Auge für Auge
Auge für Auge (hebräisch Ajin tachat ajin) ist Teil eines Rechtssatzes aus dem Sefer ha-Berit (hebr. für Bundesbuch, Ex 22-24). Er verlangt einen verhältnismäßigen Schadensersatz in allen Fällen von Körperverletzung. Er ist Teil der schriftlichen Tora für das Volk Israel.
In der Übersetzung Auge um Auge - oft zusammen mit der Fortsetzung Zahn um Zahn - wird dieses Teilzitat meist als Redewendung für ein generelles Sühne-Prinzip aufgefasst, Gleiches mit Gleichem zu vergelten („wie du mir, so ich dir"; Ius talionis, Talion).
Tora
Die sogenannte Talionsformel ...ein Leben für ein Leben, ein Auge für ein Auge, ein Zahn für einen Zahn... erscheint in der Tora mehrmals in verschiedenen Zusammenhängen.
- 2. Buch Mose 21, 22-26:
- 22 Wenn zwei Männer miteinander raufen und dabei eine schwangere Frau stoßen, so dass ihr die Leibesfrucht abgeht, ohne dass ihr sonst Schaden entsteht, so soll man ihn um Geld strafen, soviel ihm ihr Ehemann auferlegt, und er soll es geben durch die Hand der Richter.
- 23 Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben für Leben, 24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Beule für Beule, Wunde für Wunde.
- 26 Wenn jemand seinen Sklaven oder seine Sklavin ins Auge schlägt und zerstört es, der soll sie freilassen wegen des Auges.
Der Kontext des Gebotes ist die Körperverletzung an Unbeteiligten: Eine Frau verliert infolge einer Prügelei unter Männern ihr ungeborenes Kind, erleidet aber selbst keine bleibende Verletzung. Der Verlust soll mit einer angemessenen Geldbuße ersetzt werden. Deren Höhe darf der geschädigte Ehemann bestimmen, aber ein Richter soll die Zahlung vermitteln. Verlangt wird also ein geordnetes Rechtsverfahren. Ob der Schaden absichtlich, fahrlässig oder versehentlich zugefügt wurde, wird nicht ausdrücklich festgestellt und ist hier, da der unbeteiligt Geschädigte in jedem Fall Anspruch auf Schadensersatz hat, offenbar nicht relevant.
Ein dauernde körperliche Beeinträchtigung, einschließlich des Todes von Unbeteiligten, soll ebenfalls angemessen ersetzt werden: ...so sollst du geben... Dieser Rechtssatz spricht den Schadensverursacher und nicht den Geschädigten an. Er bestätigt ihm gegenüber die rechtmäßige Forderung des Geschädigten auf eine dem Schaden angemessene Ersatzleistung: tachat bedeutet in der Bibel anstatt, anstelle von, stellvertretend, in Haftung für und wird meist für den Austausch von verschiedenen Dingen oder Personen in räumlicher Beziehung verwendet.[1] Die Aufzählung der genauen Entsprechung zu jeder Einzelwunde will auf ein Abmessen der Entschädigung hinweisen: Gefordert wird Augenmaß, Verhältnismäßigkeit.
Die konkreten Beispiele im Kontext der Stelle reden alle von Schadensersatz für Körperverletzung, nicht Körperverstümmelung. In Ex 21,18f heißt es:
- Wenn Männer in Streit geraten und einer den anderen mit einem Stein oder einer Hacke schlägt, so dass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird, wieder aufstehen und ausgehen kann an seinem Stock, so soll der, der ihn schlug, nicht bestraft werden, ihm aber bezahlen, was er versäumt hat, und das Arztgeld geben.
Die Anwendung dieser Regel auf den Fall des dauerhaft verletzten Sklaven (v. 26) bestätigt, dass es hier nicht darum geht, den Geschädigten zur Rache aufzufordern. Sondern der Schadensverursacher soll Verantwortung für die Folgen seiner Handlung übernehmen, indem er den Sklaven, der seinen Dienst nur noch eingeschränkt ausüben könnte, freilässt. Wie eine schwere Körperverletzung mit Todesfolge ersetzt werden kann, bleibt allerdings offen.
Im weiteren Kontext wird zwischen versehentlichem Unfall und fahrlässiger Tötung unterschieden: Ein Mann, der wusste, dass sein stößiges Rind Menschen gefährdet, soll sterben, wenn das Rind jemand zu Tode tritt (v. 29). Fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge kann also nicht ohne weiteres mit einer Geld- oder Sachleistung ersetzt werden, sondern der Täter muss dafür mit seinem eigenen Leben haften.
- 3. Buch Mose 24, 17-22:
- 17 Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben.
- 18 Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll es ersetzen: Leben für Leben.
- 19 Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat:
- 20 Schaden für Schaden, Auge für Auge, Zahn für Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun.
Die Talionsformel ist auch hier zunächst auf den Schadensersatz bezogen: Man soll ein getötetes durch ein lebendes Stück Vieh ersetzen, also Leben geben, nicht nehmen. Bei Körperverletzung aber soll der Täter etwas erleiden, was seiner Tat entspricht: Fraglich ist, ob auch hier eine gleichwertige Ersatzleistung oder aber im Kontrast dazu eine gleichartige Körperverletzung gemeint ist. Die Lutherübersetzung legt Letzteres nahe; doch der Urtext kann auch passivisch übersetzt werden und überlässt die Ausführung dann Gott:[2]
- Und so jemand seinem Nächsten eine Verletzung beibringt - so wie er getan, so geschehe es ihm.
Menschenleben ist auf jeden Fall unersetzbar. Mord und Totschlag können daher nicht mit einer Bußleistung ausgeglichen werden. Dafür sieht die Tora die Todesstrafe vor:
- 21 Wer ein Stück Vieh erschlägt, der soll es erstatten; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben.
v. 22 macht dieses Gebot ausdrücklich für alle, auch die Fremden geltend.
- 5. Buch Mose 19, 16-21:
- 16 Tritt ein frevelhafter Zeuge gegen jemand auf, um ihn eines Vergehens zu beschuldigen,
- 17 so sollen beide Männer in dieser Streitsache vor JHWH treten, vor die Priester und Richter zu jener Zeit,
- 18 und die Richter sollen gründlich nachforschen. Und wenn der falsche Zeuge ein falsches Zeugnis gegen seinen Bruder gegeben hat,
- 19 so sollt ihr mit ihm tun, wie er gedachte, seinem Bruder zu tun, damit du das Böse aus deiner Mitte wegtust,
- 20 auf dass die anderen aufhorchen, sich fürchten und hinfort nicht mehr solche bösen Dinge tun in deiner Mitte.
- 21 Dein Auge soll ihn nicht schonen: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.
Eine vom Gericht festgestellte falsche Anklage sowie Meineid sollen also nach dem Rechtsprinzip des Schadensersatzes behandelt werden: Was der Kläger dem Angeklagten zufügen wollte, soll ihm abverlangt werden. Angesprochen ist hier das Gericht, welches das Recht wahren und Zeugen von vorsätzlicher Verleumdung abschrecken soll. Kontext ist der Rechtsschutz für versehentlichen und zu Unrecht verfolgten Totschlag durch Asylorte (v.4-7) und die Regel, dass Todesurteile nur bei mindestens zwei unabhängigen Augenzeugen der Tat rechtsgültig sind (v. 15). Umso schwerer wiegt für die Tora der Versuch, diesen Schutz mit falschen Beschuldigungen zu zerstören.
Der Tanach überliefert keine Beispiele für Körperverletzung, die mit dem Talionsgebot begründet wurden, und auch keine Gerichtsurteile, die solche Körperstrafen erlaubten.
Neues Testament
Die Bergpredigt (Mt 5-7) nimmt in den sogenannten Antithesen des Jesus von Nazaret - ursprünglich verstreuten, situationsbezogenen mündlichen Auslegungen der Zehn Gebote und anderer wichtiger Toragebote - auch auf die Talionsformel Bezug (Mt 5,38f EU):
- Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge, Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen nicht, sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin.
Das hebräische tachat wird hier nach der Septuaginta mit dem griechischen Partikel anti übersetzt, das eine ähnliche Bedeutungsbreite besitzt. Jedoch spricht Jesus hier nicht den Täter auf seine Schadensersatzpflicht, sondern die Gewaltopfer an. Er bezieht die Formel nicht nur auf individuelle Körperverletzung, sondern auf die damalige Lage des ganzen jüdischen, von Gewalt und Ausbeutung betroffenen Volkes (Mt 5,1-11). Diese charakterisiert er als das Böse, dem nicht mit Gegengewalt zu widerstehen (anti-stänai), sondern mit Feindesliebe zu begegnen sei.
Die rechtlosen Armen konnten ihre Ansprüche damals nicht vor Gerichten geltend machen, da Israel unter römischem Besatzungsrecht stand. Not und Fremdherrschaft wurden in prophetischer Tradition immer als Folge von kollektiver Missachtung des Willens Gottes verstanden. Demgemäß löste Jesus den Rechtsgrundsatz „Auge für Auge“ von der Schadensregelung und bezog ihn auf Israels Gesamtschaden, die Herrschaft des Bösen: Da Gottes Reich nahe ist, sollen Juden auf Ersatzforderungen verzichten und feindlichen Gewalttätern mit Wohltaten begegnen, um sie zu „entfeinden".[3]
Wie alle Torapredigten Jesu stellt auch diese nicht die Geltung des Gebots in Frage, sondern versucht, seinen ursprünglichen Richtungssinn in konkreter Situation zu bewahren: Unbegrenzte Gegengewalt, die die Talionsformel abwehren will, kann jetzt nur durch Verzicht auf Schadensersatz vermieden werden. Das naheliegende, aber tödliche Reaktionsmuster, das Wiedergutmachung nach den eigenen Maßstäben fordert und eigenmächtig durchsetzt, soll durch ein auf Konfliktlösung und Rechtsfrieden mit dem Streitgegner ausgerichtetes Verhalten abgelöst werden.[4]
Paulus von Tarsus bestätigt im Römerbrief die Übereinstimmung der Lehre Jesu mit der Tora, indem er auf dessen Gebot der Feindesliebe anspielt und es mit dem biblischen Racheverbot (Dtn 32,35) begründet (Röm 12,17-21):
- Vergeltet niemand Böses mit Bösem...sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Koran
Der Koran zitiert die biblische Talionsformel in Sure 5,45. Sie wendet sich an die Leute des Buches (Juden und Christen), um sie an die wahre, durch sie verfälschte Offenbarung Gottes zu erinnern:
- Und wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn;
- und auch für die Verwundungen gilt die Wiedervergeltung.
- Wer aber dies als Almosen erlässt, dem ist es eine Sühne.
- Diejenigen, die nicht nach dem urteilen, was Gott herabgesandt hat, das sind die, die Unrecht tun.
Der Hinweis auf das Almosengeben als möglichen Ersatz für Wiedervergeltung legt nahe, dass es auch hier um Schadensersatz, nicht Körperverstümmelung geht: Der Geschädigte kann auf diesen Anspruch verzichten und damit Sühne für eigene Sünden erwirken. Wer diese von Gott offenbarte Möglichkeit der Gnade nicht berücksichtigt, begeht für den Koran Unrecht.
In Sure 17,33 wird das Recht zur Wiedervergeltung - anders als in der Tora - auch auf Mord angewandt:
- Tötet nicht den Menschen, den Gott für unantastbar erklärt hat, es sei denn bei vorliegender Berechtigung.
- Wird jemand ungerechterweise getötet, so geben wir seinem nächsten Verwandten Vollmacht (ihn zu rächen).
- Nur soll er nicht maßlos im Töten sein; er wird Beistand finden.
Die genaue, jeden Einzelschaden aufführende Ersatzhandlung ist hier zu einer allgemeinen Regel des Maßhaltens beim Rächen von Mord geworden. Wo nach der Tora die Schadensregulierung durch einen Richter vorgenommen werden sollte, wird hier den Angehörigen das Recht zur Rache und Gottes Rechtsbeistand bei deren Vollzug zugesprochen.
Rabbinische Auslegungen
Die Talionsformel wurde im Judentum früh diskutiert. Flavius Josephus berichtet davon, dass Sadduzäer eher die strenge wörtliche Geltung, Pharisäer eher die Wiedergutmachung des Schadens vertraten. Bereits Hillel lehrte letztere; seine Haltung setzte sich gegen die Schule Schammais durch. Demzufolge wurde das Gebot in rabbinischer Tradition nie als strikte wörtliche Wiedervergeltung, sondern immer als angemessene Schadensersatzregelung verstanden und gelehrt. Es regte schon vor der Zeitenwende eine intensive Rechtspraxis an, die für alle Fälle der Körperverletzung, auch jene mit Todesfolge - ausgenommen ist nur der Mord -, genau abgestufte finanzielle Entschädigungen (hebr. taschlumim: „dem Frieden dienend") vorsah. Leitendes Prinzip war dabei die Wiederherstellung des Rechtsfriedens zwischen Schädiger und Geschädigtem zwecks Konfliktbeseitigung und Eindämmung.
Die Mischna behandelt dem detaillierten Talionsgebot gemäß im Traktat Bawa Qama fünf Gebiete, auf denen Ersatz zu leisten ist: Schadenersatz (neseq), Schmerzensgeld (zaar), Heilungskosten (rifui), Arbeitsausfallersatz (schewet) und Beschämungsgeld (boschet).
Gleichwohl blieb die Auslegung von Ex 21,22-25 umstritten. Entscheidender Streitpunkt war, ob „Leben für Leben" in v.23 ebenso wie für die folgenden Fälle von Körperverletzung eine Ersatzleistung oder aber - wie in Lev 24,17 - die Todesstrafe fordere, weil menschliches Leben nun einmal unersetzbar sei. Der Traktat Ketubboth (35a) im babylonischen Talmud erörterte dazu den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Straffolgen für die Tötung eines Tieres oder eines Menschen. Während erstere in jedem Fall zur Geldersatzzahlung verpflichte, gleichgültig, ob das Tier absichtlich oder unabsichtlich, vorsätzlich oder versehentlich getötet wurde, setze letztere diese Pflicht auf jeden Fall außer Kraft.
Samuel Rafael Hirsch (1808-1888), einer der führenden Rabbiner des neoorthodoxen Judentums im deutschen Kaiserreich, verstand den Dauerschaden in Ex 21,23 daher im Gegensatz zu v. 22 („erfolgt aber kein Todesfall") als Unfall mit Todesfolge:
- Wenn aber ein Todesfall eintritt, so hast du zu geben Leben für Leben.
In solchen Fällen sei keine Geldersatzleistung möglich; Leben sei in jedem Fall unersetzbar. Der deutsche Rabbiner und Bibelwissenschaftler Benno Jacob (1862–1945) dagegen vertrat, dass überall, wo der Begriff tachat erscheine, eine Geldersatzpflicht in Kraft trete; er übersetzte denselben Vers:
- Wenn aber ein Unfall geschieht, so sollst du geben Lebens-Ersatz für Leben.
Dabei berücksichtigte auch er, dass ein Menschenleben für die Tora das höchste aller schützenswerten Güter und nie mit Geld aufzuwiegen sei. Aber er interpretierte den Kindsverlust der schwangeren Frau als Beispiel eines unabsichtlichen tragischen Unfalls (asson v.22), nicht als versehentlichen Totschlag oder sogar Mord. Daher komme auch hier das Recht der Geschädigten auf eine Geldzahlung zum Zuge. Dieses müssten sie zwar nicht in Anspruch nehmen, aber die Richter müssten dem Mann der Geschädigten auf jeden Fall eine Entschädigung zusprechen: So sollst Du geben beziehe sich auf den Richter im vorangehenden Vers.[5]
Die Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig folgte dieser Exegese und gab das Talionsgebot wie folgt wieder:
- Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebensersatz für Leben, Augersatz für Auge, ... Striemenersatz für Strieme.
Historisch-kritische Auslegungen
Heutige Exegese ordnet die Talionsformel zum einen in die innerbiblische, zum anderen die altorientalische Rechtsgeschichte ein. Hauptstreitpunkte sind ihre Herkunft, der Zeitraum ihrer Aufnahme in die Tora, das Verhältnis zwischen Rechtsnorm und praktischer Anwendung und ihre theologische Bedeutung.
Meist wird die Formel innerbiblisch als Begrenzung der Blutrache verstanden: Dieses archaische Sippenrecht billigte den Angehörigen eines Getöteten oder Verletzten eigenmächtige Vergeltung zu. Diese artete oft in eine generationenlange Gewaltspirale und gegenseitige Ausrottungsversuche aus, wie es Gen 4,24 erahnen lässt:
- Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.
Statt für erlittenes Unrecht selbst willkürlich und unbegrenzt Rache zu nehmen, darf der Geschädigte oder seine Angehörigen nur noch ein Leben für ein Leben, ein Auge für ein Auge, einen Zahn für einen Zahn verlangen: Zudem wird diese Forderung in eine Ersatzleistung umgewandelt. Dies sollte nach Auffassung des Alttestamentlers Hans Jürgen Boecker ein verbreitetes krasses Ungleichgewicht von Vergehen und Strafe eindämmen.
Auch Eckart Otto verstand die Formel als archaische, reale Körperstrafe, die die Blutrache ablösen sollte. Sie sei später - seit Errichtung einer Monarchie in Israel ab 1000 v. Chr. - ihrerseits von einer Konfliktregelung abgelöst worden und zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in den Pentateuch - um 400 v. Chr. - schon nicht mehr praktiziert worden. Sie werde nur noch als Relikt zitiert, aber mit den konkreten Beispielen für Ersatzleistungen in ihrem Kontext widerrufen.
Eine genaueren Vergleich mit altorientalischem Recht ermöglichte der Fund des Codex Hammurapi (1905), der auf etwa 1700 v. Chr. datiert wird. Darin findet sich eine Reihung, die genaue Einzelfälle und Strafleistungen nach dem Talionsprinzip definiert, etwa:
- Gesetzt, ein Mann hat das Auge eines Freigeborenen zerstört, so wird man sein Auge zerstören...
- Gesetzt, ein Mann hat einem anderen ihm gleichstellenden Manne einen Zahn ausgeschlagen, so wird man ihm einen Zahn ausschlagen...
- Gesetzt, er hat ein Auge eines Hörigen zerstört oder den Knochen eines Hörigen gebrochen, so zahlt er eine Mine Silber.
Hier spiegelt sich eine hierarchische Klassengesellschaft, die bei Sklaven andere Maßstäbe anlegte als bei Besitzenden: Wer Abhängige verletzte, konnte sich mit Ersatzleistungen freikaufen, wer aber einen freien Vollbürger verletzte, sollte mit der gleichen Verletzung bestraft werden. Jedoch wird auch hier erwogen, dass Vergeltung eventuell nicht wörtlich gemeint war, sondern auch bei den Besitzenden nur die angemessene Ersatzleistung fordern sollte.[6] Dies stellt die These einer primitiven, nomadischem Sippenrecht zuzuordnenden Phase des Talionsrechts in Frage.
Frank Crüsemann verstand die biblische Talionsformel vor diesem Hintergrund als einen späten Einschub in älteres Schadensersatzrecht. Bei Körperverletzung mit Todesfolge werde die Ersatzleistung ausgeschlossen: Dies ziele auf einen Rechtsschutz der Schwachen, um die es in Kapitel 21 gehe. Die Talionsformel mache anders als in den Beispielen ihres Kontextes gerade keinen Unterschied zwischen Sklaven und Freien, sie gelte in der Bibel für alle Menschen. Sie verwehre dem Sklavenhalter, sich freizukaufen, und fordere stattdessen die Freilassung eines durch ihn verletzten Sklaven, bei dessen Tod sogar die Haftung des Verursachers mit seinem Leben.
Andere Vergleiche unterstützen die rabbinische Auslegungstradition, wonach die Formel ausschließlich auf Schadensersatzregelung für Körperverletzungen zu beziehen sei. So findet man im Kodex Eschnunna von etwa 1920 v. Chr. bereits genau abgestufte Geldmengenangaben:
- Wenn ein Mann die Nase eines Mannes abbeißt und abtrennt, zahlt er eine Mine Silber. Für ein Auge zahlt er eine Mine, für einen Zahn eine halbe Mine, für ein Ohr eine halbe Mine, für einen Schlag auf die Wange 10 Schekel Silber...
Von hier aus fassten Hans-Winfried Jüngling und Ludger Schwienhorst-Schönberger die Reihung du sollst geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Beule für Beule, Wunde für Wunde als „Tariftabelle" auf, die nur die dem Schaden verhältnismäßige finanzielle Abstufung der Sanktion fordere (du sollst geben...).[7]
Wirkungsgeschichte in Europa
Als Ablösung der Blutrache durch das individuelle Verursacherprinzip, die Verhältnismäßigkeit und die Schadensregulierung durch ein dazu beauftragtes Gericht ist die Talionsformel eine Wurzel heutiger Rechtsstaatlichkeit. Ähnliche Tendenzen zeigten sich zeitgleich zur Verschriftung der Tora auch in der übrigen Antike: So unterschied der Gesetzesreformer Drakon in Athen 621 v. Chr. ebenfalls vorsätzliche und unbeabsichtigte Tötung, und verwies die Prüfung an besondere Gerichtshöfe. Auch die römische und germanische Rechtstradition kannten die Ablösbarkeit der Bestrafung des Täters durch Wiedergutmachung.
Bis in das Hochmittelalter hinein war das Strafrecht bei Körperverletzung überwiegend auf private Bußleistungen ausgerichtet: Ein Verletzter oder seine Angehörigen konnten ein gesetzliches Sühnegeld vom Täter verlangen. Im 13. Jahrhundert kam es jedoch zu zwei miteinander gekoppelten Entwicklungen:
- Straf- und Zivilrecht trennten sich: Das private Bußenstrafrecht wurde mehr und mehr von der behördlichen „peinlichen Strafe" an Leib und Leben abgelöst.
- Diese war Teil der Blutgerichtsbarkeit, die nun Sache der jeweiligen Landesherren wurde und damit seine Einheitlichkeit verlor.
Der Sachsenspiegel von 1221 ließ die Ablösung der Körperverstümmelung durch eine Bußleistung noch zu, obwohl er erstere bereits zur Regel machte. In der Folgezeit nahmen die Körper- und Todesstrafen immer mehr zu. Sie wurden auch mit dem biblischen Talionsgebot gerechtfertigt. Gründe dafür lagen in Kleinstaaterei und Feudalismus: Die Landesherren reagierten auf ökonomisches Elend, Geldentwertung und Zunahme des Räuberwesens mit immer mehr und härteren Strafkatalogen.[8]
Martin Luther übersetzte den Satz mit „Auge um Auge" und bezog ihn auf das richtende, den Sünder strafende „Gesetz", dem er das „Evangelium" der unbedingten Gnade Gottes gegenüberstellte: Im öffentlichen Bereich sollte die von Gott verordnete Obrigkeit strenge Vergeltung an Straftätern und Rebellen üben, nur im kirchlichen und privaten Bereich hätten Vergebung, Gnade und Feindesliebe Raum (siehe Zwei-Reiche-Lehre). Diese Trennung begünstigte das Missverständnis, es handele sich bei dem Talionsgebot um eine Logik der Vergeltung, die Jesus durch eine nur für die Gläubigen und im jenseitigen Gottesreich gültige Logik der Vergebung habe ablösen wollen.
In der Neuzeit galt das Talionsgebot meist als Ausdruck eines primitiven, auf die nationale Selbstbehauptung Israels begrenzten Rachegeistes und Rachegottes, dem Jesus das Bild des liebenden Gottes und eine ganz neue Ethik der allgemeinen Menschenliebe gegenübergestellt habe. Damit wurde es zum Inbegriff des Unterschieds zwischen Altem und Neuem Testament, Judentum und Christentum stilisiert. Dieses Vorurteil des Antijudaismus wirkt bis heute nach.
Erbarmungslose Wiedervergeltung wurde im Nationalsozialismus zum einen als jüdisches Wesen, zum andern als notwendige Selbstbehauptung im „Rassenkampf" propagiert.
Mahatma Gandhi machte auf die unweigerlichen Folgen jeder gewaltsamen Vergeltung aufmerksam. Ihm wird das Zitat zugeschrieben: Auge um Auge - und die ganze Welt wird blind sein.[9]
Ausgehend von der Erkenntnis, dass reziproke Vergeltung keinen Rechtsfrieden herstellen kann und die Leitidee des biblischen Bundesrechts die Bewahrung der Gemeinschaft ist, hat das Talionsgebot als grundlegendes Rechtsprinzip Eingang in das moderne Privatrecht gefunden. Es gehört zum Ursprung des Paragraphen 249 BGB, in dem es heißt (Absatz 1 und 2)
- Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen.
Damit wird die Formel gemäß ihrem biblischen Eigensinn als haftungsrechtlicher Grundsatz aufgefasst, der nicht die Vergeltung der Tat am Täter, sondern die Wiedergutmachung am Geschädigten in den Vordergrund rückt.
Sonstiges
Im 1879 verfassten Roman Eye for an Eye des viktorianischen Schriftstellers Anthoy Trollope verführt eine junge Mann von Adel ein bürgerliches Mädchen und läßt dieses sitzen, als es schwanger wird.
Vom britischen Thrillerautor Jack Higgins stammt der 2001 erschienene Roman Auge um Auge (engl. Edge of Danger).
Im Spielfilm Auge um Auge (Eye For An Eye) von John Schlesinger aus dem Jahr 1995 wird das Thema Selbstjustiz anhand der Reaktion eines Elternpaares auf die Vergewaltigung und Ermordung ihrer Tochter und den Freispruch des mutmaßlichen Täters aus Mangel an Beweisen thematisiert.
Referenzen
- ↑ David Bollag, Rabbiner: Antijüdisches Klischee (2. März 2002)
- ↑ zitiert nach Leibowitz, Auge um Auge
- ↑ Pinchas Lapide, Entfeindung leben?, Gütersloher Verlagshaus 1993, ISBN 3579022059
- ↑ Friedhelm Wessel: Auge um Auge - Eine biblische Klärung
- ↑ Brigitte Gensch: „Auge für Auge“, nicht „Auge um Auge“
- ↑ Der Codex Hammurapi: Auge um Auge, Zahn um Zahn - Frühzeitlicher Gerechtigkeitssinn
- ↑ zitiert nach Prof. Dr. Manfred Oeming: "Auge um Auge, Zahn um Zahn"
- ↑ Rechtsgeschichte des Mittelalters
- ↑ Zitate-Datenbank Itzehoe
Siehe auch
Literatur
- Ludger Schwienhorst-Schonberger: Das Bundesbuch (Ex 20,22-23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie. ISBN 3110124041
- Susanne Schmid-Grether: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Texte aus der Bergpredigt auf dem jüdischen Hintergrund unter die Lupe genommen. JCFV - Schoresch 2002, ISBN 3952162264
- Susanne Krahe: Aug' um Auge, Zahn um Zahn? Beispiele biblischer Streitkultur. Echter, 2005, ISBN 3429026695
- William Ian Miller, Eye for an Eye, Cambridge University Press, 2005, ISBN 0521856809
- Joseph Norden, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Wuppertal (Hrsg.): "Auge um Auge - Zahn um Zahn": Eine vielumstrittene Bibelstelle. Trägerverein Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V., 2003, ISBN 3980711846
Weblinks
Jüdische und christliche Exegese
- Nechama Leibowitz: Auge um Auge
- Göran Larsson: "Auge für Auge" - Das Schadensgesetz
- Marcus Cohn: Jüdisches Strafrecht (Artikel im Jüdischen Lexikon von 1930)
- Prof. Dr. Dieter Vetter, Bochum: "Auge um Auge, Zahn um Zahn": Der Missbrauch mit einem Bibelwort
- Prof. Dr. Susanne Zeller: Missverstandenes Judentum: Auge um Auge, Zahn um Zahn (Vortragsankündigung, Erfurt, 14. Januar 2003)
- Manfred Schäfer: Gewaltverzicht und Entfeindung
Aktualität
- Zeit.de: Das Prinzip Auge um Auge (18. April 2006)
- Burkhard Schröder, Heise online: Auge um Auge - 2000 Jahre christlicher Antijudaismus (14. Juli 2002)
- Ulrich Sahm: Auge um Auge - Zahn um Zahn
- Prof. Dr. Hanspeter Heinz: Auge um Auge, Zahn um Zahn (Augsburg, 3. Oktober 2001)
- Christian Semler, Taz: Auge um Auge - politische Instrumentalisierung eines Bibelworts (2. März 2002)