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Wilkomirski-Syndrom

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Als Wilkomirski-Syndrom bezeichnet man in Fachkreisen das Phänomen, dass Personen ohne jüdische Identität sich als Juden ausgeben (sogenannte Pseudo-Juden), z. B. um ihren gesellschaftlichen Status aufzuwerten. Benannt ist das Syndrom nach Binjamin Wilkomirski, dessen 1995 erschienene und vielbeachtete angebliche KZ-Autobiografie „Bruchstücke“ sich später als Schwindel herausstellte.

Ursachen

Viele Betroffene des Wilkomirski-Syndroms haben schwere Kindheits-Defizite. Die Rolle des Juden wählen sie sich aus, weil deren Opferstatus in westlichen Gesellschaften Anerkennung und Wertschätzung erfährt. Mit einem jüdischen Lebenslauf, vor allem persönlichem Betroffensein vom Holocaust, können sie etwas Exotisches werden und in bestimmten Kreisen Eindruck schinden, etwa bei Medienmachern, Bildungsbürgern oder Philosemiten. Deutsche Nichtjuden etwa freuen sich laut dem Berliner Rabbiner Walter Rothschild, wenn sie einen „echten“ Juden treffen, den sie irgendwie um Verzeihung bitten können. Auf diese Weise würden Betrüger, die angeblich jüdische Wurzeln haben, aufgewertet und erhielten eine gewisse Narrenfreiheit („ich bin Jude, ich darf das“).

Pseudojuden können oft jahrelang öffentlich wirken, ohne dass Verdacht geschöpft wird. Hans Stoffels, ehemaliger Leiter der Psychiatrie der Berliner Schlosspark-Klinik, führt das auf Gutgläubigkeit infolge der deutschen Schuldgefühle zurück. Die Hinterfragung jüdischer Opfergeschichten berge das Risiko, tatsächlich Betroffene (false positives) zu verletzen und erneut zu traumatisieren, und werde daher vermieden. Kritische Nachfragen würden auch dadurch gehemmt, dass man nicht in die Nähe von Holocaustleugnern gestellt werden wolle. Wer Schwindler enttarne, könne zudem nicht mit Unterstützung rechnen. Seitens der jüdischen Gemeinschaft fehle oftmals das Interesse einer Aufdeckung. Das Beit Din, das religiöse Gericht der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, etwa lehnte es seinerzeit ab, Untersuchungen gegen den damaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Pinneberg Wolfgang Seibert einzuleiten, der drei Jahre später vom Spiegel als Nichtjude überführt wurde, und möchte noch heute dazu nicht Stellung beziehen.

Bekannte Fälle von Aneignung einer jüdischen Identität (Auswahl)

  • Binjamin Wilkomirski (* 1941) alias Bruno Dössekker, unehelicher Sohn einer Schweizerin, verfasste eine fiktive KZ-Autobiografie, später von Daniel Ganzfried entlarvt
  • Peter Loth (* 1943), Nebenkläger im Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslager Stutthof, behauptete, dort geboren und als Kind Experimenten mit Grippeviren und Drogen unterzogen worden zu sein.
  • Wolfgang Seibert (* 1947), ehemaliger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Pinneberg. Er ist Träger des Menschenrechtspreises von PRO Asyl. Seibert wurde durch Recherchen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel überführt, dass er entgegen eigener Behauptungen nicht der Nachkomme von Überlebenden des Holocaust ist.
  • Marie Sophie Hingst (* 1987; Suizid 2019), Historikerin und „Bloggerin des Jahres 2017“, reichte u. a. 22 gefälschte Biographien fiktiver Familienangehöriger in der Gedenkstätte Yad Vashem ein, um ihrer Geschichte eine höhere Plausibilität zu verleihen.
  • Karin Mylius (1934–1986), nachweislich weder Kind jüdischer Eltern noch Holocaust-Überlebende, bis 1986 Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle, aufgrund systemkonformer Politik und SED-Treue von der DDR-Führung gedeckt

Literatur

  • Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski: Über die Wahrheit einer Biografie. Hrsg.: Pendo Verlag. 2000.
  • Irene Diekmann, Julius H. Schoeps: Das Wilkomirski-Syndrom: Eingebildete Erinnerungen oder von der Sehnsucht Opfer zu sein. Hrsg.: Pendo Verlag. 2002.
  • Frank Hirschinger: Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biografien. V&R unipress, 2006.

Einzelnachweise