Cem Özgönül
Cem Özgönül (* 1972) ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist, der 2006 im Kölner Önel-Verlag sein Erstlings-Buch Der Mythos eines Völkermordes. Eine kritische Betrachtung der Lepsiusdokumente sowie der deutschen Rolle in Geschichte und Gegenwart der "armenischen Frage" veröffentlichte, in der er bestimmte historische Quellen für den Völkermord an den Armeniern in Frage stellte.
Leben
Özgönül studierte Mathematik und Soziologie.[1]
Debatte
Özgönül befasst sich in seinem Buch mit den so genannten Lepsiusdokumenten, einer Sammlung von Aktenstücken des deutschen auswärtigen Amts, die nach dem Ersten Weltkrieg von Johannes Lepsius publiziert wurden, und bis heute als wichtige Quellen für den Völkermord an den Armeniern gelten. Özgönül versucht zu beweisen, dass die durch Lepsius selbst vorgenommenen Manipulationen in den nach ihm benannten Lepsiusdokumenten nicht nur zur Kaschierung der deutschen Beteiligung entstanden wären (wie zuvor schon u.a. der Journalist und Historiker Wolfgang Gust erklärt hatte), sondern geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass Lepsius nicht nur zu Gunsten der Deutschen, sondern auch zu Gunsten der Armenier die Dokumente manipuliert hätte.
Auf der großen dreitägigen Konferenz Neue Ansätze in den türkisch-armenischen Beziehungen (2006) in Istanbul[1], auf der - mit Ausnahme von drei Wissenschaftlern, die die Ereignisse als Genozid klassifizieren - ausschließlich Genozidleugner zugegen waren, trat Özgönül als erster türkischstämmiger Historiker auf, der die deutschen Dokumente des Auswärtigen Amtes mit den Versionen, die 1919 von Johannes Lepsius veröffentlicht wurden, verglichen hat.
Boris Kalnoky sprach im März 2006 in der deutschen Tageszeitung Die Welt von einer möglichen "Trendwende in der Debatte über den Genozid an den Armeniern", die Özgönüls Buch herbeiführen könne, wenn es einer kritischen Prüfung standhalte.[2] und nannte es als wohl das beste Werk in deutscher Sprache, das die türkischen Argumente synoptisch zusammenfaßt[3].
Tessa Hoffmann und Wolfgang Gust sprachen sich bereits kurz nach der Konferenz massiv gegen die Thesen Özgönüls aus.
Gust hat sich inzwischen ausführlich mit Özgönüls Buch auseinandergesetzt und kritisiert dessen Kernthesen in der Zeitschrift Armenisch-Deutsche Korrespondenz als wissenschaftlich unhaltbar.[4]. Er führt an, dass die von Özgönül vorgetragene Kritik an den durch Johannes Lepsius bekannt gewordenen Dokumenten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes zum Armenier-Genozid erstens unbegründet und zweitens noch nicht einmal durch eigene Quellenstudien untermauert sei. Özgönül werte Manipulationen in der von Lepsius 1919 herausgegebenen Dokumentensammlung, die seit der Neuedition sämtlicher Originaldokumente durch Wolfgang Gust 2005 sowohl als Buch[5] als auch im Internet[6] für jedermann nachvollziehbar sind, als Beleg für die Fälschung historischer Zeugnisse; er lasse dabei außer Acht, dass die Augenzeugenberichte über die Deportationen und Massaker, auf die sich die deutschen Konsuln im (mit Deutschland kriegsverbündeten) Osmanischen Reich in ihrer internen Korrespondenz mit der deutschen Botschaft in Konstantinopel beziehen, die den wichtigsten Teil der Dokumentensammlung ausmachen, von Lepsius in keiner Weise beeinflusst sein könnten, da dieser nach Kriegsbeginn keine direkte Verbindung mehr zu den Orten des Geschehens gehabt habe. Özgönüls Versuch, Lepsius als Schlüsselfigur der Orientpolitik des Deutschen Kaiserreiches aufzubauen, der während des Völkermordgeschehens Verbindungen ins Innere des Osmanischen Reiches hinein gehabt habe, erscheint in der kritischen Betrachtung von Gust, der Lepsius' Rolle unter bestimmten Aspekten selbst problematisiert hat[7], als abwegig.
Die entscheidende Frage bleibt jedoch, ob es Özgönül, der die bekannten Tatsachen des Völkermordes an den Armeniern formal nicht ableugnet, wirklich um seriöse wissenschaftliche Arbeit geht. Seiner Meinung nach ist dieses Kapitel der osmanischen Geschichte noch zu wenig erforscht, um eine abschließende Beurteilung darüber zu ermöglichen, inwieweit die Bezeichnung der zweifelsohne für die Armenier vernichtenden Geschehnisse als Völkermord historisch haltbar ist. In diesem Zusammenhang versucht Özgönül mit seiner Hinterfragung der Lepsius-Dokumente, Zweifel daran aufzuwerfen, dass das Thema aus historisch-kritischer Sicht tatsächlich bereits eindeutig einzuordnen ist.
Özgönüls Buch ist nicht der einzige neuere Versuch die offizielle Position der Türkei wissenschaftlich zu untermauern; z. T. fördert die Türkei solche Untersuchungen auch finanziell; festzuhalten bleibt, dass es eine Reihe wissenschaftliche Literatur zum Völkermord an den Armeniern gibt, und dass eine Mehrheit der Genozidforscher der westlichen Welt die Geschehnisse als Genozid einordnet; so hat die Association of Genocide Scholars 1997 eine Resolution verabschiedet, in der die bisher bekannten Fakten des armenischen Genozids festgehalten sind. Im Juni 2000 veröffentlichten 126 führende Holocaust-Forscher eine Anzeige in der New York Times, in der es hieß: „126 Holocaust-Forscher bestätigen die unbestreitbare Tatsache des Völkermords an den Armeniern und fordern die westlichen Demokratien auf, ihn offiziell anzuerkennen.“ Zu den Unterzeichnern gehörten Elie Wiesel, Yehuda Bauer, Israel Charny, Stephen Feinstein und Ward Churchill.
Quellen
- ↑ http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/91318/index.html
- ↑ Boris Kalnoky: 1634 türkische Offiziere zum Tode verurteilt In: Die Welt, 20. März 2006
- ↑ Boris Kalnoky: Kunst zwischen vier Fronten. In: Die Welt, 22. März 2006
- ↑ Wolfgang Gust, In: Armenisch-Deutsche Korrespondenz, Jg. 2006, Heft 1 & 2 = Nr. 131/132. PDF-Version
- ↑ Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Verlag zu Klampen, 2005, ISBN 3-934920-59-4
- ↑ http://www.armenocide.de
- ↑ Wolfgang Gust: Magisches Viereck. Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien
Literatur
Quellen, die die eindeutige Qualifikation der Armenier-Massaker als Genozid anzweifeln:
- Lewy, Guenther, Revisiting the Armenian Genocide, in: Middle East Quarterly 2005. [2]
- Lewy, Guenther, The Armenian Massacres in Ottoman Turkey: A Disputed Genocide,University of Utah Press, Salt Lake City 2005.
- Erickson, Edward J., Armenian Massacres: New Records Undercut Old Blame. Reexamining History, in: Middle East Quarterly 2006. [3]
- Jäckel, Eberhard, Genozid oder nicht? Hunderttausende Armenier kamen 1915/16 wohl ohne Absicht um, in: FAZ vom 23. März 2006. [4]
- Dyer, Gwynne, A Question of Genocide, 2005. [5]
- Kalnoky, Boris, Wir haben keinen Genozid begangen, in: Die Welt vom 15. Juli 2005. [6] Interview mit dem Historiker Hikmet Özdemir.
- Kalnoky, Boris, In der Türkei gibt es Riesenfortschritte, in: Die Welt vom 9. Mai 2006. [7] Interview mit dem Historiker Norman Stone.
Einige Quellen, die sich mit der Leugnung des Genozids an den Armeniern auseinandersetzen:
- Akçam, Taner , „Die türkische Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im europäischen Kontext“, in: von Voss, Huberta (Hg.), Porträt einer Hoffnung. Die Armenier, Verlag Hans Schiler, Berlin 2005, ISBN 3899300874).
- Astourian, Stephan H., "Modern Turkish Identity and the Armenian Genocide", in: Hovannisian, Richard G. (Hg.), Remembrance and Denial. The Case of the Armenian Genocide, Detroit 1999.
- Balakian, Peter, The Burning Tigris. The Armenian Genocide and America's Response, Verlag Harper Collins, New York 2003, ISBN 0-06-019840-0)
- Dabag, Mihran und Platt, Kristin (Hg.), Genozid und Moderne (Bd.1), Verlag Leske + Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-1822-8.
- des Pres, Terrence. "On Governing Narratives: The Turkish-Armenian Case," Yale Review, 75, Summer 1986, 517-31.
- Hofmann, Tessa (Hg.), Das Verbrechen des Schweigens. Die Verhandlungen des türkischen Völkermords an den Armeniern vor dem Ständigen Tribunal der Völker, Göttingen und Wien 1984.
- Kieser, Hans-Lukas und Schaller, Domninik W. (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002.
- Smith, Roger W., "Denial of the Armenian genocide", in: Charny, Israel W. (Hg.), Genocide: a critical bibliographic review, Bd. 2, New York 1991.
- Ternon, Yves, Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermords, Frankfurt am Main und Berlin 1988.
Siehe auch
Weblinks
- Vorlage:PND
- http://www.welt.de/data/2006/03/20/862391.html
- http://www.welt.de/data/2006/03/22/863253.html
- http://www.deutsch-armenische-gesellschaft.de/dag/adknnt2.pdf
- http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/486088/
- http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/91318/index.html
Veröffentlichungen von Cem Özgönül
- 1. Özgönül, Cem, Der Mythos eines Völkermordes- eine kritische Betrachtung der Lepsiusdokumente sowie der deutschen Rolle in Geschichte und Gegenwart der armenischen Frage, Önel- Verlag, Köln 2006.
- 2. Özgönül, Cem, Exkurs: Die Wegner-Photographien, in: [8].
- 3. Özgönül, Cem, Der Mythos von den 1,5 Millionen Toten, in: [9].