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Ganz unten

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Ganz unten. ist ein 1985 erstmals erschienenes international erfolgreiches Buch des Autoren und Journalisten Günter Wallraff, das Menschenrechtsverletzungen und Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland in den frühen 80er Jahren darstellt.

Inhalt

Anzeigen wie diese werden im März 1983 von Wallraff in mehreren Zeitungen geschaltet

Dies tut das Werk aus der Sicht des als Südländer Levent (Ali) Sigirlioğlu (in späteren Ausgaben auch Sinirlioğlu genannt) verkleideten deutschen Ich-Erzählers (Wallraff), der als Türke in Deutschland verschiedene Arbeiten annimmt und dabei vielerorts Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass erfährt.

Walraff schreibt im Vorwort zu seinem Buch, das er ab März 1983 zwei Jahre auf oben beschriebene Weise recherchierte:

Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muß sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.
Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt - in unserer Demokratie.
Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.

Wallraff muss als Ali Sinirlioğlu bei verschiedenen bekannten Unternehmen schwerste Arbeiten für geringe Stundenlöhne ausführen, unter Schikanierungen durch deutsche Kollegen, ohne Sicherheitsvorkehrungen, bisweilen ohne Papiere, Sozial- oder Krankenversicherung, nicht selten mehrere Schichten hintereinander. Wo deutsche Kollegen Schutzkleidung bekommen (zum Beispiel bei Kanalarbeiten bei Temperaturen unter Null Grad), erhält er keine; Wallraff schildert in diesem Zusammenhang auch, wie türkische Arbeiter in Atomkraftwerken bei ihren Tätigkeiten gefährlich hohe Strahlendosen in Kauf nehmen müssen. Der Autor berichtet von sich selbst, seine Gesundheit sei noch lange Zeit nach den Recherchearbeiten durch die Tätigkeiten, die er als Ali Sinirlioğlu wenn auch meist nur kurzzeitig durchführen musste, stark angegriffen gewesen. Einige seiner Arbeitskollegen, die das Gleiche mitmachen wie Wallraff, allerdings über ungleich längere Zeitspannen hinweg, haben kaum eine Chance, sich gegen die Unmenschlichkeiten zu wehren, halten sie sich doch illegal in Deutschland auf oder stehen vor der Ausweisung.

Aus seinem Inhalt erklärt sich auch die Titelwendung des Buches, die mit "ganz unten" die Grauzonen der bundesdeutschen Arbeitswelt in denen Wallraff recherchiert meint, wo es (dem Klappentext der Erstausgabe folgend) "vom Arbeitsmarkt zum Sklavenmarkt nur ein Schritt ist, wo Arbeit tödlich werden kann und der Mensch aufhört, Mitmensch zu sein."

Doch nicht nur auf seinen diversen Arbeitsstellen, auch im alltäglichen Leben erfährt der Autor mit seinem südländischen Erscheinungsbild, selbst wenn er fließend deutsch spricht und selbst noch wenn er bei einem Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen die Türkei nur die deutschen Spieler anfeuert, Demütigungen wie "Sieg heil"-, "Deutschland den Deutschen"- und "Türken raus"-Anfeindungen, werden ihm Zigaretten ins Haar geworfen und Biere über den Kopf gegossen.

Ausgaben

Nach der Erstausgabe, die mit einer Prozessflut (u. A. einer Unterlassungsklage von Thyssen) bedacht wurde, erschienen mehrere überarbeitete Neuauflagen, in denen bis dahin unveröffentlichtes Recherchematerial gestrichene Passagen auffüllten; seit 1988 erscheint Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen im Anhang. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt; der deutsche Verlag Kiepenheuer & Witsch publizierte neben der Originalausgabe auch eine türkischsprachige Ausgabe in Deutschland.

Wirkung

Günter Wallraff unverkleidet auf einer Podiumsdiskussion bei den Jugendmedientagen 2006

Das Buch brachte seinem Autor Beschimpfungen (u. A. als "sozialistischer Hetzer"), Bespitzelungen und Klagen ein, die zum Teil als Rufmordversuche seiner Gegner gewertet werden müssen. Unbestreitbar ist, dass die Erfahrungsberichte Wallraffs als Türke Ali weite Teile der deutschen Gesellschaft aufgerüttelt haben: Ganz unten. hatte sich in den ersten sechs Wochen nach seinem Erscheinen bereits 1,6 Millionen Mal verkauft. Auch leitet das dem Investigativjournalismus zuzurechnende Werk ein generelles Umdenken der Deutschen in Bezug auf die Behandlung von in Deutschland lebenden und arbeitetenden Menschen fremdländischer Abstammung ein. Gleichsam politische Auswirkungen hatte das Buch in Bezug auf das mit ihm bekanntwerdende Procedere der Subunternehmer: Gesetzgebung und Sicherheitsbestimmungen wurden in diesem Zusammenhang verschärft. In der Arbeitswelt folgte die feste Einstellung vieler Leiharbeiter, zumindest bei Thyssen. Dennoch sind einige der in Ganz unten. beschriebenen Praktiken im Umgang mit Türken gerade im Arbeitsleben bis heute zum Teil immer noch Realität, wie auch das im Buch beschriebene Denken in Teilen der deutschen Bevölkerung. Ganz unten. zog Folgeveröffentlichungen anderer Autoren nach sich, z. B. Thyssen gegen Wallraff oder: Bericht über den Versuch, einen Autor durch Prozesse und Rufmord zum Schweigen zu bringen (1988) von Frank Berger mit einem Essay von Hans-Ulrich Jörges, Die Reise ins Souterrain (1987) von Bodo Rollka, Ali - Phänomene um einen Bestseller (1986) von Heinz Klaus Mertes oder die von Christian Linder ab 1986 herausgegebene Sammlung In Sachen Wallraff, die Berichte, Analysen, Meinungen u. Dokumente auch zu anderen Werken des Autors enthält.

Literaturwissenschaftliche Einordnung

Vor Ganz unten. hatte es bereits diverse Werke türkischstämmiger Autoren gegeben, die schlechte Behandlung von zunächst als Gastarbeiter bezeichneten Türken in Deutschland literarisch darstellten; das bereits 1965 geschriebene Almanya, Almanya des türkischen Dichters Nevzat Üstün gehört dazu, noch mehr jedoch Werke von in Deutschland lebenden Autoren wie Aras Ören oder Yüksel Pazarkaya ab den 1970er Jahren. Ihre Versuche auf Missstände aufmerksam zu machen, wurden allerdings stets nur von einem kleinen Teil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen. Wallraff trug sich nach eigenen Angaben ebenfalls bereits seit Anfang der 1970er Jahre mit dem Gedanken an die Darstellung des Themenkreise von Ganz unten. und erhielt schließlich als prominenter deutscher Autor für seine Arbeit eine ungleich größere Aufmerksamkeit des deutschen Lesepublikums, als sie einer seiner deutsch-türkischen Kollegen zu diesem Zeitpunkt hätte erreichen können. Das Buch der 1000 Bücher (2002) des Harenberg-Verlags zählt Wallraffs Buch aufgrund seiner Wirkung zu den tausend kulturgeschichtlich bedeutsamsten Büchern der Weltliteratur.

Siehe auch