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Stockholm-Syndrom

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Unter dem Stockholm-Syndrom versteht die Wissenschaft ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass Opfer mit den Tätern Mitleid empfinden. Es kann sogar darin münden, dass Täter und Opfer sich ineinander verlieben oder kooperieren.

Fälschlicherweise wird das Stockholm-Syndrom manchmal auch als Helsinki-Syndrom bezeichnet.

Ursprung

Der Begriff des Stockholm-Syndroms, das kein Syndrom im eigentlichen Sinne darstellt, ist auf die Ereignisse vom 23. bis 27. August 1973 in Schweden zurückzuführen. Damals wurde Kreditbanken, eine Bank am Norrmalmstorg, im Zentrum der schwedischen Hauptstadt Stockholm, überfallen. Vier der Angestellten wurden als Geiseln genommen. Es folgten mehr als fünf Tage, in denen die Medien erstmals auch die Angst der Geiseln bei einer Geiselnahme illustrierten. Dabei zeigte sich, dass die Geiseln eine größere Angst gegenüber der Polizei als gegenüber den Geiselnehmern entwickelten.

Trotz ihrer Angst empfanden die Geiseln auch nach Beendigung der Geiselnahme keinen Hass gegenüber den Geiselnehmern. Sie waren ihnen sogar dafür dankbar, freigelassen worden zu sein. Zudem baten die Geiseln um Gnade für die Täter und besuchten diese im Gefängnis.

Es bestehen erkennbare Parallelen des Stockholm-Syndroms zum Parental Alienation Syndrome (PAS). Hierbei handelt es sich um ein Phänomen bei dem Verlust eines Elternteils, nachdem sich die Eltern getrennt haben. Kinder, die von dem entfremdenden Elternteil vollständig in Besitz genommen und instrumentalisiert werden, können diesen gleichartig heroisieren, während der ausgegrenzte Elternteil zunehmend abgelehnt wird.

Ursachen

Das Stockholm-Syndrom mag auf den ersten Blick kurios erscheinen. Doch die Literatur nennt zahlreiche mögliche Ursachen für ein solches Verhalten:

  • In erster Linie manifestiert sich die Wahrnehmungsverzerrung, die zum Stockholm-Syndrom führt darin, dass die subjektive Wahrnehmung der Geisel nur einen Teil der Gesamtsituation erfassen kann. Das Opfer erlebt eine Zurückhaltung der Einsatzkräfte vor Ort, es fühlt sich mit zunehmender Dauer der Entführung allein gelassen. Dagegen wird das Agieren der Geiselnehmer überproportional wahrgenommen, schon kleinste Zugeständnisse (das Anbieten von Nahrung, auf die Toilette gehen lassen oder Lockern von Fesselungen) werden als große Erleichterungen empfunden. Das Opfer erlebt eine Situation, in der es ausschließlich „Gutes“ von den Geiselnehmern erfährt. Es kommt zu dem für Außenstehende objektiv nicht nachvollziehbaren Folge, dass ein Opfer mehr Sympathie für seine Peiniger empfindet als für die (rettenden) Einsatzkräfte.
  • Täter werden sich Opfern gegenüber oftmals wohlwollend verhalten, weil sie die Opfer als Vermögenswerte ansehen, oder um eine Eskalation der Situation zu vermeiden. Hieraus kann eine emotionale Bindung und Dankbarkeit von Opfern gegenüber Tätern entstehen.
  • Der maximale Kontrollverlust bei einer Geiselnahme ist nur schwer verkraftbar. Erträglicher wird dies, wenn sich das Opfer einredet, es sei zum Teil auch sein Wille, beispielsweise, da es sich mit den Motiven der Entführer identifiziert.

Parallelen

Grundsätzlich neigen Menschen dazu, in Zwangs- oder Abhängigkeitssituationen auch moralisch bzw. ethisch bedenkliche Handlungsweisen von Autoritäten zu relativieren und eine Schutzhaltung für sich zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für Familien, in denen auch gewalttägiges Verhalten von den eigenen Angehörigen oft toleriert oder im Nachhinein abgestritten wird um sich selbst nicht weiter in Gefahr zu bringen oder den eigenen Selbstwert nicht zu verlieren bzw. für abhängig beschäftige Mitarbeiter, die (scheinbare) Sympathie für Vorgesetzte entwickeln, obwohl diese z.B. psychische Gewalt gegen sie selbst oder Kollegen der eigenen Gruppe/Abteilung anwenden.

Die emotionale Nähe zum jeweils stärksten Mitglied einer, auch kleinen sozailen Gemeinschaft hängt eng mit dem Überlebenstrieb des Menschen zusammen und wird häufig auch nach dem Ende einer solchen Beziehung unbewusst verdrängt. Der so entstehende Selbstschutz erhält i.d.R. die affektive Selbststeuerungsfähigkeit des Betroffenen und sorgt dadurch für eine akute Überlebenschance im Alltag.

Bekannte Fälle

Die Opfer von Geiselnahmen zeigen nicht immer alle das für das Stockholm-Syndrom übliche Verhaltensmuster. Dennoch lassen sich meist einzelne Symptome erkennen, die vom Stockholm-Syndrom bekannt sind. Populäre Fälle, bei denen das Stockholm-Syndrom in den vergangenen Jahren vermutet wurde, sind:

  • 2006Natascha Kampusch, die acht Jahre von einem Entführer festgehalten wurde. Es wird vermutet, dass sie Züge des Stockholm-Syndroms aufweist.

Das Stockholm-Syndrom in Film und Musik

Das Motiv des Stockholm-Syndroms ist Teil diverser Filme sowie der Titel von Musikstücken der Bands Backyard Babies, blink-182, Muse und Yo La Tengo.

Im Film Stirb langsam referiert ein Experte in einer Fernsehsendung über das Stockholm-Syndrom, während die Besetzer des Nakatomi-Tower gerade eine Leiche an den Geiseln vorbei tragen (im Film wird es als "Helsinki-Syndrom" bezeichnet).

In Lebe lieber ungewöhnlich entführt der gerade gefeuerte Robert Lewis die Tochter seines Chefs, die ihm später mehr und mehr bei der Durchsetzung seiner Forderungen hilft.

Eine der bekanntesten, wenn nicht die bekannteste Filmheldin, die dem Stockholm-Syndrom begegnet, ist Elektra King (dargestellt von der französischen Schauspielerin Sophie Marceau) in dem James Bond-Film "Die Welt ist nicht genug".

Im Film Saw II kann dieses Sympton ebenfalls entdeckt werden. Gegen Ende des Filmes offenbart ein früheres Opfer des Bösewichts, dass sie mit diesem nun unter einer Decke steckt. Als jemand ihm etwas antun will, schützt sie ihn und sagt, er sei ihr Mentor geworden.

Im weitesten Sinne auch Die unglaubliche Entführung der verrückten Mrs. Stone, in dem das "Opfer" (gespielt von Bette Midler) sich mit den Kidnappern zusammentut um ihrem Ehemann (Danny DeVito) eins auszuwischen.

"Way of the Gun" mit Juliette Lewis, Benicio del Toro, Ryan Phillippe und James Caan. Lewis, die gewaltsam entführt wurde, um ein Lösegeld zu erpressen, solidarisiert sich -- wenigstens teilweise -- mit ihren Entführern. Quelle: DVD, auf highlight dvd no.65833 erschienen

Ein weiteres Auftreten des Stockholm-Syndroms ist in dem US-amerikanischen Spielfilm "The Chase" zu erkennen. Das Opfer sympathisiert nach einiger Zeit mit dem Geiselnehmer (gespielt von Charlie Sheen) und verliebt sich sogar in ihn. Bei diesem Beispiel geht es so weit, dass das Opfer dem Geiselnehmer in seinem Vorhaben unterstützt und im Endeffekt das Opfer mit dem Geiselnehmer "durchbrennt".

In dem Film "Perfect World" (1993, Regie: Clint Eastwood) spielt Kevin Costner den Gewohnheitsverbrecher Butch Haynes, dem im Jahr 1963 der Ausbruch aus dem Gefängnis gelingt, und der sich mit dem achtjährigen Phillip als Geisel auf die Flucht nach Mexiko macht. Der Film zeigt, wie der entführte Phillip immer mehr bewundernd zu Butch aufblickt und sich mit ihm solidarisiert. So sehr, dass er am Ende des Film, als die beiden von der Polizei gestellt werden und Phillips Mutter ihn wieder in die Arme schließen will, in Gewissensnöte kommt... (Quelle: www.moviemaster.de/archiv/film/film_1702.htm)

Im Film Knockin' On Heaven's Door vermuten die Kommissare ebenfalls einen Fall von "Helsinki-Syndrom" zwischen Rudi Wurlitzer und Martin Brest (gespielt von Jan Josef Liefers und Til Schweiger). Hier ist die Entführung aber nur vorgetäuscht.

In dem Teeniefilm "Ärger im Gepäck" täuscht die Rolle von Alicia Silverstone zunächst eine Entführung vor, wird dann jedoch tatsächlich entführt und verliebt sich in ihren Kidnapper. Sie werden ein Paar. Hier wird das Thema eher komödiantisch abgehandelt.

Das Lied "Stockholm Syndrome" ist eines der am erfolgreichsten verkauften Lieder der englischen Rock-Band Muse

Literatur

  • Robert Harnischmacher und Josef Müther: Das Stockholm-Syndrom: zur psychischen Reaktion von Geiseln und Geiselnehmern. In: Archiv für Kriminologie 180 (1987), 1-2, Seiten 1 - 12
  • Rolf Köthke: Das Stockholm-Syndrom: eine besondere Betrachtung des Verhältnisses von Geiselnehmer und Geisel. In: Praxis der Rechtspsychologie 9 (1999), 1, Seiten 78 - 85
  • Arnold Wieczorek: Das so genannte Stockholm-Syndrom: zur Psychologie eines polizeilich vielbeachteten Phänomens. In: Kriminalistik 57 (2003), 7, Seiten 429 - 436
  • Kathy Reichs "Totenmontag" - Thriller