Kathedrale von Saint-Denis
Die Basilika Saint-Denis ist eine ehemalige Abteikirche in der Stadt Saint-Denis nördlich von Paris und die Grabstätte der französischen Könige und Königinnen, welche seit dem Ende des 10. Jahrhunderts nahezu alle hier begraben liegen. Die Kirche hat seit 1966 den Status einer Kathedrale. Der 1136 begonnene Chor gilt als das erste gotische Gebäude der Welt.
Bereits zu merowingischer Zeit baute man an der Stelle, zu der der heilige Dionysius nach seiner Enthauptung auf dem Montmartre mit seinem Kopf unter dem Arm der Legende nach gelaufen sein soll, eine kleine Gedenkstätte über dem Grab des Heiligen und seiner Gefährten Rusticus und Eleutherus. Die günstige Lage – an der Straße von Paris nach Rouen gelegen, mit gutem Klima für die Landwirtschaft – erwies sich als vorteilhaft für den späteren Reichtum der Abtei. Im ausgehenden fünften Jahrhundert soll die Schutzheilige von Paris, die heilige Genovefa, an der Stelle des Mausoleums eine Basilika zu Ehren des heiligen Dionysius errichtet haben.
Oftmals wird dem Merowinger Dagobert I. um 630 der Bau einer großen Kirche zugeschrieben. Ein Neubau zur Zeit Dagoberts wurde allerdings in jüngster Zeit durch archäologische Untersuchungen widerlegt.
Pippin der Jüngere ließ um 750 einen neuen Altarraum in Auftrag geben. Weitere Renovierungen erfolgten bis ins 14. Jahrhundert hinein.
Seit Hugo Capet beherbergt die Basilika die Grabmale der meisten französischen Könige. 1793, während der Französischen Revolution, wurden die Gräber geschändet und die sterblichen Überreste unter einem Tumulus verscharrt. Während der Restaurierung wurden sie in ein Ossarium in der Krypta beigesetzt. Viollet-le-Duc restaurierte die Gräber und die Kirche.
Basilika und Museum
Das Monument ist in zwei Teilen der Öffentlichkeit zugänglich:
- Das Hauptschiff und die Seitenschiffe dienen weiterhin als katholische Kirche,
- Das Querschiff, der Chor, der Chorumgang und die Krypta enthalten das Museum, in dem die Grabmäler der Herrscher Frankreichs sowie vieler ihrer Diener ausgestellt werden. Das Museum ist während der Messen geschlossen.
St-Denis und der Beginn der Gotik
Die Stadt St-Denis war einstmals ein selbständiger Ort direkt nördlich von Paris, ist aber heute durch das immense Wachstums der Hauptstadt zu einem Pariser Vorort geworden. Die Ansicht des Gründungsbaues der Gotik muss man sich heute durch ein endloses Verkehrsgewühl hindurch erkämpfen. Die typischen Bilder der Fassade vermitteln dagegen die Atmosphäre einer ruhigen, heiteren Gelassenheit, die mit der heutigen Realität an diesem Ort leider wenig zu tun hat. St. Denis gehört im Gegenteil zu den sozial besonders gefährdeten Bezirken der Hauptstadt mit einer sehr hohen Verbreitung von Diebstahl, illegaler Einwanderung, Rauschgifthandel und Aidserkrankungen.
Der Beginn der Gotik ist in der Forschung genauso umstritten wie der anderer großer Phasen in der Entwicklung der Kunst. In der Fachliteratur existieren Datierungsunterschiede von rund 70 Jahren. Einige Autoren betrachten St-Denis 1140 und Laon als Vorstufen, manche sogar Chartres noch, und lassen die eigentliche Gotik erst entweder 1195 mit Bourges oder 1211 mit Reims beginnen. Eine andere Richtung kann mit ‚früheren’ Zahlen aufwarten, teilweise auf den Tag genau. Danach beginnt die Gotik in Frankreich in der Île-de-France zwischen 1130 und 1140.
Umstritten ist auch, mit welcher Kirche genau die Gotik begann, und zwar auch bei denjenigen Autoren, die die Gotik um 1130/40 einsetzen lassen. Da gibt es eine Konkurrenzsituation zwischen mindestens drei Bauwerken. Traditionellerweise wird in der Forschung aber davon ausgegangen, dass St-Denis – hier - der Gründungsbau der Gotik ist. Die Kirche ist benannt nach dem Heiligen Denis, dem Schutzpatron Frankreichs, dessen Reliquie hier verehrt wird.
Der Neubau von St-Denis, der ersten gotischen Kirche, beginnt mit deren Westbau 1130/35, also ungefähr 100 Jahre vor den ersten gotischen Bauwerken in Deutschland, der Liebfrauenkirche in Trier 1227/35 und der Elisabethkirche in Marburg 1235. Die erste vollständig nach französischem Vorbild errichtete gotische Kathedrale in Deutschland ist allerdings erst der Kölner Dom, der 1248 begonnen wurde.
Wir unterscheiden bei der französischen gotischen Architektur vier verschiedene Entwicklungsphasen: Die Frühgotik wird in Frankreich gezählt von 1140-1200/10, die Hochgotik von 1210-1270, die sog. Reife Gotik von 1270-1370 und die Spätgotik von 1370-1520. Ende des 15. Jhs. beginnt in Frankreich die Renaissance.
Die Fassade von 1137
Diese erste gotische Fassade ging demonstrativ über die normannische hinaus. Zuerst sind alle drei Portale zu reich dekorierten Schauzonen geworden. Die Mitte ist deutlich betont. Das Portal gleicht einer großen Toreinfahrt als Symbol des Eingangs ins himmlische Jerusalem, als das der ganze Kirchenbau aufgefasst wurde. Die Figurenplastiken an den Portalseiten zeigen deshalb auch die Könige Israels.
Es entsteht hier ein dynamisches Zentrum, das größer und höher ist als die Seitenteile, und das sorgt dafür, dass die Fensterzone darüber ebenfalls höher angebracht wurde. In die archaische Strenge der vorhergehenden normannischen Architektur ist bei St-Denis 1137 dynamische Bewegung gekommen, die schon hier an der ersten gotischen Fassade eine Tendenz zur Höhensteigerung in der Mitte zeigt – und das wird sich noch sehr steigern. Es gibt keine durchgehende horizontale Geschosseinteilung mehr.
Und weiter fällt auf, dass es nicht nur Fenster sind, die die Mauerfläche gliedern, sondern auch Dekorationsformen, die auf die Mauer ‚geklebt’ sind, „aufgeblendet“ heißt das in der Kunstgeschichte. In den Fenstergeschossen werden die tatsächlichen Fenster von sehr ähnlichen, aber vorgeblendeten Bogenformen begleitet, die zusammen mit den Fenstern die ganze Wand überziehen.
Entscheidend ist dabei, dass hier in St-Denis die Außenmauer als sichtbare Fläche zum ersten Mal hinter solchen ‚Dekorationsschichten’ allmählich zurücktritt. Auch das wird sich noch sehr steigern. Die Kunstgeschichte spricht hier von einer „Auflösung“ und „Verschleierung“ der Wand, ein Prozeß, der die ganze Geschichte der gotischen Architektur mitbestimmen wird.
Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich hier in St-Denis bereits ahnen. Es fängt ein Prozess an, der die Außenmauer und das gesamte Bauwerk allmählich zu einem hochgespannten Ausdrucksträger macht und der die gemessene, waagerechte Lagerung der antiken und frühromanischen Tradition verlässt.
Solche Tendenzen zeigten sich allerdings schon in der Spätphase der Romanik und das ist ein Grund, warum in Teilen der Forschung diese Formen hier in St-Denis noch nicht als ‚eigentlich gotisch’ gewertet werden. Aber die Gotik geht mit denjenigen bautechnischen Mitteln, die schon die Romanik gekannt hat, anders um.
Im Gegensatz zu den meisten anderen mittelalterlichen Bauwerken sind wir bei St-Denis über die Bauzeiten und den Bauherrn außerordentlich gut informiert, teilweise bis auf den Tag genau. Daran lässt sich schon die Sonderstellung dieser Abteikirche erkennen. Die Grundsteinlegung der West-Fassade fand am 9.6.1137 statt unter Leitung des Abtes Suger (1081-1151), die Weihe am 9.6.1140, genau drei Jahre später.
Die ursprüngliche Planung von St-Denis sah natürlich zwei Türme vor, wie es in einer Rekonstruktionszeichnung zu sehen ist. In dieser frühen Phase der Gotik - und das ist hier noch sehr gut zu erkennen - sind die Türme auf einen eigenständigen, nahezu quadratischen Fassadenblock aufgesetzt, in diesem Fall sogar hinter der unteren Mauer zurückgesetzt. Das wird sich später in der Hochgotik ändern. Da wird es zu einer durchgehenden Fassadengestaltung kommen, die von unten nach oben in einer gewaltigen Höhensteigerung ohne Unterbrechung durchgeht, wie wir das in Deutschland besonders vom Kölner Dom her kennen. Hier in St-Denis wirkt im unteren Fassadenblock noch das antike Motiv eines eigenständigen Triumphbogens nach, daher die deutlich rechteckige Grundform.
Von der ursprünglichen Planung ist in St-Denis nur der rechte, der südliche Turm vollendet worden. Der Nordturm wurde später nach dem Vorbild Caen nachgebaut. Diesen Turm hat man später wieder abgetragen. Die ganze Westfassade wird so zu einem Tor, das entsprechend den Worten der Liturgie als Tor des Himmels zu verstehen ist. Der Torcharakter wird durch den Zinnenkranz und die weiten Portale zusätzlich hervorgehoben.
Im Tympanon des Mittelportals thront Christus als Richter des Jüngsten Gerichts. Er entscheidet, wer letztendlich in das Tor des Himmels eintritt. „Die Portale großer Kirchen dienten im Mittelalter als Gerichtsstätte, deswegen wurden die Bogenfelder oft mit Darstellungen des Jüngsten Gerichtes geschmückt [...] Aber auch die Deutung der Kirche als Abbild des Himmlischen Jerusalem erfordert das Durchschreiten des göttlichen Gerichts.“ (Binding, Günther: Architektonische Formenlehre. Darmstadt 1980, S. 101. Deswegen wurden sie auch mit erhöhenden Baugliedern wie Säulen, Giebeln und Portallöwen besetzt.)
Die Gewändefiguren, die einstmals ersten gotischen Säulenfiguren, sind hier in St-Denis leider bereits 1771 herausgerissen worden und die große Französische Revolution zerstörte dann auch einiges, was im 19. Jh. nicht einwandfrei restauriert wurde. Diese Restaurierung von 1839/40 gleicht eher einer Misshandlung, die den originalen Eindruck sehr verschleiert hat. Hier ist nur die rein formale Aufteilung der Flächen original.
Die Gotik als ‚Königsstil’
Zwei Personen spielen hier eine entscheidende Rolle: der französische König Ludwig VI. und der Abt von St-Denis namens Suger. Ludwig war zusammen mit Suger in St-Denis erzogen worden. Aus dieser Jugendkameradschaft entstand später eine Freundschaft fürs Leben. Suger kam aus bescheidenen Verhältnissen, war aber hochintelligent und überaus tüchtig in verschiedenen Disziplinen: als Mönch, als Verwalter und sogar auch als Soldat, „der die königlichen Besitzungen und die seines eigenen Klosters erfolgreich gegen raubgierige Feudalherren zu verteidigen wusste“. Ludwig VI. holte ihn daher in seine Nähe und brachte ihn bis an die politische Spitze des Staates. 1122 wurde Suger Abt von St-Denis, 1147 sogar Regent von Frankreich, als der König während des zweiten Kreuzzuges das Land verlassen hatte.
St-Denis nahm damals „unter den großen Abteien Frankreichs eine Stellung von höchster Machtfülle“ ein. Die Abtei galt als Mutter der französischen Kirche und als Krone des Reiches und keine andere kirchliche oder weltliche Institution war enger mit dem Königshaus der Kapetinger verbunden. Die Kapetinger stellten von 987-1328 den französischen König.
Schon seit den Zeiten der Merowinger war St-Denis die Ruhestätte des französischen Königshauses, Caen war die des normannischen. Es war dem König direkt unterstellt. Hier wurde die Idee des christlichen französischen Herrschers geboren, nachdem das Reich Karls des Großen aufgeteilt worden war und sich ein eigenständiges westfränkisches Reich herauszubilden begann. Die Zeit der beginnenden Gotik war die des Investiturstreites, der Auseinandersetzung zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft, zwischen sacerdotium und imperium - ausgetragen an der Frage, wer im Land die Bischöfe einsetzt, „investiert“. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte 1077 der deutsche Kaiser Heinrich IV. in diesem Zusammenhang in Canossa vor dem Papst Abbitte geleistet.
Auch der französische König war noch kein Alleinherrscher. Sein Gebiet war klein und von mächtigen Reichen umgeben, aber mit Hilfe der Kirche konnte er seinen Einfluss stärken und in diesem Prozess spielte die gotische Architektur eine wichtige Rolle. Denn neben der politischen Gliederung des Landes gab es die kirchliche, und die sah anders aus. Die umgebenden großen Diözesen waren sog. „königliche“ Bistümer und unterstanden in dieser Hinsicht der Krone. Der französische König konnte also auf kirchlichem Wege in die Gebiete seiner Konkurrenten um die Macht hineinregieren, was den religiösen Fragen einen deutlich politischen Akzent gab. Ein ähnliches Verhältnis hat es in Deutschland gegeben im bereits erwähnten Investiturstreit: Der Papst konnte mit der Ernennung gefügiger Gefolgsleute zu deutschen Bischöfen in den deutschen Gebieten Macht ausüben, auch gegen die jeweiligen politischen Herrscher, also beispielsweise den Kaiser – daher war dieser Punkt so umstritten.
Die Architektur der Frankreich umgebenden Länder war romanisch, die des Königs seit 1140 gotisch. Die Gotik hat in Frankreich also nicht die Romanik abgelöst, sondern trat erst einmal in Konkurrenz zu ihr auf.
Und ähnlich wie in Deutschland standen in Frankreich die Herzöge und Grafen oft gegen den König auf der Seite des Papstes, der die Kirche gerne aus den Händen des Königshauses befreit hätte und die Dinge hätten auch hier in Frankreich den gleichen Gang gehen können wie in Deutschland oder England. Aber die französische Entwicklung verlief anders. „In einem Entscheidungskampf gegen den deutschen Kaiser wandte sich das Papsttum nämlich mit der Bitte um Schutz und Hilfe an Frankreich“ und der dortige Streit endete schnell bereits 1106. Damit war die Jahrhundertelange Verbindung zwischen dem französischen König und dem Papst gegeben, die im 14. Jh. ihren Höhepunkt finden sollte, als das Papsttum aus Rom weg nach Avignon auswanderte.
Ohne den deutschen Investiturstreit wäre demnach möglicherweise die französische Geschichte dieser Jahre anders verlaufen und auch die Geschichte der Gotik. In Frankreich kam es also zu keiner entscheidenden Auseinandersetzung zwischen König und Papst. Der französische König war auch immer ein Herrscher der Kirche und kirchliche Formen waren damit königliche Formen. Der König von Frankreich war mit dem Papst gegen den deutschen Kaiser verbunden. In Frankreich herrschten konstantere politische Verhältnisse als in Deutschland und Italien. Nach den Karolingern regierten – wie gesagt - von 987 bis 1329, also ca. 350 Jahre lang die Kapetinger und sie festigten ihre Stellung in enger Bindung an das Papsttum. Frankreich wurde dadurch ein „katholisches“ Land und ist es bis heute mit einem Anteil von über 80% Katholiken an der Gesamtbevölkerung geblieben.
Die Architektur des deutschen Kaisertums um 1150 war die Romanik, die Architektur des französischen Königs wird die Gotik: die Gotik als ein neuer Stil für den französischen König. Der imperiale Anspruch der neuen Architektur zeigte sich auch daran, dass in jedem Gebiet, das der Krone neu einverleibt wurde, umgehend eine gotische Kathedrale errichtet wurde als ein deutlicher Hinweis darauf, wer hier von nun an die Macht hatte.
Der erste gotische Chor
Mit der kunsthistorischen Seite wird es jetzt etwas kompliziert. Aber ohne Fachausdrücke lässt sich Architektur nicht beschreiben. An Hand einer Grundriss-Zeichnung des Chores von St-Denis lässt sich ein entscheidendes Prinzip des gotischen Raumes deutlich machen, wie er hier 1140 zum ersten Mal auftritt. Dieser Chor hat einen sog. Chorumgang und einen Kapellenkranz, zwischen den Kapellen stehen die Strebepfeiler, die das Gewölbe nach außen abstützen.
Sowohl der Chorumgang als auch der Kapellenkranz sind in einzelne Kompartimente geteilt, die jedes für sich ein eigenes Gewölbe haben, und zwar ein unregelmäßiges Kreuzrippengewölbe. Entscheidend ist dabei hier zu Beginn der Gotik, dass diese Gewölbe von Chorumgang und Kapellenkranz miteinander zu einem vereinheitlichten Raum verbunden sind, was ganz im Gegensatz zur romanischen Tradition steht. Mit den alten Gewölbeformen hätte man solche Verflechtungen wie hier gar nicht bauen können. Diese Gewölbeform wird daher auch seit langem als eines der Hauptkennzeichen der gotischen Architektur angesehen.
Es ist heute im nachhinein immer schwierig, sich klarzumachen, warum dieses Bild hier - damals im Jahr 1140 - etwas revolutionär Neues gewesen sein soll, weil wir uns an solche Verhältnisse sehr gewöhnt haben. Aber die romanischen Innenräume von Kirchen zuvor sahen grundlegend anders aus. Dass hier so ungehindert und so viel Licht einströmt, auch schon in Höhe des Fußbodens, war absolut neu. Das Licht kommt natürlich durch die Fenster, Fenster können nur in der Außenmauer liegen, die soll aber gleichzeitig den Bau tragen. Und Fenster, vor allem große Fenster, verringern natürlich die Tragkraft, die Stabilität einer Mauer.
Wie ließ sich dieser Widerspruch lösen? Kurz gesagt dadurch, indem die Mauer von ihrer Funktion als Trägerin des Bauwerks weitgehend entlastet wird. Etwas anderes musste diese Aufgabe übernehmen. Der Baumeister von St-Denis kam auf folgende Lösung, indem er teilweise Elemente übernahm, die die romanische Architektur damals bereits kannte, die er aber in einer neuen Weise kombinierte: Die lastenden Kräfte mussten gebündelt werden, mussten auf bestimmte Zonen konzentriert werden und von dort möglichst vollständig nach außen abgeleitet werden, damit man im Innenraum davon nichts spürt. Und besonders problematisch waren dabei diejenigen lastenden Kräfte, die nicht direkt nach unten wirken, sondern zur Seite hin. Und die gingen vor allem vom Gewölbe aus, vom sog. Gewölbeschub.
Und diese beiden unterschiedlichen Lasten, der Druck nach unten und der zur Seite, wurden jetzt in der Gotik durch das sog. Strebewerk aufgefangen. Das Strebewerk wurde nicht in St-Denis erfunden, sondern einige Jahrzehnte später um 1160/80 herum in Paris. Der Gewölbeschub und die anderen Kräfte, die nicht direkt nach unten wirken, werden in mehreren Stufen außen abgefangen, damit die Fenster dazwischen möglichst groß werden konnten, damit also die Mauer von ihrer stützenden Funktion entlastet wird. Um diese lastenden Kräfte überhaupt hier außen abfangen zu können, war es notwendig, sie im Innenraum an dieser Stelle zu bündeln.
Und das geschieht durch die Kreuzrippen des Gewölbes, zumindest an ihnen entlang. Die Rippen nehmen die lastenden Kräfte auf, konzentrieren sie auf die Ecken, so dass sie von dort aus nach außen abgeleitet und vom Strebewerk an das Fundament weitergegeben werden können. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus und so sollte es auch aussehen. Das Prinzip dieser Kräfteverteilung sollte gar nicht geheim bleiben, es sollte öffentlich demonstriert werden. Und hier ist ein sehr heikler und vieldiskutierter Punkt berührt. Denn wirklich notwendig sind die Rippen nicht. Sowas konnte man schon vorher – in den sog. Kreuzgratgewölben. Man hat es nur nicht so deutlich gezeigt.
Wie sieht das Grundprinzip eines solchen Kreuzrippengewölbes aus? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten und die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig. Man kann das nämlich nur dann richtig testen, wenn man die Gewölbe zerstört, und ein solches Vorgehen verbietet sich natürlich bei altehrwürdigen Bauwerken. Paradoxerweise hat es daher nach den Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges – vor allem in Deutschland – häufig Situationen gegeben, die man experimentell eben nicht herbeiführen kann, d.h. man konnte in vielen Kirchen prüfen, wie die Gewölbe die Schäden überstanden haben. Und da gab es interessanterweise zwei Variationen: Es gab Kreuzrippen-Gewölbe, bei denen die Rippen abgefallen waren, die sich aber trotzdem an ihrem Platz gehalten haben, quasi als Kreuzgratgewölbe. Und es gab Fälle, bei denen nur die Rippen stehen geblieben sind, aber die Gewölbewangen heruntergefallen waren. Angesichts dieser Verhältnisse könnte man fast glauben, dass es sich hier um zwei verschiedene Gewölbeformen handelt, die lediglich kombiniert worden sind.
Es hat andererseits mittlerweile diverse teilweise hoch komplizierte und computergestützte Rechenverfahren gegeben, um diese Frage zu klären, aber zu wirklich eindeutigen Ergebnissen ist man dabei nicht gekommen. Nach heutigem Wissensstand spricht aber alles dafür, dass die Rippen das Tragverhalten des Kreuzgewölbes objektiv nicht wesentlich verbessern.
Es bleibt daher immer noch die Frage offen: Sind diese neuen Rippen hier in St-Denis 1140 überhaupt erst und in erster Linie genommen worden aus ästhetischen Gründen oder vielleicht deshalb, weil sie die Konstruktion der Gewölbe vereinfachen, also nur für die reine Bauphase interessant sind. Sind sie für die Kräfteableitung gar nicht notwendig, sondern sollen nur etwas demonstrieren, was ohne sie genauso funktioniert hätte, aber nicht so anschaulich geworden wäre. Hier ist die Grundfrage berührt, was gotische Baukunst eigentlich ist.
Was die damaligen Baumeister im Einzelnen bewegt hat, wissen wir nicht, denn kein Gewölbebauer des 12. Jahrhunderts hat seine diesbezüglichen Gedanken hinterlassen. Andererseits kann man sagen, dass uns solche modernen Überlegungen gar nicht interessieren müssen, denn es kommt in diesem Zusammenhang nicht so sehr darauf an, was der mittelalterliche Architekt wusste, sondern was er ‚glaubte’.
Besonders anschaulich wird diese damalige Meinungsvielfalt während der legendären Diskussion anlässlich des Mailänder Dombaus 1390-92. Führende europäische Architekturexperten argumentierten damals für die diversen Lösungen vor allem bei der Konstruktion des Gewölbes und diese Diskussionen sind teilweise überliefert. Man war sich damals schon nicht einig darüber, wie die Kräfteverteilung in einem großen Gewölbe denn wirklich aussieht. (Nußbaum, Norbert / Sabine Lepsky: Das gotische Gewölbe. Die Geschichte seiner Form und Konstruktion. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 134)
Dem Anschein nach sieht es zumindest folgendermaßen aus: hier im Kreuzrippengewölbe werden die lastenden Kräfte des Steingewölbes auf die Rippen konzentriert, die das Gewicht im Innenraum an die Pfeiler - und außen an das Strebewerk weitergeben, so dass insgesamt das entsteht, was die Kunstgeschichte ein lineares Stützsystem nennt: ein System, bei dem die lastenden Kräfte entlang von Linien abgeleitet werden - über die Rippen auf die Pfeiler innen und außen. Ohne diese neue Gewölbekonstruktion mit den Kreuzrippen wäre die Lastverschiebung nach außen nicht möglich gewesen, zumindest dem Anschein nach nicht.
Entscheidend ist dabei und für die Weiterentwicklung der gotischen Architektur von grundlegender Bedeutung, dass in den Kreuzrippen zwei unterschiedliche Prinzipien vereint werden: Sie haben eine bestimmte Funktion und sie drücken sie auch deutlich aus, sie machen ein Bild daraus. Sie wollen ihre Wirkung nicht im Verborgenen erfüllen, sondern signifikant deutlich in den Vordergrund rücken – und das wurde auch noch durch eine farbige Gestaltung unterstrichen.
Das Licht
Wir haben also durch das neue gotische Stützsystem große Fenster auch in Bodenhöhe. Entscheidend ist jetzt, dass die Innen-Säulen des Chores von St-Denis so angeordnet sind, dass sie das Licht möglichst ungehindert einströmen lassen, dass sie sich in ihrer Stellung also alle auf einen zentralen Punkt hin ausrichten, und dieser Punkt ist der Mittelpunkt des Chores, wo der Altar steht. Hier war das Zentrum der christlichen Liturgie und hier konzentrierte sich auch das einströmende Licht. Im Osten geht die Sonne, also das Licht auf und von hier erwartete man die Wiederkunft Christi. (Simson, Otto von: Die gotische Kathedrale. Darmstadt [1956] 31979, S. 78: „Für das 12. und 13. Jh. war das Licht Quelle und eigentliches Wesen aller sichtbaren Schönheit“).
Das ist jetzt ein weiterer der entscheidenden Aspekte der gotischen Architektur: Das Licht. Das Licht galt in der damaligen scholastischen Theologie als die unmittelbare Erscheinung des Göttlichen - daher auch die reichhaltige Verwendung von lichtbrechenden Edelsteinen bei den liturgischen Gerätschaften. Daher erklärt sich auch die Bedeutung der immer größer werdenden farbiger Glasfenster. Glas war damals in den normalen Lebensverhältnissen nicht verfügbar, es war immens teuer und wurde vom einfachen Volk mit Edelsteinen gleichgesetzt, - vor allem in der Form der riesigen farbigen Glasfenster der Kathedralen, in denen das Glas durchscheinend war, in denen es scheinbar von sich aus alleine in allen erdenklichen Farben funkelte. Und da in den neuen gotischen Kathedralen im Laufe der Jahrzehnte das Glas gleich in der Dimension von durchscheinenden Wänden auftrat – und nicht nur als kleine Fenster -, erschienen diese kirchlichen Räume wie überirdische Schreine, wie lichthafte Verkörperungen des Göttlichen. Edelsteine in dieser Größe hatte man bisher noch nie gesehen.
Das Licht der Sonne wird seit undenklichen Zeiten mit Güte, Offenbarung, Gott und Schönheit gleichgesetzt und war daher Kernstück vieler religiöser Lehren. Die erste historisch greifbare Version dieser Lichtmystik ist die Aton-Lehre des ägyptischen Pharaos Echnaton um 1350 v. Chr., von daher hat sie die christliche Religion übernommen. Nicht umsonst beginnt die Bibel schon im zweiten Vers mit den Worten: „Und Gott sprach, es werde Licht! Und es ward Licht.“
Himmelsrichtungen und das aufgehende Licht im Osten spielten auch bei den alten Minoern auf Kreta, bei den Etruskern und den Römern eine entscheidende Rolle bei der Anlage von Städten und Heerlagern. Hier spürt man eine intensive Verbindung zwischen Architektur und geistlicher Mystik. Das Licht zeigte und erhellte die göttliche Ordnung. Diese Ordnung bestand in ganz bestimmten Zahlenverhältnissen, nach denen die Kathedrale gebaut wurde – darauf werde ich noch eingehen.
Was die neue Lichtmystik für das Raumerlebnis bedeutet, lässt sich am besten im Vergleich demonstrieren zu einem romanischen Chor. In der gotischen Kathedrale von Straßburg ist der romanische Chor noch erhalten und hier kann man sehr deutlich sehen, wo hier alleine das Licht herkommt, nämlich von einem einzigen Fenster hoch oben in der Mauer.
In einem romanischen Raum besteht das Licht neben der Architektur. Es gibt das Bauwerk für sich und in ihm - als davon unabhängiges Element - das Licht, das vor allem von Kerzen erzeugt wird. In der romanischen Architektur wurden die Kirchen durch massives Mauerwerk bestimmt, das nur durch vergleichsweise kleine und wenige Fenster unterbrochen war. Besonders der Chorbereich mit der Apsis, den Sie hier sehen, war sehr massiv gebaut.
In der gotischen Architektur wird das Licht zum wesentlichen Konstruktionsprinzip der ganzen Kathedrale. Es kommt nicht später hinzu, es bestimmt die Konzeption des Bauwerks von vorne herein. Das gotische Fenster hat auch eine andere Funktion, es ersetzt nicht nur das romanische Fenster, es ersetzt die romanische Wand.
Auch hier spielen technische Erfindungen eine Rolle: Im 10. Jh. hatte man die Technik erfunden, Glasteile in Bleistege zu fassen. Dadurch wurde das Gewicht geringer, die dünnen Bleiruten konnten beliebig gebogen werden und damit waren die vielfältigsten Darstellungen möglich, anstelle der bisherigen geometrischen Muster.
Die neue Lichtmystik hat daneben tatsächlich etwas mit einem lichteren, erweiterten Horizont der damaligen europäischen Menschheit zu tun: 1095 hatte Papst Urban II. zum ersten Kreuzzug aufgerufen, in dessen Verlauf besonders französische Ritter den Orient mit seiner teilweise wesentlich höheren Kultur kennen lernten. Dessen Einflüsse strömten nach Frankreich zurück und erweiterten die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten wesentlich. Außerdem erreichte die christliche Religion durch die Gewinnung Jerusalems eine euphorische Stimmung im Sinne einer anbrechenden Weltherrschaft gegenüber dem Islam.
Fast zeitgleich fand in Spanien 1094 die Rekonquista, also die christliche Zurückeroberung der iberischen Halbinsel von den Arabern durch den legendären Ritter El Cid in der Eroberung Valencias einen Höhepunkt. Die christliche Religion eroberte sich also ab 1100 ganz neue Weiten - und die riesenhafte Erhellung des christlichen Kultraumes in der gotischen Kathedrale spiegelt das in gewisser Weise wider. In diesen Zusammenhang gehört sicher auch, dass gleichzeitig das „mystische Schrifttum“ beginnt mit Hildegard von Bingens 1141 erschienener Vision des „Liber Scivias“. Die Zeit des beginnenden 12. Jhs. verlangte also gleichsam nach neuen ekstatischen Bildern.
Aber es gab noch andere symbolische Bedeutungen in diesem ersten gotischen Bauwerk St-Denis. Die Vorstellung von der Kirche als einem Abbild und einer irdischer Verwirklichung des Gottesstaates ist für das Mittelalter typisch und diese symbolischen Beziehungen dürfen bei Bauherren und Laien jener Zeit als bekannt vorausgesetzt werden (Bandmann, Günter: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin [1951] 61979, S. 64).
Es gibt aber in der Wissenschaft Stimmen, die bei der Deutung mittelalterlicher Formen sehr zur Vorsicht raten. Die Schöpfer solcher mittelalterlicher Kathedralen und ihre Zeitgenossen erlebten solche Bauwerke zwar wahrscheinlich grundlegend anders als wir heute. Dazu etwas Beweisbares sagen zu wollen ist allerdings schwierig und problematisch. Günther Binding, einer der besten Kenner mittelalterlicher Baukunst in Deutschland, betont ausdrücklich: „Über die speziellen Absichten der Bauherren sind leider nur selten und dann recht allgemeine Nachrichten überliefert; auch über die Bewertung der Bauten durch die Zeitgenossen sind wir kaum informiert.“ (Binding, Günther: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 7)
Bei St-Denis verfügen wir allerdings zumindest über schriftliche Stellungnahmen seines Erbauers, obwohl man auch das unterschiedlich interpretieren kann. Aber auch in Sugers Schriften finden sich nur recht allgemeine Gedanken, keine konkreten Hinweise auf die Architektur.
So heißt es beispielsweise in seiner Beschreibung von St-Denis: „In der Mitte hoben 12 Säulen, entsprechend der Zahl der Apostel, und ebensoviel in den Seitenschiffen, die Zahl der Propheten kennzeichnend, den Oberteil des Gebäudes empor, nach den Worten des Apostels, der im Geiste baut.“ Und er verweist hier auf Paulus, Brief an die Epheser, Kap. 2,19-20. Achten Sie bitte bei dem folgenden Bibelzitat auf die hier schon deutlichen Verweise auf architektonische Formen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, welcher die Wände von beiden Seiten eint [im Schlussstein], in dem jedes Bauwerk, sei es geistig oder materiell, wächst zu einem heiligen Tempel des Herrn.“ (Bandmann, Günter: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger. Berlin [1951] 61979, S. 64; Brooke, Christopher: Die Kathedrale in der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Swaan, Wim: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 52; S. auch Oursel, Raymond / Stierlin, Henri (Hrsg.): Romanik (= Architektur der Welt, Bd. 15), S. 49 ff.)
Das hört sich alles nach einem sehr symbolbehafteten Bauwerk an. Man muss hier allerdings berücksichtigen, dass diese Schrift von Suger keinen ‚Erlebensbericht’ für interessierte Freunde darstellt, sondern eine Rechtfertigungsschrift besonders gegenüber Bernhard von Clairvaux und seiner Forderung nach einer asketischen Architektur. Das, was Suger in St-Denis vorhatte, ähnelte an Pracht eher einem damals in dieser Hinsicht besonders berüchtigtem Bau, nämlich Cluny III, und nicht so sehr dem asketischen Vorbild von Fontenay – beide Bauten werde ich Ihnen in diesem Seminar noch zeigen. Und „Bernhard war eine Persönlichkeit, die man nicht ignorieren durfte.“ Das heißt: Suger verfolgte mit seiner Schrift auch den Zweck, seinen Neubau nicht als irdischen Prachtbau erscheinen zu lassen, sondern demonstrativ als mystische Erscheinung, damit man von theologischer Seite möglichst wenig dagegen sagen konnte.
Suger, der Erbauer von St-Denis, war sich der Bedeutung seines Werkes durchaus bewusst. In der zitierten schriftlichen Abhandlung versuchte er, seinen Zeitgenossen und der Nachwelt die Elemente der neuen Architektur zu erklären, die ihm als die wichtigsten erschienen. Diese kleine Schrift ist wegen der Seltenheit eines solchen mittelalterlichen Dokumentes trotz der erwähnten Einwände ungemein wichtig für das Verständnis der Gotik zur Zeit ihrer Entstehung. Sie ist alles andere als eine ästhetische Analyse im Sinne moderner Kunstkritik. Am Anfang wird die mystische Vision jener Harmonie vor uns entworfen, mit der die göttliche Vorsehung den Kosmos durchwaltet und der sich daher auch in der Kirche als göttlichem Bauwerk wieder findet. Vergessen wir mal den taktischen Nebenzweck, den diese Schrift auch erfüllen sollte.
Die Besucher des neuen Heiligtums sollen zu einer religiösen Ergriffenheit hingeführt werden, die dem Abt von St-Denis nach eigenen Aussagen selbst durch die Kunst vermittelt worden war. Der Entwurf dieser Kirche, also die Entstehung der Gotik, wurzelt in Sugers Augen in der Tat weitgehend in jener ekstatischen religiösen Erfahrung. Er war sogar der Überzeugung, dass ihm die Gestalt seiner Kirche auf übernatürliche Weise eingegeben worden sei.
In diesen Zusammenhang gehört die Geschichte, wie Suger geeignete Säulen für seine neue Kathedrale gefunden hat, nachdem man im Kapitel lange überlegt hatte, wie man den schwierigen Transport passender Steine von Rom nach St-Denis organisieren soll – das hatte etwas mit der symbolischen Bedeutung solcher Steine zu tun, die aus Rom kamen. Durch Gottes Fügung sei man dieser Sorgen schließlich enthoben worden, weil man in unmittelbarer Nähe - nämlich bei Pontoise - einen Steinbruch gefunden habe, dessen Material so vorzügliche Eigenschaften besitze, dass man auf die römischen Importsäulen habe verzichten können. (Diese neuen Steine wurden übrigens in der „en-délit“-Technik eingesetzt, also gegen die Maserung des Steines senkrecht).
Die Kathedrale war Symbol der göttlichen Offenbarung, die hier mit eigenen Augen leibhaftig gesehen werden konnte. Zu Anfang des 12. Jhs. gab es eine neue asketische, reformerische Bewegung in Frankreich, die sich auch in der Entstehung eines neuen, strengen Ordens zeigte, dem der Zisterzienser, auf den ich in Burgund ausführlich eingehen werde. Die Frühgotik und die Zisterzienser-Architektur sind auf dem gleichen geistigen Boden entstanden. Der französische König unterstützte den neuen Reform-Gedanken und der Papst anerkannte die königliche Verfügungsgewalt über die ‚königlichen’ Bistümer.
Ein Blick direkt nach oben demonstriert, die scheinbar schwerelos auf den grazilen Pfeilern des Mittelschiffes das Gewölbe ruht über einem riesigen Lichtgaden von vierbahnigen Maßwerkfenstern, wie sie zuerst 1220 in Amiens entwickelt wurden. Die Gewölbe sind ebenfalls Kreuzrippengewölbe. In der Mitte treffen sie sich im Schlussstein, der alles zusammenhält und daher in seiner symbolischen Bedeutung mit Christus gleichgesetzt wird. Hans Sedlmayr hat dieses Jochsystem als zentralen Gedanken der Gotik herausgehoben. Man kann jedes Joch für sich als einen überdimensionalen Baldachin ansehen und von da aus in einem gotischen Langhaus eine dichte Folge von hoheitsvollen Baldachinen, die sich wie ein Himmel über dem Allerheiligsten auf dem Altar erheben.
Eine solche steinerne Kathedrale stand im 12. Jh. außerhalb aller gewohnten Verhältnisse. Sie überragte wortwörtlich die Maßverhältnisse des normalen irdischen Lebens. Wenn wir heute noch mit einem gewissen Schauer vor oder in einem solchen Bauwerk stehen, dann kann man sich vielleicht ein Bild davon machen, dass der mittelalterliche Mensch der Überzeugung war, in einer solchen Kathedrale seinen alltäglichen Lebensraum verlassen zu haben und sich in einer höheren Welt zu bewegen, in einer Welt extremer, ausdrucksgeladener Bilder.
Die Zahlenverhältnisse
Zahlenverhältnisse repräsentieren die göttliche Ordnung und die wird durch das Licht besonders hervorgehoben. Das gesamte Langhaus ist unterteilt in eine gleichförmige Abfolge von Jochen mit jeweils einem Kreuzrippengewölbe. Zu jedem Mittelschifffeld gehören ein südliches und ein nördliches Seitenschifffeld. Die Maßeinheit für den gesamten Bau ist das Vierungsquadrat im Seitenverhältnis von 1:1. Jeweils zwei Mittelschiffjoche bilden ein Vierungsquadrat, jedes Mittelschiffjoch ist doppelt so groß wie ein Seitenschiffjoch, beide stehen also im Verhältnis 1:2. Und auch im Wandaufbau lassen sich solche einfachen geometrischen Verhältnisse nachweisen. Das Quadrat mit seinem „vollkommenen Zahlenverhältnis“ von 1:1 war im 12. Jh. das geometrische Abbild der Gottheit. (Simson, Otto von: Die gotische Kathedrale. Darmstadt [1956] 31979, S. 77)
Solche geometrischen Maßverhältnisse wurden ganz allgemein als solche „Abbilder des Gottesreiches auf Erden“ angesehen, wie man es sich damals vorstellte und wie der Bauherr Suger das vorhin schon betont hat. Mit dem Begriff des Göttlichen war durch das ganze Mittelalter hindurch der Begriff „ordo“ verbunden, ordo bedeutet „Ordnung, Maß“. Das geht auf den antiken Architektur-Schriftsteller Vitruv zurück, dessen Werke in zahlreichen Abschriften bekannt waren. Nicht umsonst waren im frühen Mittelalter die Baumeister meistens Theologen, die bautechnisch wenig gebildet waren. Das änderte sich erst ab ca. 1250, als geschulte Fachleute die Bauführung übernahmen.
In dem berühmten Bauhüttenbuch des picardischen Architekten Villard de Honnecourt von 1225-35 sind bereits solche geometrischen Maßverhältnisse als Grundlage der Konstruktion gotischer Kathedralen niedergelegt. Man stellte sich die göttliche Schöpfung nach den Verhältnissen der Geometrie vor und der mittelalterliche Architekt unterwarf sich diesem Prinzip seines vermeintlichen göttlichen Lehrmeisters. Und das Licht betonte diese klare Ordnung noch zusätzlich.
Otto von Simson behauptet in seinem Buch über die gotische Kathedrale: „Wie eng die gotische Architektur und die Metaphysik des 13. Jhs. miteinander zusammenhängen, geht aus dem einzigen theoretischen Werk eines gotischen Baumeisters klar hervor, das uns aus diesem Zeitalter erhalten geblieben ist. Das berühmte Musterbuch des picardischen Architekten Villard de Honnecourt: Es geht darum [...] ... die Prinzipien aufzuzeigen, die nach seiner Meinung jeder künstlerischen Komposition zugrundeliegen, und zwar nicht nur der Architektur, sondern auch in Plastik und Malerei. Diese Prinzipien sind geometrischer Natur. [...] Sie stellt nichts anderes dar als die praktische Anwendung der metaphysischen und kosmologischen Anschauungen des Zeitalters, wenn diese Villard und seinen Schülern auch nicht mehr bewusst gewesen sein mögen, als es die Weltanschauung ihrer Zeit Künstlern anderer Epochen gewesen ist. [...]
In Villards Musterbuch werden nicht nur die geometrischen Regeln der gotischen Architektur dargelegt, sondern auch die augustinische Ästhetik der ‚musikalischen’ Verhältnisse, Verhältnisse, die den Intervallen der vollkommenen Akkorde entsprechen. Villard ist unser frühester theoretischer Zeuge für die Proportion ‚nach rechtem Maß’. [...]
So verhalten sich die Länge der Kirche zum Querhaus wie die Quinte (2:3). Die Oktave (1:2) bestimmt das Verhältnis zwischen Haupt- und Seitenschiff, Länge und Breite des Querhauses und - wie wir auf Grund der zisterziensischen Baupraxis annehmen dürfen - auch des Aufrisses. Das Verhältnis 3:4 im Chor lässt die Quarte anklingen, das Verhältnis 4:5 von Hauptschiff und Seitenschiffen zusammengenommen entspricht der Terz, während die Vierung, liturgisch und ästhetisch das Zentrum der Kirche, auf dem Verhältnis des Einklangs, 1:1, beruht, dem vollkommensten der Akkorde.“ (Simson, Otto von: Die gotische Kathedrale. Darmstadt [1956] 31979, S. 276-279)
Die Zahlenverhältnisse von 1:1, der Oktave 1:2, der Quinte 2:3 und der Quarte 3:4 bestimmten den Aufbau der Kathedrale innen und außen und waren auch die Grundlage der damaligen Musik. Das war kein Zufall. In solchen Verhältnissen sah man die geordnete göttliche Welt realisiert. Der hl. Augustin stellte Musik und Architektur als „Schwestern der Zahl“ zusammen über die anderen Künste (Brooke, Christopher: Die Kathedrale in der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Swaan, Wim: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 51).
Das durchlichtete Triforium
In St-Denis gibt es noch eine weitere wichtige architektonische Neuerung, die mit dem Licht zu tun hat, allerdings wesentlich späteren Datum ist: das sog. durchlichtete Triforium. Das gehört nicht zur Frühgotik, sondern zur Hochgotik. Die Entwicklung in St-Denis verlief folgendermaßen: Der frühgotische Chor wurde in nur dreijähriger Bauzeit vollendet. Er wurde am 11.7.1144 geweiht. Nach dem Tod Sugers 1151 trat der von ihm immer schon befürchtete Stillstand in der Bautätigkeit ein, so dass das Langhaus und der obere Teil des Chores erst einhundert Jahre später in Angriff genommen wurden. Von 1231-1281 wurde es errichtet und stellt nun eines der schönsten Beispiele der Hochgotik dar.
Auch im Langhaus erfüllt intensives Licht den knapp 30 Meter hohen Raum. Und für diesen Eindruck von großer Bedeutung ist neben der oberen Fensterzone das durchlichtete Triforium, das 1231 hier zum ersten Mal – zusammen mit Amiens - auftritt (Binding, Günther: Architektonische Formenlehre. Darmstadt 1980, S. 132: erst seit 1260). Der Begriff ‚Triforium’ kommt aus dem Altfranzösischen und bedeutet eigentlich ‚durchbrochene Arbeit’. Es ist eigentlich ein Laufgang in der Mauer zwischen dem unteren Arkadengeschoss und dem oberen Lichtgaden.
Nach einem langen Entwicklungsgang hat die Hochgotik eine raffinierte Idee entwickelt. Lange Zeit hatte das Triforium keine Fenster nach außen, nur Bogenöffnungen nach innen zum Hauptschiff hin, weil an der Außenseite das Dach des Seitenschiffes anlehnte. Jetzt, um 1231, kam man auf die Idee, aus dem traditionellen Pultdach des Seitenschiffes ein Satteldach zu machen, dessen Innenseite zur Hauptschiffmauer hin gesenkt ist und das dadurch auch in dieser Zone den Durchtritt von Licht ermöglichte.
Man darf sich die Bedeutung des Lichtes für die Gotik aber nicht so vorstellen, dass damit der Innenraum nun wesentlich heller gemacht werden sollte. Es kam den Baumeistern nicht in erster Linie auf die Helligkeit an, denn die war abhängig vom Sonnenstand und vom Wetter, war also variabel und daher nicht ‚göttlich’. Sondern es kam ihnen an auf die magische Wirkung des farbigen Lichtes, auf das Erscheinungsbild einer durchleuteten Wand, auf das überirdische Licht, unabhängig vom Sonnenstand (Simson, Otto von: Die gotische Kathedrale. Darmstadt [1956] 31979, S. 14).
Hans Jantzen und die „diaphane Struktur“
Hans Jantzen hat 1927 für dieses Phänomen den in der Kunstgeschichte bekannt gewordenen Begriff einer „diaphanen Struktur“ geprägt (Jantzen, Hans: Über den gotischen Innenraum und andere Aufsätze. Berlin 1951. S. 7-20). Er verwies darauf, dass es in der gotischen Lichtführung und auch in der Konstruktion der Wand darauf ankam, gleichsam zwei Schichten hintereinander zu setzen: eine sehr plastisch geformte, bedeutungsgeladene vordere Schicht und eine optische Raumschale dahinter, die wie eine Grundfläche wirkte, vor der die vordere Schicht sich abhebt. Und diesem Prinzip entsprachen auch die immer größer werdenden Fenster. Bei ihnen war das „Durchscheinende“ allein schon durch das Licht gegeben, bei der Wand musste dieser Effekt durch die Raumschale dahinter erst konstruiert werden.
Jantzen sieht „das Verhältnis der körperplastisch geformten Wand zu den dahinterliegenden Raumteilen als Verhältnis zwischen Körper und Grund. Das heißt: die Wand als Begrenzung des gesamten Langhausinnern ist nicht ohne den Raumgrund faßbar [...] Der Raumgrund selbst zeigt sich als optische Zone, die der Wand gleichsam hinterlegt ist. Im Terminus ‚Hinterlegung’ spricht sich der Charakter der Bezogenheit vom Wandkörper zum Raumgrund aus. So will also der Begriff der diaphanen Struktur besagen, dass verschiedenartige Raumteile, die hinter dem Wandkörper (als Grenze des Hochschiffs) liegen, in ihrer Funktion als pure optische Erscheinung in die Stilbildung der Hochschiffwand eingreifen.“
Nach seiner Theorie ist das Mittelschiff in seiner ganzen Höhe von einer Raumschale mit verschiedener Tiefenschichtung umgeben, bei basilikalem Querschnitt in jedem Geschoss anders, doch werde jeweils das Prinzip der Zweischaligkeit gewahrt.
Es ging nicht um Helligkeit allein, sondern darum, eine gestaltete Fläche durchscheinend zu machen. Und genau dieser Funktion dienen nach Jantzens Auffassung auch das Triforium und die Empore. Beide sorgen dafür, dass sich ein Zwei-Schalen-System in der gotischen Mauer entwickelt. Eine vordere Wand wird wie ein Dia auf dem Hintergrund einer hinteren Raumschale transparent gemacht. Das Prinzip dieses „Diaphanen“ ist aus dem Kern des kultischen Vorgangs selbst zu deuten, der sich in der Kathedrale während des Gottesdienstes abspielt. In einem Paradox wird der Raum zum Symbol eines raumlosen, eines geistigen Zustandes.
Mit dem durchlichteten Triforium konnte endlich fast die gesamte Außenwand des Raumes gleichsam in Licht und Farbe aufgelöst werden. Es entstand dadurch eine ausdrucksstarke, expressive durchleuchtete Bildwand - denn zwischen das obere Fenstergeschoss und das unteren Arkadengeschoss, das von den Seitenschiffwänden her Licht einströmen ließ, kam jetzt als letztes, als drittes Glied das durchlichtete Triforium. Die gotische Tendenz zur Auflösung der Mauer und ihre Verwandlung in einen Lichtträger haben hier einen ersten Höhepunkt gefunden. Die Fenster der Kirche wurden allerdings 1793 weitgehend zerstört. Einige davon wurden 1848 von Viollet-le-Duc restauriert, Bruchteile und vollständige Fenster finden sich in Kirchen und Sammlungen in ganz Europa (Lee, Lawrence / George Seddor / Francis Stephens: Die Welt der Glasfenster. Zwölf Jahrhunderte abendländischer Glasmalerei in über 500 Farbbildern. Farbbilder von Sonia Halliday und Laura Lushington. Freiburg/Breisgau 1977, S. 68)
Die trägen Mauermassen der Romanik sind belebt worden, die Spannung des Raumes gesteigert und der gesamte Bau in ein System intensiver Bildwelten verwandelt. (Pevsner, Nikolaus: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 31973, S. 145).
St-Denis als königliche Grablege
Zuletzt noch eine Bemerkung zu der Rolle von St-Denis als königliche Grablege. Man könnte ja erwarten, dass sich hier eine ganze Reihe von historisch wichtigen Grabdenkmälern befindet wie diese Grabfigur Philipp des Schönen aus der Zeit vor 1327.
Aber auch damit hat die Französische Revolution gründlich aufgeräumt, wie überhaupt in dieser historischen Umbruchsituation eine Fülle rein zerstörerischer Handlungen unter dem Mantel der neuen Befreiungsideologie durchgeführt wurde. Die offiziellen Begründungen für solche Zerstörungen zeugten von maßloser Dummheit bei den gleichen Leuten, die die Anbetung der Vernunft auf ihre Fahnen geschrieben hatten. So wurden beispielsweise bei einigen Kathedralen die verschieden hohen Türme in ihrer Höhe einander angeglichen, d.h. die höheren Türme wurden kürzer gemacht, damit auch hier das ursprünglich juristische Prinzip der egalité, der Gleichheit vor dem Gesetz auch in der Architektur realisiert wurde. Oder es wurden zur Zeit der Aufklärung die farbigen Fenster herausgerissen und durch einfaches Glas ersetzt, weil damit angeblich der klare Geist des Verstandes die dunkle Welt mittelalterlicher Mystik vertreibe. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie schlichte Gemüter mit schwierigen Gedanken umgehen und sie treuen Herzens sofort in Taten umsetzen und dabei häufig genau das dokumentieren, was sie angeblich überwunden haben. Bei der Russischen Revolution war das nicht anders.
1793 machten sich die Zerstörungstruppen der Französischen Revolution über die Königsgräber von St-Denis her. Die Reste von fast 160 Königen, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen sowie zehn königliche Granden wurden aus ihren wertvollen Särgen und Sarkophagen gerissen und in nahe gelegenen Gruben verscharrt. 1817 ließ der wieder eingesetzte König Ludwig XVIII. die gemischten Gebeine ausgraben und in zwei unscheinbaren gemauerten Knochenschreinen in einem Seitenraum der Krypta beisetzen. Zum 200. Jahrestag der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21.1.1993 ist alles wieder richtig angeordnet worden.
Die Fenster der Kirche wurden allerdings 1793 weitgehend zerstört. Einige davon wurden 1848 von Viollet-le-Duc restauriert, Bruchteile und vollständige Fenster finden sich in Kirchen und Sammlungen in ganz Europa.
Die Kathedrale als ‚sozialer Treffpunkt’
Man könnte jetzt nach allem, was bisher in diesem Artikel über die gotische Kathedrale gesagt worden ist, glauben, dass es sich hier ausschließlich um eine hohe, rein spirituelle Angelegenheit handelt. Diesem Eindruck soll jetzt rechtzeitig vorgebeugt werden, um damit auch eine Gegenbewegung deutlich zu machen. Diese großen Kathedralen dienten im Mittelalter sehr verschiedenen Zwecken.
Sie waren nicht nur Inbegriff der geistigen Bestrebungen der damaligen Zeit, sondern auch ein sozialer Treffpunkt, beispielsweise bei den Mysterienspielen, die seit dem 12. Jh. in der jeweiligen Volkssprache durchgeführt wurden - also nicht in Latein (Althoff, Gerd / Hans-Werner Goetz / Ernst Schubert: Menschen im Schatten der Kathedrale. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 241). Ein berühmtes Beispiel ist das Eselsfest, das „festum asinorum“, das im 14. Jh. in Beauvais stattfand.
Dargestellt wurde bei diesem Eselsfest die Flucht nach Ägypten. Ein schönes Mädchen spielte die Maria und ritt mit einem reich geschmückten Esel bis an den Altar. Danach wurde eine Messe gelesen, die sich unter anderem darin vom üblichen unterschied, als der Priester am Ende nicht „Amen“ sagte, sondern „IA“, worauf die Gemeinde mit einem dreifachen „IA“ antwortete (Funkkolleg Kunst, Studienbegleitbrief 1, 1984, S. 77).
Oder eine Erzählung aus Straßburg, einer eigentlich deutschen Kirche. Die Kathedrale wurde gelegentlich auch als Warenspeicher, als Stall, als Gasthaus, als Hurentreff, als Markt und sogar als Festung benutzt. Durch einen Rechtsstreit zwischen dem Domkapitel und dem Rat der Stadt in Straßburg ist überliefert, dass die Huren der Stadt sich in den Seitenschiffen beziehungsweise Kapellen der Kathedrale anbieten durften. Der Streit ging übrigens nicht etwa um die Frage, ob dies moralisch zu vertreten sei, sondern um das Problem, wer die finanziellen Abgaben erhalten sollte, welche die Frauen zu entrichten hatten (Funkkolleg Kunst, Studienbegleitbrief 1, 1984, S. 79.) Ähnliche Verhältnisse scheinen schon in antiker Zeit geherrscht zu haben, wenn man an die berühmte Szene denkt, in der Christus die Händler aus dem Tempel in Jerusalem treibt (Matthäus-Evangelium, Kap. 21, Vers 12) mit dem Verweis darauf, dass der Tempel eigentlich nur zum Beten da ist. Die Probleme waren also nicht neu.
Die gerade erwähnte eigenartige Verbindung zwischen Kirchenraum und Prostitution ist ebenfalls nicht neu. Im antiken Rom waren es die Tempel, in denen sich erotische Beziehungen mit Vorliebe abspielten. Denn Tempel (wie später Kirchen) boten Damen die einzige Gelegenheit, ihr Haus zu verlassen und Liebhaber zu treffen. Außerdem war die Tempelprostitution Bestandteil orientalischer Kulte (Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis): Satiren (Saturarum libri V - Fünf Bücher Satiren; wahrscheinlich nach 96 verfasst). Stuttgart [1969] 1994, 9. Satire, Anmerkung 5, S. 199).
Ein anderes Beispiel: Ein altes Wegerecht konnte höher bewertet werden als Ruhe und Andacht und wohl auch Sauberkeit in der Kathedrale. Wieder in Straßburg war es den Schweinehirten erlaubt, ihre Tiere von Nord nach Süd durch das gesamte Querhaus zu tragen, weil vor dem südlichen Querhausportal seit alters her der Schweinemarkt stattfand, und die Schweinehirten mit ihren Tieren ihren alten Weg gehen wollten, ob da nun eine Kathedrale stand oder nicht.
Die riesigen Dachböden der Kirchenschiffe dienten häufig als Getreidespeicher, die Kirchtürme als Aufbewahrungsort von Wertsachen, - beides deswegen, weil die Kirchen aus Stein gebaut und damit nicht so feuergefährdet waren wie die Bürgerhäuser. In der Kirche der hansischen Kaufleute in St.-Peters-Hof zu Nowgorod wurden die Warenballen manchmal so dicht gestapelt, dass Bestimmung erlassen werden musste, wenigstens den Zugang zum Altar freizuhalten (Althoff, Gerd / Hans-Werner Goetz / Ernst Schubert: Menschen im Schatten der Kathedrale. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 278).
Das Langhaus einer Kathedrale war allgemein der religiöse und gesellschaftliche Treffpunkt der Stadt, im ländlichen Italien ist er das heute noch so. Man musste beispielsweise eigens Verordnungen erlassen gegen das Ballspiel und das Abschießen von Vögeln im Innenraum (Brooke, Christopher: Die Kathedrale in der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Swaan, Wim: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 19). „In der Kathedrale von Chartres, die die heiligste Reliquie der Muttergottes bewahrte und größere Inbrunst als irgendeine andere Kirche erweckte, hatten die Weinhändler ihre Buden im Schiff und gaben ihren Platz erst auf, als das Kapitel einen Teil der Krypta für sie allein reservierte.“ Damals waren die Kathedralen auch noch nicht mit Stühlen und Bänken voll gestellt. Man stand während der Predigt oder kniete. Und bis zum allgemeinen Aufkommen der Rathäuser im 13. Jh. war die Kathedrale auch zentraler Versammlungs-, Beratungs- und Wahlort für die Organe der bürgerlichen Gemeinde und für Rechtsgeschäfte.
Und da die Bewegungsmöglichkeiten vor allem der „höheren Töchter“ in der Öffentlichkeit damals noch massiven Einschränkungen unterlagen, ergaben sich in einer Kirche auch die seltenen und daher begehrten Möglichkeiten zum Anknüpfen erotischer Beziehungen - siehe den ersten Akt der Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner. Auch Dante hat seine geliebte Beatrice zum ersten Mal in einer Kirche gesehen. Da die jungen Damen im Rahmen ihrer angeblich sittsamen Erziehung regelmäßig in die Kirche gingen, lag es für die jungen Männer nahe, sie eben dort kennen zu lernen.
Auch in wesentlich späteren Zeiten wurde diese Sitte geübt. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in den USA in illustrierten Frauenzeitschriften im Rahmen der regelmäßigen Tips, wie man einen Mann ergattern kann, der Rat erteilt: „Die Kirche ist auch ein guter Platz, um einen Mann zu treffen“, schrieb das Ladies Home Journal. Und weiter: „Tragen Sie in solchen Fällen keine Handschuhe … Ihre linke Hand muß sichtbar sein, damit er sehen kann, dass Sie keinen Ring tragen“ – Amerikaner tragen den Ehering an der linken Hand.
Soviel zu den Wandlungsmöglichkeiten einer ursprünglich spirituellen Idee im Mittelalter. Man muss allerdings berücksichtigen, dass der heiligste Bereich rund um den Hauptaltar teilweise von Mauern umgeben, beziehungsweise der ganze Chor durch den Lettner vom Langhaus und seinem weltlichen Geschehen getrennt war.
In einer gotischen Kathedrale als Zentrum des städtischen Lebens des Mittelalters treffen sich sehr verschiedene Tendenzen, von denen, die bisher hier erwähnt wurden, allein folgende:
1.) auf politischer Seite die Kathedrale als Manifestation königlicher Gewalt
2.) auf architektonischer Seite die Bewegungsdynamik an der Fassade, ihre Höhensteigerung in der Mitte und ihre Umwandlung zu dekorierten Bildflächen, im Innenraum die wachsende Größe der Fenster, die möglich wurde durch das Kreuzrippengewölbe und das Strebewerk, damit verbunden die neue Lichtmystik
3.) das Sichtbarmachen der wirkenden Kräfte, die Illusionsarchitektur (Binding) in einem solchen riesigen Bauwerk - in den Gewölberippen, den Diensten, den unzähligen weiteren Stützen, die auf allen Ebenen angebracht sind, ohne dass sie unbedingt ‚statisch’ wirklich notwendig wären
4.) das geometrische Verhältnis der Bauteile, in dem sich die göttliche Ordnung versinnbildlicht, die ihrerseits vom Licht magisch hervorgehoben wird
5.) die Symbolik der Kathedrale als ‚Himmlisches Jerusalem’, als Abbild einer ganzen Stadt
6.) die Kathedrale als der zentrale öffentliche Treffpunkt für Geistliche, bürgerliche Gläubige, ungebildete Bauern und Arbeiter, Weinhändler, Huren und Schriftgelehrte
7.) die Kathedrale als Gerichtsstätte, als Ort der Taufe, der Hochzeit, der Beerdigung, als Ort der Ausrufung von Kreuzzügen und von politischen Manifesten und als Stätte von großen Staatszeremonien wie beispielsweise Krönungen.
8.) als Theaterplatz für Mysterienspiele und große Chorgesänge
9.) als Ort der erotischen Annäherung von bürgerlichen jungen Frauen und hoffnungsvollen jungen Männern
10.) und – es wurde auch Gottesdienst gehalten.
Kurz: die Kathedrale als Gesamtkunstwerk, als Kulminationspunkt von allen diesen Faktoren, das macht ein solches Bauwerk so vielschichtig und von daher verbietet sich die schlichte Frage, welchen Sinn denn eine solche Kathedrale hat, welchem Zweck sie eigentlich dient. Es gibt nicht den einen Faktor, der alles erklärt. Beispielsweise wäre die gotische Lichtmystik als „geistiges“ Prinzip nicht möglich geworden ohne die „technische“ Erfindung des Kreuzrippengewölbes und des Strebewerkes. - Und ohne den „politischen“ Gegensatz zwischen dem ‚deutschen’ Reich und dem Papst und der besonderen Rolle Frankreichs in dieser Auseinandersetzung hätte es der französische König nicht für so notwendig gehalten, die Bauwerke der Kirche für politische Bauwerke des eigenen Königtums zu nehmen und ihnen daher eine solche Wichtigkeit beizumessen.
Alle diese Faktoren – und noch andere - wirken zusammen, legen sich gegenseitig aus und steigern sich zu einer Intensität des architektonischen Ausdrucks, den es bis dahin noch nicht gegeben hatte und der uns heute noch – fast 900 Jahre nach seiner Entstehung – in ehrfürchtiges Erstaunen versetzt.
In Saint-Denis begrabene Herrscher

- Chlodwig I.
- Childebert I.
- Dagobert I.
- Chlodwig II.
- Karl Martell (als fränkischer Hausmeier)
- Pippin der Jüngere und seine Ehefrau Bertrada die Jüngere
- Karl der Kahle, zuerst in Nantua bestattet, später nach St. Denis transloziert
- Ludwig III.
- Karlmann
- Robert II. der Fromme
- Heinrich I.
- Ludwig VI. der Dicke
- Ludwig VII.
- Philipp II. August
- Philipp III. und seine Ehefrau Isabella von Aragon
- Philipp IV. der Schöne
- Ludwig X. der Zänker
- Johann I.
- Philippe V. der Lange
- Karl IV. der Schöne
- Philipp VI.
- Johann II. der Gute
- Karl V. und seine Ehefrau Johanna von Bourbon
- Karl VI. der Wahnsinnige und seine Ehefrau Isabeau von Bayern
- Karl VIII.
- Ludwig XII. und seine Ehefrau Anne de Bretagne, Witwe von Karl VIII.
- Franz I. und seine Ehefrau Claude de France, Herzogin von Bretagne
- Heinrich II. und seine Ehefrau Katharina von Medici
- Franz II.
- Karl IX.
- Heinrich III. und seine Ehefrau Luise von Lothringen
- Heinrich IV. und seine Ehefrauen Margarete von Valois und Maria von Medici
- Ludwig XIII. und seine Ehefrau Anna von Österreich
- Ludwig XIV. und seine Ehefrau Maria Theresia von Spanien
- Ludwig XV. und seine Ehefrau Maria Leszczynska
- Ludwig XVI. und seine Ehefrau Marie-Antoinette
- Ludwig XVIII.
- Isabella von Hennegau, Ehefrau von Philipp August
Ludwig der Heilige verweigerte die Beerdigung von Ingeborg von Dänemark, der Ehefrau Philipp Augusts.
Nicht in Saint-Denis begrabene Herrscher
- Childebert I. (558), Chilperich I. (584), Fredegunde (598) und Chlothar II. (628) wurden in der Abtei Saint-Germain-des-Prés beerdigt;
- Karl der Große ist im Dom zu Aachen begraben;
- Ludwig der Fromme wurde in der Kathedrale von Metz bestatttet;
- Ludwig II., der Stammler, sowie Ludwig V., der Faule, sind in Compiègne beerdigt;
- Karl III., der Einfältige, liegt in Péronne;
- Ludwig IV., der Überseeische, sowie Lothar I. wurden in Reims bestattet;
- Philipp I. wurde in der Abtei Saint-Benoît-sur-Loire beerdigt;
- Ludwig IX. der Heilige wurde in Carthago beerdigt. Ein Finger wurde in der Basilika Saint-Denis beigesetzt.
- Ludwig XI. wurde in Notre-Dame-de-Cléry bei Orléans beerdigt;
- Napoléon Bonaparte liegt im Invalidendom (Dôme des Invalides) in Paris
- Karl X. wurde in Kostanjevica in Slowenien begraben;
- Louis-Philippe wurde in Dreux beerdigt
- Ingeborg von Dänemark, Ehefrau von Philipp August, wurde die Beerdigung in Saint-Denis von Ludwig IX. trotzt ihres Wunsches verweigert
- Françoise d'Aubigné, zweite Ehefrau von Ludwig XIV., liegt in der Kapelle der Militärschule von Saint-Cyr-l’Ècole begraben
- Maria-Amalie von Bourbon-Sizilien, Ehefrau von Louis-Philippe ist – wie ihr Ehemann – in Dreux beerdigt
Weitere in der Basilika beerdigte Personen
- Bertrand du Guesclin
- Arnaud Guillaume de Barbazan
- Karl II. von Alençon (im 19. Jahrhundert umgebettet)
- NN von Artois (1776–1783), Petite-fille de France, Mademoiselle, erste Tochter Karls X.
- NN von Artois (1783–1783), Petite-fille de France, Mademoiselle d'Angoulême, zweite Tochter Karls X.
- Sophie von Frankreich (1786–1787), Fille de France, Madame Sophie, zweite Tochter Ludwigs XVI.
- Ludwig von Frankreich (1781–1789), Dauphin de France, ältester Sohn Ludwigs XVI.
- Das Herz von Ludwig von Frankreich (1785–1795), Dauphin de France, zweiter Sohn Ludwigs XVI. (Ludwig XVII.)
- Louise Isabelle d'Artois (1817–1817), tituliert Petite-fille de France, Mademoiselle, älteste Tochter von Karl Ferdinand von Artois
- Louis Joseph de Bourbon (1736–1818), Prince de Condé, duc de Bourbon, d'Enghien et de Guise
- Louis d'Artois (1818–1818), tituliert Petit-fils de France, erster Sohn von Karl Ferdinand von Artois
- Karl Ferdinand von Artois (1778–1820), Petit-fils de France, duc de Berry, zweiter Sohn Karls X.
- Louis Henri Joseph de Bourbon (1756–1830), Prince de Condé, duc de Bourbon, d'Enghien et de Guise
Äbte von Saint-Denis
- Waldo von Reichenau (805)
- Hilduin (um 835)
- Ludwig († 867), Enkel Karls des Großen, Erzkanzler (Rorgoniden)
- Gauzlin († 886), Abt 878–886, Halbbruder Ludwigs, Erzkanzler (Rorgoniden)
- Ebalus († 2. Oktober 892), Sohn des Herzogs Ranulf I. von Aquitanien
- Robert I. († 923) (Kapetinger)
- Suger († 1151)
- Odo von Deuil († 1162)
- Matthias von Vendôme (Mathieu de Vendôme) († 1286), Initiator der Grandes Chroniques de France
Weblinks
- L'Internaute Magazine: Diaporama (Französisch)
- Les casseurs de la révolution (Französisch) durch Gilles Marchal
- Ansammlung Fotographien des Saint Denis basilica