Rouen-les-Essarts
Rouen-les-Essarts war zwischen 1950 und 1993 eine Motorsport-Rennstrecke im Départements Seine-Maritime in der Region Haute-Normandie im Nordwesten Frankreichs. Sie bestand weitestgehend aus öffentlichen Straßen, wurde im Uhrzeigersinn befahren und war Austragungsort zahlreicher Auto- und Motorradrennen, darunter auch der Formel 1, Formel 2 und der Motorrad-WM. Ihre Bezeichnung leitete sich aus den Namen der nahegelegenen Stadt Rouen und des (inzwischen zur Stadt Grand-Couronne gehörenden) Ortes Les Essarts, durch dessen Gebiet sie führte, ab.
Entstehung
Nachdem bereits am 22. Juli 1894 der weltweit erste Automobilwettkampf "Paris-Rouen" in der Region endete und eine Motorsport-Tradition begründete, wurde in in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von passionierten Autorennfahrern im Wald von Les Essarts eine kleine Rennstrecke gebaut. Details und Pläne dieser Strecke sind nicht mehr bekannt; offenbar wurden die Spuren im 2. Weltkrieg getilgt. 1949 wurde der Bau einer geraden Verbindungsstraße zwischen Les Essarts und Orival durch den Wald geplant. Der Automobilclub der Normandie in Rouen beantragte bei der Département-Verwaltung erfolgreich die Nutzung der Straße für Motorsportzwecke und stellte 1950 einen 5,1 km langen Kurs aus dieser inzwischen fertiggestellten Straße, weiteren Départemental-Straßen und der Route Nationale 840 zusammen.
Start und Ziel waren auf der Kuppe eines Hügels, die Strecke beinhaltete deshalb eine spektakuläre Bergab-Passage, eine eigens gebaute enge Haarnadelkurve namens Nouveau Monde mit Kopfsteinpflaster-Belag sowie schnelle Kurvenkombinationen und Anstiege bis zu einem scharfen Rechtsknick vor der Zielgeraden. Dort wurden Boxenanlagen mit Starterturm, ein Fahrerlager und Tribünen gebaut, die schmale Fahrbahn selbst wurde zunächst kaum verändert. Stellenweise passten zwei Rennwagen nur knapp nebeneinander auf die Strecke, Überholvorgänge waren deshalb hauptsächlich auf der etwas breiteren neu gebauten Gerade möglich. Bis auf einige Zäune, stellenweise Leitplanken und temporär verlegte Strohballen waren auch keinerlei Sicherheitsmaßnahmen zu verzeichnen, Auslaufzonen gab es ebenfalls nicht, obwohl die Strecke zu den schnellsten des Landes gehörte.
Die ersten Rennen
Am 30. Juli 1950 wurde die Strecke von Jean Savale, dem Präsidenten des Automobilclubs der Normandie, eröffnet. Das Hauptrennen an diesem Tag war der erste Grand Prix de Rouen, das vom Franzosen Louis Rosier mit einem Talbot gewonnen wurde. Am selben Tag siegte der Brite Bill Whitehead (Cooper) in einem Formel-3-Rennen. Im ersten Jahr fanden keine weiteren internationalen Veranstaltungen statt, am 8. Juli 1951 gab es einen Grand Prix de Rouen-les-Essarts der Formel 2 (Sieger wurde der italienische Graf Giannino Marzotto mit einem Ferrari 166F2/50) und der Formel 3 (Gewinner war der Brite John Cooper im Cooper T16 mit einem Norton-Motorradmotor). In den folgenden Monaten wurde die Strecke teilweise verbreitert und die Infrastruktur verbessert. Boxenanlagen, Fahrerlager, Parkplätze und Tribünen wurden erweitert bzw. vergrößert, da im folgenden Jahr erstmals die Formel 1 in Rouen-les-Essarts erwartet wurde.
Dieser Formel-1-WM-Lauf am 6. Juli 1952 führte bei Regenwetter über 77 Runden und brachte nach drei Stunden einen Ferrari-Dreifach-Triumph: Start-Ziel-Sieger wurde Alberto Ascari vor seinen Teamkollegen Nino Farina und Piero Taruffi mit einem Renn-Schnitt von 129,2 km/h und einer schnellsten Rennrunde von 2:17,3 min. Die Fahrer und Experten sprachen damals vom herausfordernsten und schönsten Kurs Frankreichs und fühlten sich durch die Streckencharakteristik mit schmalen Fahrbahnen, starken Gefällen und Anstiegen und dem umgebenden Wald an die Nürburgring-Nordschleife erinnert.
Die Motorrad-WM-Rennen
1953 war die Motorrad-WM-Premiere für Rouen-les-Essarts mit zwei britischen Siegen. Gefahren wurden die Hubraumklassen bis 350 ccm (Gewinner Fergus Anderson auf Moto Guzzi) und 500 ccm (Gewinner Geoff Duke auf Gilera). Weitere WM-Läufe waren in den Jahren 1954 (nur 350 ccm) und 1965 (50, 125 und 250 ccm). Der letzte Gewinner eines Motorrad-WM-Laufs auf dieser Strecke war der 250-ccm-Weltmeister 1965 Phil Read auf Yamaha. Danach fanden die französischen WM-Läufe zunächst auf dem Circuit de Charade statt, der schon zwischen 1955 und 1964 mit dem Circuit de Reims-Gueux einer der Austragungsorte gewesen war.
Erster Umbau und erste Todesfälle
Nachdem am 11. Juli 1954 das letzte nicht zur WM zählende Formel-1-Rennen in Rouen-les-Essarts ausgetragen worden war, entschlossen sich die Betreiber zu einer Verlängerung der Strecke. Die Waldgerade Chemin de l'Etoile wurde aus dem Streckenverlauf herausgenommen und stattdessen eine erweiterte Sektion über öffentliche Straßen hinter dem Start- und Zielbereich eingefügt. Hinzu kamen damit die Kurven Grésil und La Scierie. 1955, im Jahr des katastrophalen Unfalls beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, fanden in Rouen-les-Essarts keine Rennen statt. Die nun 6,542 km lange Strecke wurde erst ab 1956 und bis 1971 genutzt, vor allem von der Formel 2, für Sportwagenrennen und ab 1957 noch viermal von der Formel 1. Den ersten Unfall mit Todesfolge verzeichnet die Chronik am 9. Juli 1967. Der französische Rennfahrer Jean-Claude Bernasconi kam beim nationalen Renault-Gordini-Cup in der schnellen Bergab-Kurve Virade des Six Frères von der Strecke ab, überschlug sich mehrmals, wurde aus dem Wagen geschleudert und so schwer verletzt, dass er zehn Tage später in einem Pariser Krankenhaus starb.
Weitaus folgenschwerer für die Strecke war jedoch der Tod des prominenten Franzosen Jo Schlesser beim Formel-1-Rennen am 7. Juli 1968 im selben Streckenabschnitt. Schlesser verlor auf der regennassen Fahrbahn wegen eines Motoraussetzers die Kontrolle über seinen vorher kaum getesteten neuen Honda RA302, prallte auf eine Böschung, überschlug sich und verbrannte. Da der Honda vorwiegend aus leichtem, aber auch leicht brennbarem Magnesium gebaut war, hatten die Streckenposten nicht genug Zeit. den Wagen zu löschen und Schlesser zu retten. Das Rennen wurde zwar noch mit einem Sieg des Belgiers Jacky Ickx im Ferrari beendet, war aber das letzte Auftreten der Formel 1 in Rouen-les-Essarts.
Ab 1969 traf sich hier als höchste Motorsportklasse nur noch die Formel 2 zum jährlichen französischen Europameisterschaftslauf. Einen "schwarzen Sonntag" mit zwei weiteren tödlichen Unfällen gab es dabei am 28. Juni 1970 bei einem Formel-3-Rahmenrennen zu diesem Grand Prix de Rouen: Jean-Luc Salomon kollidierte im letzten Streckendrittel zwischen den Kurven La Scierie und Paradis im Kampf mit vier Konkurrenten (unter anderem Bob Wollek, der nach der Kollision in den Wald rutschte und schwer verletzt wurde), Salomons Martini MW 5 landete mit dem Cockpit nach unten und der Fahrer starb an schweren Kopfverletzungen. Fünf Runden zuvor war schon der Franzose Denis Dayan vermutlich wegen eines Reifenschadens oder eines mechanischen Defekts in der Virade des Six Frères von der Strecke abgekommen und zwischen den oberen und unteren Leitplanken eingeklemmt worden. Dayan erlag am 2. Juli in einem Krankenhaus in Rouen seinen Verletzungen.
Weitere Umbauten und Sicherheitsmängel
Am 27. Juni 1971 war das letzte Formel-2-Rennen auf der langen Streckenvariante, die zuletzt durch zwei temporäre Schikanen in den Kurven Grésil und Paradis (kurz vor Start und Ziel) leicht entschärft worden war. Danach konnte der 1956 hinzugefügte Teil durch den Bau der neuen Normandie-Autobahn A13 nicht mehr genutzt werden. Statt aber die bis 1954 genutzte Tangente Chemin de l'Etoile wieder in Betrieb zu nehmen, die zum Teil nun als Zufahrtsweg zum Fahrerlager und den Parkplätzen diente, wurde erstmals ein permanentes Streckenstück gebaut, das nur für Rennveranstaltungen und nicht als öffentliche Straße genutzt wurde. Die Sektion Foret verlief im Wald zwischen dem Chemin de l'Etoile und der neuen Autobahn, bestand aus einer S-Kurven-Kombination und einer langen Geraden und mündete an der Paradis-Kurve wieder in die alte Strecke. Die Streckenlänge betrug nun 5.543 km. Teilweise wurden die Fahrbahnbeläge und Leitplanken erneuert, außerdem wurden für 1,7 Millionen französische Francs Zeitnehmerturm, Boxen und Fahrerlager umgebaut und erweitert; finanziert vom Generalrat des Départements Seine-Maritime und vom Automobilclub der Normandie. Am 25. Juli 1972 fand das erste Formel-2-Rennen auf dem neuen Kurs statt, das vom Brasilianer Emerson Fittipaldi im Lotus 69/Cosworth gewonnen wurde.
Die Teilnehmerlisten jener Zeit ähneln denen der Formel 1 im selben Jahrzehnt: Fahrer wie Niki Lauda, Jody Scheckter, Graham Hill oder François Cévert nutzten die Formel 2 als Vorstufe oder fuhren sogar in beiden Formel-Klassen. Problematisch waren dabei allerdings zum Teil die von der Formel 2 genutzten Strecken, die den aktuellen Sicherheitsstandards nicht mehr entsprachen. Deutlich wurde das beim Grand Prix de Rouen-les-Essarts, dem 9. Lauf zur Europäischen Formel-2-Meisterschaft am 24. Juni 1973, als die doppelten Leitplanken im Bereich der Kurve Virade des Six Frères erneut zur Todesfalle wurden; wie schon drei Jahre zuvor beim Unfall von Denis Dayan. Diesmal war der schottische Rennfahrer Gerry Birrell mit seinem Chevron-Ford BDA/Hart betroffen, der im Training bei etwa 250 km/h mit einem Rad auf das Bankett neben der Fahrbahn geriet (nach anderen Berichten hatte er einen Reifenschaden), die Kontrolle über den Wagen verlor und geradeaus in die Leitplanken fuhr. Die Metallschienen bogen sich beim Aufprall nach oben, das Auto rutschte darunter durch und Birrell wurde dabei von der Leitplanke geköpft.
Schon vor dem Rennen hatten sich Fahrer darüber beklagt, dass die zum Teil neu installierten Leitplanken schon per Hand in alle Richtungen um mehrere Zentimeter zu bewegen waren. Nach dem tödlichen Trainingsunfall forderten sie deshalb weitere Sicherheitsmaßnahmen. Die Veranstalter beschränkten sich jedoch darauf, vor der Kurve eine provisorische Schikane aus vier Polystyrol-Quadern zu bauen, die jedoch im Lauf des Rennens mehr und mehr verschoben und zerstört wurden, so dass zum Schluss fast wieder der übliche Streckenverlauf ohne Reduzierung der Geschwindigkeit gefahren werden konnte. Dies führte zu einem weiteren schweren Unfall, den der Schwede Ronnie Peterson aber überlebte. Vor dem Rennen im folgenden Jahr wurde eine permanente Schikane zwischen Kurve 1 und 2 gebaut; die Sektion hieß nun Virage des Roches. Obwohl sonst keine nennenswerten Verbesserungen der Streckensicherheit erfolgten, waren vier Jahre lang keine weiteren Todesfälle zu verzeichnen.
Am 25. Juni 1977 gab es den fünften und letzten tödlichen Unfall auf dieser Strecke. In einem Formel Renault-Rennen im Vorprogramm zum Grand Prix de Rouen-les-Essarts verlor der Franzose François Burdet nach einem Defekt beim Beschleunigen auf dem Bergaufstück nach der Nouveau Monde-Haarnadelkurve die Kontrolle über seinen Monoposto. Wieder funktionierten die Leitplanken nicht wie geplant; der Wagen wurde wie von einer Startrampe nach oben geschleudert und krachte in die Bäume. Burdet wurde in ein Krankenhaus nach Rouen gebracht, erlag dort aber noch am selben Tag seinen schweren Verletzungen.
Der Niedergang
Inzwischen gab es in Frankreich erheblich sicherere Strecken wie den Circuit Paul Ricard oder den Circuit de Dijon-Prenois, die als permanente Kurse voll auf die Bedürfnisse des Motorsports eingerichtet werden konnten. Hier musste keine Rücksicht auf die Bedürfnisse des öffentlichen Straßenverkehrs genommen und nur wenig auf die Belange des Natur- und Landschaftsschutzes geachtet werden. Diese zum Teil abwertend als "Retortenstrecken" bezeichneten Anlagen lösten allmählich die vorherigen Straßenkurse ab, die mit schmalen Fahrbahnen und fehlenden Auslaufzonen für die immer schneller werdenden Rennwagen zunehmend gefährlicher wurden.
1978 war die Formel 2 das letzte Mal in Rouen-les-Essarts, damit endete auch die internationale Bedeutung der Strecke. Ab 1980 gastierte dafür jährlich einmal die französische Formel-3-Meisterschaft, zusammen mit weiteren nationalen Rennserien. Aber auch diese kleineren und schwächeren Rennsportklassen wurden mit den Jahren zu schnell für die Strecke; der veranstaltende Automobilclub der Normandie (ACN) geriet in finanzielle Nöte und konnte weitere Instandhaltungsarbeiten oder gar Ausbauten nicht mehr bezahlen. 1993 fanden die letzten Rennen statt, danach verfielen die Anlagen nach und nach, bis sie im Herbst 1999 fast restlos beseitigt wurden. Noch 1996 hatte der ACN ein Angebot der öffentlichen Hand ausgeschlagen, wenigstens den Zeitnehmerturm als historisches Denkmal erhalten zu können; dem Club fehlten dafür aber die Mittel. So ist bis auf wenige Zäune und Reste des ehemals permanenten Teils der Strecke nichts erhalten geblieben; der nichtpermanente Teil ist jedoch weiterhin als öffentlicher Straßenraum zu befahren.
Die Rekorde
Über den offiziellen Rundenrekord kursieren verschiedene Zahlen, da die Strecke in der Zeit ihres Bestehens mehrfach und zum Teil drastisch verändert wurde. Die schnellste Rennrunde des letzten Layouts mit 5,543 km wurde aber wohl beim Formel-2-Rennen am 26. Juni 1977 von Ingo Hoffmann im Ralt RT1 BMW mit 1:45,05 min gefahren, ein Rundenschnitt von 189,95 km/h. Den Formel-1-Rundenrekord stellte 1964 Jack Brabham mit einem Brabham BT7 auf der 6,542 km langen Streckenvariante mit 2:11,4 min auf, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 179,23 km/h entsprach. Der Rundenrekord für das erste Streckenlayout mit 5,1 km wurde am 6. Juli 1952 von Alberto Ascari im Ferrari mit 2:17,3 min aufgestellt, ein Schnitt von 133,7 km/h. Die besten Qualifikationszeiten waren zum Teil noch mehrere Sekunden kürzer, zählen aber nicht als offizielle Rundenrekorde. Ein Motorrad-Rundenrekord ist nicht überliefert, dürfte aber wohl 1965 vom 250-ccm-Gewinner Phil Read aufgestellt worden sein.
Formel-1-Rennen
(mit × gekennzeichnete Rennen zählten nicht zur 1950 gestarteten Formel-1-WM, von den fünf WM-Rennen waren nur zwei zum Großen Preis von Frankreich)
Saison | Grand Prix | Datum | Sieger | Team |
---|---|---|---|---|
1968 | Großer Preis von Frankreich | 7. Juli | Jacky Ickx | Ferrari |
1964 | Großer Preis von Frankreich | 28. Juni | Dan Gurney | Brabham-Climax |
1962 | Grand Prix de l'Automobile Club de France | 8. Juli | Dan Gurney | Porsche |
1957 | Grand Prix de l'Automobile Club de France | 7. Juli | Juan Manuel Fangio | Maserati |
1954 | ×Großer Preis von Rouen | 11. Juli | Maurice Trintignant | Ferrari |
1953 | ×Großer Preis von Rouen | ??.Juli | Giuseppe Farina | Ferrari |
1952 | Grand Prix de l'Automobile Club de France | 6. Juli | Alberto Ascari | Ferrari |