in der Propstei zu Halle, dann in Droyßig, Delitzsch, Nordhausen, Langenweddingen, Hecklingen, Wittenberg-Piesteritz und Niedertiefenbach (Bistum Limburg) tätig. 1990 ging er in den Ruhestand und verstarb acht Jahre später. Der zweite Täter, Organist und Chorleiter der Gemeinde, lebt im Ruhestand und wurde nie belangt.
Denef blendete das Geschehene lange aus, hatte sogar den Priester zu seiner Hochzeit eingeladen und sich von ihm 1973 trauen lassen.
Denef lebte in seinem weiteren Dasein unauffällig, er war Techniker im Opernhaus Leipzig bis 1981 und an der Alten Oper in Frankfurt am Main von 1981 bis 1988, dann Technischer Leiter am Bürgerhaus Dietzenbach von 1991 bis 1998 und am Stadttheater Rüsselsheim von 1991 bis 1998. Bis 2012 war er im Facility Management der Stadtverwaltung von Rüsselsheim tätig. Denef ist Vater von zwei Kindern.
Aufarbeitung
Im 40. Lebensjahr erlitt Denef einen seelischen Zusammenbruch. Er musste lernen, über sein Schicksal zu sprechen, was ihm erstmals im November 1993 in der Familie gelang.[2] Das Bistum Magdeburg bot ihm im Jahr 2003 eine Entschädigung für sein erlittenes Leid an, jedoch in Verbindung mit einer Schweigeverpflichtung. Im Jahr 2005 erhielt er vom Bistum schließlich 25.000 Euro ohne Schweigeverpflichtung. Norbert Denef gilt als das erste Opfer in Deutschland, das von der römisch-katholischen Kirche eine Entschädigung erwirken konnte.[3]
Denef leidet auch heute noch an den Folgen des jahrelangen Missbrauchs, unter anderem Depressionen und weiteren Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge von sexuellen Missbrauchs in der Kindheit.[4][5] 2007 erschien Denefs Buch Ich wurde sexuell missbraucht.[6] Auf Grundlage des Buchs entstand das Theaterstück Alles muss raus!, das am 20. September 2008 im Frankfurter Autoren Theater uraufgeführt wurde.[7]
Norbert Denef reichte eine Petition zur Abschaffung der Verjährungsfristen für Vergehen bei Pädokriminaliät im Zivilrecht ein, die der Deutsche Bundestag im Dezember 2008 ablehnte. Denef kämpft daraufhin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür, dass im Zivilrecht die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch abgeschafft wird.[8][9] Die Klage wurde ohne Angabe einer Begründung abgewiesen.
Im Dezember 2009 suchte Denef die Pfarrgemeinde St. Marien in seiner Heimatstadt Delitzsch auf. Eine Gesprächsmöglichkeit erhielt er nicht. Denef hinterließ einen offenen Brief an der Tür der Kirche. Daraufhin erhielt er zweimal eine Klageandrohung.[10]
Im Frühjahr 2010 gründete Denef mit anderen Betroffenen das Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt, kurz netzwerkB. Zu den Kernforderungen der Organisation zählen die Abschaffung der Verjährungsfristen, die Anzeigepflicht von Kindesmissbrauch, die Aufklärung zurückliegender Straftaten und eine angemessene Entschädigung.
Beim Ökumenischen Kirchentag 2010 (12.–16. Mai 2010 in München) machte Denef erfolgreich auf die Missachtung der Opfer aufmerksam. Dort wurde das Thema Missbrauch zwar in eigenen Podien erörtert, jedoch war kein einziges Missbrauchsopfer als Diskutant eingeladen worden. Die Kirchentagsleitung sagte zur Begründung, dass man die Opfer vor „Voyeurismus“ schützen wolle. Denef kritisierte, dass auf den Podien „Vertreter der Vertuscher und Täter“ säßen.[11] Bei einer Veranstaltung protestierte er während der Ansprache von Klaus Mertes lautstark gegen die fehlende Repräsentanz der Opfer. Bischof Stephan Ackermann sagte daraufhin: „Der Mann hat doch Recht […] Ich habe das Gefühl, dass die Opfer aus dem Blick geraten.“[12][13][14][15] Die Tagesschau berichtete über den Vorfall.[16]
Für die Verleihung des taz-Panter-Preises im September 2011 war Denef unter den ausgewählten Kandidaten, erhielt jedoch keinen Preis.
Am 6. Dezember 2011 war Norbert Denef zum Bundesparteitag der SPD als Gastredner eingeladen und sprach über die Situation und Leiden der Opfer. Der Parteitag beschloss einstimmig, sich für eine Aufhebung der Verjährungsfristen im Bundestag einzusetzen.[17]
Am 8. Juni 2012 begann Denef einen Hungerstreik und erklärte: „Ich bin im Hungerstreik, weil die Bundestagsfraktion der SPD nicht dazu bereit ist, sich im Deutschen Bundestag für die Aufhebung der Verjährungsfristen von sexualisierter Gewalt einzusetzen, gleichwohl sich die Delegierten des Bundesparteitages der SPD am 6. Dezember 2011 eindeutig dafür ausgesprochen haben.“[18] Zahlreiche Medien berichteten über den laufenden Hungerstreik,[19] beispielsweise die taz,[20] die Zeit,[21] der Spiegel[22] und die Welt.[23] Weitere Betroffene schlossen sich dem Hungerstreik an[24] oder unterstützten Denef mit einer eigenen Aktion.[25] Am 13. Juli 2012 suchte Denef das Gelände vor dem Reichstag auf, um mit Politikern der SPD ins Gespräch zu kommen.[26][27] Die Polizei behinderte dabei ein Interview mit der Agentur Reuters.[28] Etwa zeitgleich erreichte die Petition von netzwerkB bei Avaaz über 60.000 Unterschriften.[29] Der Deutsche Bundestag weigerte sich, die Unterschriften anzunehmen. Denef beendete seinen Hungerstreik nach 46 Tagen am 24. Juli.[30] Der Gesetzesentwurf der SPD vom 9. Oktober 2010 wurde auf besonderen Geschäftsordnungsantrag hin am 26. September 2012 im Bundestag behandelt.[31]
Im Mai 2013 wurde die Verlängerung der Verjährungsfristen (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs) vom Bundesrat bestätigt.[32] 2016 erfolgte eine weitere Reform des Sexualstrafrechts.[33]
Im November 2013, zum zwanzigsten Jahrestag, an dem Denef sein Schweigen gegenüber seiner Herkunftsfamilie gebrochen hatte, reiste Denef nach Rom, um ein Gespräch mit dem Heiligen Stuhl zu suchen.[34] Er demonstrierte auf dem Petersplatz. Ein Gespräch fand nicht statt.[35][36] Im April 2018 sprach Norbert Denef zuletzt mit Hans Zollner, der Denefs Vorschlag des Aktes einer Versöhnung der Päpstlichen Kinderschutzkommission unterbreiten möchte.[37]
Im April 2018 unterrichtete Norbert Denef die Öffentlichkeit über seine Krebserkrankung.[38] Nachdem Norbert Denef Chemo, Bestrahlung, Operation und die Anlage eines Stomas überstanden hatte, berichtete er darüber, dass er aufgrund seines Traumas die medizinischen Vorsorgeuntersuchungen nie hatte wahrnehmen können. Er sah die Verantwortung beim Bistum Magdeburg, das über die Taten des Pfarrers jahrelang Bescheid gewusst hatte. Denef stellte die Forderung nach einer Kompensation in Höhe von einer Million Euro vom Bistum Magdeburg.[39][40]
denefhoop


Auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich ganzheitlich zu bewegen, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen, entwickelte Denef 2016 Reifen nach Leonardo da Vincis vitruvianischen Menschen, die sich flexibel und harmonisch unterschiedlichen Stellungen anpassen; die Bewegungen mit dem denefhoop genannten Reifen dienen ebenso der Meditation und der inneren Befreiung wie der Gymnastik.[41]
Veröffentlichungen
- Ich wurde sexuell missbraucht. Starks-Sture, München 2007, ISBN 978-3939586036.
- Beschwerde gemäß Artikel 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 45 und 47 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland, 24. Februar 2009. (online, PDF-Datei; 267 kB)
- Theaterstück Alles muss raus
Weblinks
- NetzwerkB
- denefhoop
- Eintrag in der IMDB
- Norbert Denef auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010
- Norbert Denef bei der taz-Pantherpreis-Veranstaltung 2011
- Norbert Denef auf dem Parteitag der SPD, Dezember 2011
- Norbert Denef auf dem Parteitag der Grünen, November 2012
Einzelnachweise
- ↑ Norbert Denef: Ich wurde sexuell missbraucht. Starks-Sture, München 2007, ISBN 978-3939586036
- ↑ Lars Sobiraj: Sexualisierte Gewalt: „Wir sprechen über ein Massenverbrechen“. In: gulli.com, 14. März 2011
- ↑ Peter Wensierski: Verirrte Hirten. In: Der Spiegel, 5. Dezember 2005
- ↑ Antje Hildebrandt: Ein Pfarrer vergriff sich über Jahre hinweg an Norbert Denef. Das Opfer leidet noch heute. ( vom 9. Februar 2010 im Internet Archive) In: Märkische Allgemeine, 5. Februar 2010
- ↑ Norbert Denef im Interview mit Dunja Hayali. im ZDF-Morgenmagazin, 26. Februar 2010
- ↑ Antje Hildebrandt: Missbrauchsopfer im Interview. „Der Pfarrer war sich keiner Schuld bewusst.“ In: Die Welt, 26. Februar 2010
- ↑ Alles muss raus. mit Viktor Vössing, 2008
- ↑ Antje Hildebrandt: „Er hat meine Seele getötet“ Interview mit Norbert Denef in: Stuttgarter Zeitung, 5. Februar 2010.
- ↑ Barbara Hans: Scham fressen Seele auf. In: Der Spiegel, 12. Februar 2010
- ↑ „Es waren die schlimmsten Jahre“. Gespräch mit Norbert Denef, deutschlandfunkkultur.de, 22. Februar 2010.
- ↑ Missbrauchsopfer zum Kirchentag: "Wir wollen endlich gehört werden" spiegel.de, 14. Mai 2010.
- ↑ Ein-Mann-Demo bei Diskussionsrunde: Missbrauchsopfer provoziert Eklat auf Kirchentag. spiegel.de, 14. Mai 2010.
- ↑ Missbrauch ist ungewollt das Thema Nummer 1 welt.de, 14. Mai 2010.
- ↑ Eklat beim Forum zu Missbrauch: Das unverschämte Opfer sueddeutsche.de, 14. Mai 2010.
- ↑ Missbrauchsopfer stürmt Podium In: Hamburger Abendblatt, 15. Mai 2010.
- ↑ Bericht der ARD-Tagesschau über die Missbrauchsdebatte auf dem Kirchentag, 14. Mai 2010 (Video, 1:50 Min.).
- ↑ Antrag zur Aufhebung der Verjährungsfristen auf dem Bundesparteitag der SPD einstimmig angenommen. Pressemitteilung von netzwerkB, 6. Dezember 2012
- ↑ Norbert Denef im Hungerstreik Humanistischer Pressedienst, 8. Juni 2012.
- ↑ Ich bin im Hungerstreik netzwerkb.de, siehe unter Pressemeldungen.
- ↑ Hungern gegen das Nichtstun taz.de, 16. Juni 2012.
- ↑ Evelyn Finger: Ein Mann macht Ernst In: Die Zeit, 21. Juni 2012 (PDF).
- ↑ Lebenslang spiegel.de, 8. Juli 2012.
- ↑ Missbrauchsopfer hungert für die Aufhebung der Verjährungsfristen welt.de, 18. Juli 2012.
- ↑ Hungern gegen Verjährung geht weiter. In: Lübecker Nachrichten, 27. Juni 2012, dokumentiert auf netzwerkb.de.
- ↑ Sexueller Missbrauch. Schwerbehinderter aus Hagen läuft nach Berlin. In: WAZ, 22. Juni 2012
- ↑ Es geht um unsere Kinder Pressemitteilung von netzwerkB, 13. Juli 2012.
- ↑ Marlies Fischer: Missbrauchsopfer im Hungerstreik. In: Hamburger Abendblatt, 13. Juli 2012.
- ↑ Stattdessen wurde die Polizei geschickt. Pressemitteilung von netzwerkB, 13. Juli 2012
- ↑ Schützt unsere Kinder vor sexueller Gewalt! Eine Reform der Gesetze! Petition auf Avaaz.org, Juli 2012
- ↑ Missbrauchsopfer beendet Hungerstreik. Die Entscheidung ist nach Rücksprache mit Unterstützern und den Ärzten gefallen. In: Die Welt, 24. Juli 2012
- ↑ Betroffenheit über das eigene Nichtstun. Pressemitteilung von netzwerkB, 27. September 2012
- ↑ Bundesrat verlängert Verjährungsfristen von Sexualstraftaten. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2013
- ↑ Gesetz tritt in Kraft. Mehr Schutz vor sexueller Gewalt. Pressemitteilung der Bundesregierung, 10. November 2016
- ↑ netzwerkB-Vorsitzender Norbert Denef nach Rom aufgebrochen. Pressemitteilung von netzwerkB, 5. November 2013
- ↑ Krankenhaus statt Papstaudienz. Pressemitteilung von netzwerkB, 7. November 2013
- ↑ Weiterhin streitbar und protestbereit. In: ARD Brisant, 6. November 2013
- ↑ Norbert Denef reicht der Kirche die Hand. Pressemitteilung von netzwerkB, 3. April 2018
- ↑ Mein Krebs und der Vatikan. Pressemitteilung von netzwerk, 22. April 2018
- ↑ https://netzwerkb.org/2018/11/21/bistum-magdeburg-hat-schuld-an-krebserkrankung-norbert-denef-fordert-eine-million-euro-schadenersatz/
- ↑ Norbert Denef: Darmkrebs-Wahnsinn. 2018
- ↑ denefhoop
Personendaten | |
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NAME | Denef, Norbert |
KURZBESCHREIBUNG | deutsches Opfer sexuellen Missbrauchs |
GEBURTSDATUM | 5. Mai 1949 |
GEBURTSORT | Delitzsch |