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Merseburger Zaubersprüche

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Merseburger Zaubersprüche – Merseburger Domstiftsbibliothek, Codex 136, f. 85r, 10. Jhdt

Die Merseburger Zaubersprüche heißen so nach dem Ort ihrer Überlieferung: Sie wurden 1841 in der Bibliothek des Domkapitels Merseburg in einer aus Fulda stammenden theologischen Handschrift des 9./10. Jahrhunderts von Georg Waitz entdeckt (Handschrift: Merseburg Domkapitel Cod. 136 S. 85a) und erstmalig herausgegeben von Jakob Grimm (1842).

Die zwei Zauberformeln sind die einzigen erhaltenen Zeugen germanisch-heidnischer Religiosität in althochdeutscher Sprache.

Form

Beide Sprüche sind zweigliedrig. Einem episch-erzählenden Einleitungsteil, der ein früheres Ereignis schildert, folgt die eigentliche magische Beschwörung in Form eines Analogiezaubers (So wie damals ... so soll auch jetzt ...). In der Form ihrer Verse stellen die Zaubersprüche ein Übergangswerk dar – die Langzeilen zeigen teils Stabreime, teils schon den Endreim, der in der christlichen Dichtung des 9. Jhs. erfunden wurde.

Geschichte

In der vorschriftlichen, heidnischen germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche dazu, „durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte, die sich der Mensch dienstbar machen will, nutzbar zu machen“ Vorlage:Lit. Zaubersprüche sind, speziell aus dem germanischen Sprachraum, in großer Zahl überliefert. Alle diese Sprüche stammen aber aus dem Mittelalter und sind daher christlich geprägt bzw. beeinflusst. Das Einzigartige an den Merseburger Zaubersprüchen ist, dass sie ihren vorchristlichen Ursprung (vor 750 n. Chr.) noch sehr rein reflektieren. Sie wurden im 10. Jh. von einem schriftkundigen Kleriker, vielleicht noch im Kloster Fulda, auf eine freigebliebene Seite eines liturgischen Buches eingetragen – zu welchem Zweck, ist unbekannt. So wurden uns die Zaubersprüche in karolingischen Minuskeln auf dem Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars überliefert.

Berühmt wurden die Zaubersprüche in der Neuzeit durch die Bewertung der Brüder Grimm, die wie folgt heißt:

Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des Domkapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden. Alle sind an einem Codex vorbeigegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben...

Später wurden die Zaubersprüche dann von den Brüdern Grimm in der Ausgabe "Über zwei entdeckte Gedichte aus der Zeit des deutschen Heldenthums" veröffentlicht (1842) und werden jetzt in der Merseburger Domstiftsbibliothek aufbewahrt.

Spruch 1 – Befreiung von Gefangenen

Der erste Zauberspruch ist eine Art „Lösesegen“. Er beschreibt, wie eine Anzahl „Idisen“ (walkürenartige Frauen) auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger von ihren Fesseln befreit. Den eigentlichen „magischen“ Spruch stellt die letzte Zeile mit „Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!“ dar, der die Krieger erlösen soll.

Eiris sazun idisi
sazun hera duoder.
suma hapt heptidun,
suma heri lezidun,
suma clubodun
umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun,
inuar uigandun.

     

Einst saßen Frauen (vgl. Disen),
setzten sich hierher [und] dorthin.
Einige (vgl. engl. „some“) banden (wörtl.: hefteten) Fesseln,
einige hielten das Heer auf,
einige lösten ringsumher
die (Todes)Fesseln:
Entspringe [dem] Fesselband,
entflieh den Feinden!

Spruch 2 – Pferdeheilung

Balder (auch Phol) und Wotan reiten durch den Wald (holza), wobei sich Balders Pferd den Fuß verrenkt. Wotans Spruch daraufhin: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien“. So zeigen Darstellungen aus dem 5./6. Jahrhundert Wotan beim Heilen eines Pferdes. Leider können die anderen (Götter-)Namen nicht eindeutig identifiziert werden. Klar ist nur „Uuôdan“ (Wodan, Wotan, Odin) und „Frîia“ (Freya, die Göttin der Fruchtbarkeit). Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es wirklich Namen von Göttern sind, da verschiedene Interpretationen ihrer Übersetzung zu finden sind.

Datei:Brakteat Odin Runen.jpg
Skandinavischer Brakteat aus der Völkerwanderungszeit. Dargestellt ist Odin als göttlicher Heiler eines Pferdes

Phol ende uuodan
uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon
sin uuoz birenkit.
thu biguol en sinthgunt,
sunna era suister;
thu biguol en friia,
uolla era suister;
thu biguol en uuodan,
so he uuola conda:

sose benrenki,
sose bluotrenki,
sose lidirenki:
ben zi bena,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden,
sose gelimida sin.

     

Phol und Wodan
ritten ins Holz.
Da wurde dem Fohlen Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Sinthgunt
und Sunna, ihre Schwester;
da besprach ihn Frija,
und Volla, ihre Schwester;
da besprach ihn Wodan,
wie nur er es verstand:

Sei es Knochenrenke,
sei es Blutrenke,
sei es Gliedrenke:
Knochen zu Knochen,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern,
als ob geleimt sie seien.

Erklärungen

  • walkürenartige Frauen: Walküren (altnordisch „diejenigen, die bestimmen, wer auf dem Kampfplatz fallen soll“), in der germanischen Mythologie die Botinnen des obersten Gottes Wotan (Odin), die über die Schlachtfelder reiten, die gefallene Einherier durch ihren Kuss zu ewigem Leben erwecken und sie nach Asgard entrücken. Eventuell identisch mit den Disen, weibliche Gottheiten aus der nordischen Mythologie. Eine Dise altnordisch dís / dísir, altschwedisch dis ist eine Art weibliche Fruchtbarkeitsgottheit, eventuell mit den angelsächsischen Idisi verwandt.
  • Balder: Aus der nordischen Mythologie der Gott des Lichtes.
  • Wotan: Der südgermanische Gott Wotan entspricht weitgehend dem nordischen Odin und war der Hauptgott.

Indogermanische Vergleiche

Neben weiteren europäischen Überlieferungsvarianten jüngeren Datums findet sich zum zweiten Merseburger Zauberspruch kurioserweise eine Parallele in der altindischen Überlieferung Atharvaveda (Text IV 12 in der Saunaka-Version, IV 15 in der Paippalada-Version) wieder. Der indische Text besteht aus der Anrufung der in der Pflanze Arundhatî ruhenden Heilkräfte:

  1. Eine Wachsenlassende bist Du als Rohini [*Rote]
    die (Zusammen-)Wachsenlassende des gespaltenen Knochens,
    laß auch dies hier (zusammen-)wachsen, o Arundhatî!
  2. Was Dir versehrter, was Dir versengter
    Knochen oder Fleisch ist an Deinem Selbst,
    das soll (der Gott) Dhatr (=der [Zusammen-]Setzer) heilbringend wieder
    zusammensetzen, mit dem Gelenk das Gelenk.
  3. Zusammen werde Dir Mark mit Mark,
    und zusammen Dir mit Gelenk das Gelenk,
    zusammen wachse Dir das Auseinandergefallene des Fleisches,
    zusammen wachse der Knochen zu!
  4. Mark werde mit Mark zusammengefügt,
    mit Fell wachse Fell (zusammen),
    Blut und Knochen wachse Dir,
    Fleisch wachse mit Fleisch (zusammen)!
  5. Haar füge (oder: füge er) zusammen mit Haar,
    mit Haut füge (oder: füge er) zusammen Haut,
    Blut (und) Knochen wachse Dir,
    das Zerspaltene mache zusammen, o Pflanze!
  6. So steh auf, geh los, lauf fort (wie) ein Streitwagen mit guten Rädern, mit guten Radschienen, mit guten Naben, nimm aufrecht festen Stand ein!
  7. Ob er es sich durch den Sturz in eine Grube gebrochen hat,
    oder ob ein geschleuderter Stein es ihm zerschmettert hat,
    wie Rbhu die Teile des Streitwagens,
    so soll er (Dhatr?) zusammensetzen mit dem Glied das Glied. [1]

Übereinstimmungen zwischen diesem Text und MZ2 bestehen sowohl in der Rahmenhandlung (ein Gott greift ein) als auch in der Formel nach dem Schema X zu Y; wobei überdies in beiden Texten Blut, Knochen und Glieder in dieser Formel gebraucht werden.

Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen beiden Texten ist bisher nicht geklärt, da viele altindische Überlieferungen erst nach und nach herausgegeben und damit der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich werden. Klaus Mylius sieht in den Gemeinsamkeiten lediglich Parallelentwicklungen[2], während Heiner Eichner zumindest vorsichtig auf einen möglichen genetischen Zusammenhang verweist, der freilich erst durch weiterführende Forschungen zu festigen oder zu widerlegen ist[3].

Spätere Bearbeitungen

Die Merseburger Zaubersprüche wurden 1842 von Jacob Grimm ediert. Obwohl mit den Texten keine Melodie überliefert ist und noch nicht einmal sicher ist, ob sie ursprünglich Sangverse waren, wurden sie mehrfach vertont, u.a. von

  • Ougenweide, MZ1 im Lied "Merseburger Zaubersprüche" auf der LP "All die weil ich mag" (1974),
  • Corvus Corax, MZ1 im Lied "Merseburger Zauberspruch" auf der LP "Ante Casu Peccati" (1989)
  • In Extremo, MZ1 im Lied "Merseburger Zaubersprüche" auf der CD "Verehrt und angespien" (1999)
  • Helium Vola, MZ1 im Lied "Lösespruch" auf der CD "Helium Vola" (2001),
  • Barditus, MZ1 im Lied "Gehörnter Freund" auf der CD "Die letzten Goten" (2004),
  • Saltatio Mortis, MZ1 im Lied "Merseburger Zauberspruch" auf der CD "Manufactum" (2005)
  • Die Tuivelsminne, MZ1 im Lied "Eiris sazun idisi" auf der CD "Im Osten nichts Neues" (2006)

Anmerkungen

  1. Übersetzung der Saunaka-Version übernommen und leicht vereinfacht aus Heiner Eichner, Kurze "indo"-"germanische" Betrachtungen über die atharvavedische Parallele zum Zweiten Merseburger Zauberspruch (mit Neubehandlung von AVS. IV 12). Die Sprache 42, Heft 1/2 (2000/2001), S. 214.
  2. Klaus Mylius (Hg.), Älteste indische Dichtung und Prosa. Vedische Hymnen, Legenden, Zauberlieder, philosophische und ritualistische Lehren. Leipzig 1981.
  3. wie oben, S. 230.

Literatur

  • Heiner Eichner & Robert Nedoma, insprinc haptbandun. Referate des Kolloquiums zu den Merseburger Zaubersprüchen auf der XI. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft in Halle/Saale (17.-23. September 2000). Die Sprache 42, Heft 1/2 (2000/2001)
  • Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 2. Auflage 1995. ISBN 3520368021
Wikisource: Merseburger Zaubersprüche – Quellen und Volltexte