Contergan-Skandal
Der Contergan-Skandal erschütterte die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1961 und 1962. Es ging um die schädlichen Nebenwirkungen des Beruhigungsmedikaments Contergan, das den Wirkstoff Thalidomid enthält. Das Medikament wurde vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 von der Stolberger Firma Grünenthal hergestellt und vertrieben.
Die Nebenwirkungen des Medikaments
Wenn Contergan innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen wird, führt es bei den Kindern zu schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder sogar dem Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen. Dieser Zusammenhang wurde von dem Hamburger Arzt Widukind Lenz entdeckt. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische, morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase hilft und es in Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher galt, wurde es Ende der 1950er Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen.
Entwickelt hatte das Präparat der deutsche Mediziner Heinrich Mückter. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der polnischen Justiz als NS-Arzt wegen Fleckfieber-Experimenten an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern gesucht.
Der Beginn des Skandals
Die Folgen des Wirkstoffs Thalidomid wurden unabhängig voneinander in Deutschland, Großbritannien und Australien entdeckt. Widukind Lenz machte seine Erkenntnisse auf einem Kongress publik und löste dadurch den Skandal aus. Die Firma Grünenthal reagierte zunächst nicht auf die Warnungen. Obwohl der Stolberger Herstellerfirma 1961 bereits 1.600 Warnungen über beobachtete Fehlbildungen an Neugeborenen vorlagen, wurde Contergan weiterhin vertrieben. Nach dem Zeitungsartikel in der Welt am Sonntag vom 26. November 1961 zog Grünenthal am darauffolgenden Tag Contergan aus dem Handel. Nach eigenen Angaben wurde das Unternehmen am 16. November von Lenz in Kenntnis gesetzt.
Nach Informationen des Bundesverbands Contergangeschädigter kamen insgesamt etwa 5.000 contergangeschädigte Kinder zur Welt. Andere Quellen sprechen von 10.000 Fällen weltweit, von denen 4.000 auf Deutschland entfielen. Von diesen ist die Hälfte bereits verstorben. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Kinder, die während der Schwangerschaft gestorben sind. In der Testphase in den USA wurden mehrere Dutzend Kinder mit Behinderungen geboren, obwohl die Markteinführung dort von der Food and Drug Administration bis nach Entdeckung der Schädlichkeit verzögert und damit vereitelt wurde.
Der Prozess
Das Hauptverfahren wurde am 18. Januar 1968 vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen gegen den Eigentümer Hermann Wirtz, den wissenschaftlichen Direktor Heinrich Mückter, den Geschäftsführer Jacob Chauvistré sowie gegen den kaufmännischen Leiter, den Vertriebsleiter, den Abteilungsleiter und weitere bei Grünenthal beschäftigte wissenschftliche Mitarbeiter, Ärzte und Prokuristen wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung eröffnet. Die Anklage vertrat der Oberstaatsanwalt Josef Havertz. Eine Medienpräsenz in Stolberg wurde weitestgehend vermieden; die Prozesseröffnung fand in Aachen statt, die folgenden Sitzungen im 10 km entfernten Alsdorf. Begründung war, dass in Aachen kein für alle Prozessbeteiligten genügend großer Saal zur Verfügung stand. Sitzungsort war das Casino „Anna” des EBV in Alsdorf-Mitte. 1. Verhandlungstag war der 27. Mai 1968.
Die Anklage wurde von drei Staatsanwälten vertreten. Von den Geschädigten wurden 312 als Nebenkläger zugelassen und durch mehrere Rechtsanwälte vertreten. Den ursprünglich neun, zuletzt nur noch fünf Angeklagten standen zwanzig Verteidiger zur Seite. Die Berufsrichter waren zweifach und die Laienrichter dreifach besetzt. Es wurden insgesamt rund 120 Zeugen gehört.
Am 242. Verhandlungstag stellten die Vertreter der Nebenkläger gegen den beisitzenden Richter und Landgerichtsdirektor Melster einen Befangenheitsantrag, weil er bei einem Gespräch mit einem Verteidiger der Grünenthal-Verantwortlichen gesehen worden war. Er erklärte sich daraufhin selbst für befangen und schied aus dem Verfahren aus.
Am 10. April 1970 schlossen die Eltern der Geschädigten durch ihren Rechtsanwalt Rupert Schreiber mit Grünenthal einen Vergleich und verzichteten auf Schadensersatzansprüche in Milliardenhöhe gegen einen Entschädigungsbetrag von 100 Mio. Deutsche Mark.
Am 283. Verhandlungstag, dem 18. Dezember 1970, wurde das Strafverfahren wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt.
Das Nachspiel
In das juristische Nachspiel hatte sich auch der Henkel-Konzern eingeschaltet. Dabei ging es nicht um Medikamente, sondern darum, zu verhindern, dass in Deutschland ein Hersteller bei schädlichen und fehlerhaften Produkten in Haftung für dadurch entstandene Schäden genommen werden darf. Ein entsprechendes Urteil hätte wahrscheinlich einen Präzedenzfall gebildet.
Das Conterganstiftungsgesetz
Das am 18. Oktober 2005 im Bundesgesetzblatt (BGBL: I S. 2967) verkündete und am 19. Oktober 2005 in Kraft getretene Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen (Conterganstiftungsgesetz - ContStifG) führte zur Änderung des Namens der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ in „Conterganstiftung für behinderte Menschen“. Ferner bezweckt es Abbau von Bürokratie, die Änderung von Verfahrensvorschriften und eine Anpassung des bisherigen Stiftungsgesetzes an die aktuellen Gegebenheiten.
Der Film über den Skandal
Am 28. Juli 2006 stoppte das Hamburger Landgericht den Fernsehfilm des Westdeutschen Rundfunks (WDR) über den Contergan-Skandal, der im Spätherbst als Zweiteiler unter dem Titel Eine einzige Tablette ausgestrahlt werden sollte. Grünenthal und ein im Film erwähnter Anwalt hatten gegen den WDR und die Kölner Produktionsfirma Zeitsprung geklagt. Regie führte Adolf Winkelmann, Hauptdarsteller sind Katharina Wackernagel und Benjamin Sadler.