Gulag

Gulag (russisch Главное Управление Лагерей, Glavnoje Upravlenije Ispravitelno-trudovych Lagerej Sowjetunion.
) steht für Hauptverwaltung der Lager für Besserung durch Arbeit und bildet gleichzeitig das umgangssprachliche Synonym für die Arbeitslager derGeschichte des Gulag
Vorläufer
Schon die russischen Zaren hatten politische Gefangene, Verbrecher und missliebige Leibeigene nach Sibirien verbannt. Ein Gerichtsverfahren oder eine Untersuchung ging zumeist voraus. So wurde z.B. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, von 1897 bis 1900 nach Schuschenskoje verbannt, Iosseb Dschughaschwili, genannt Josef Stalin, von 1913 bis 1917 nach Turukhansk, beide in die Region Krasnojarsk am Jenissei. In den zaristischen Straflagern sollen in den 1830er Jahren 8.000 Menschen festgehalten worden sein, in den 1870er Jahren 20.000 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 30.000 Menschen.
Weiterentwicklung
Die Sowjetregierung unter Lenin richtete mit Beginn des Russischen Bürgerkriegs 1918 Internierungslager für politische Gegner, bestimmte soziale Gruppen und gewöhnliche Kriminelle ein. Im Erlass "Über den Roten Terror" hieß es 1918, Klassenfeinde sollten "in Konzentrationslagern isoliert werden". Diese Lager wurden nach Ende des Bürgerkriegs aufgelöst. Für die verbliebenen Gefangenen und neu hinzugekommene, so die Aufständischen von Kronstadt, stellte sich die Frage der weiteren Unterbringung. 1922 überließ die Sowjetregierung der GPU dafür die Solowezki-Inseln, fünf Inseln im Weißen Meer nahe Archangelsk und richtete dort Lager ein. Von den Machthabern eingeführt wurde der Begriff "Besserung durch Arbeit". Es wurde allerdings unterschieden zwischen Besserungsarbeit für Häftlinge aus der Arbeiterklasse und Zwangsarbeit für "Konterrevolutionäre" und "Klassenfeinde" zur Erniedrigung, Bestrafung und Vernichtung.
Der Grundsatz der "Besserung und Umerziehung" und freizügigere Strafvollzugsbedingungen galten nicht für politische Häftlinge [1]. R.Stettner bezeichnet es darüberhinaus als falsch, der "kommunistischen Terminologie und Propaganda zu folgen und die Betrachtung... auf Besserungsarbeit zu konzentrieren." Es sei vielmehr "festzuhalten, daß von den ersten Wochen der Herrschaft der Bolschewiki an Gefangenenzwangsarbeit der politisch Mißliebigen üblich war".
Bis 1925 wurden in den Lagern kleinere, unproduktive Arbeiten verrichtet, ab 1926 ging die GPU zum Prinzip der Selbstkostendeckung der Arbeitslager über. Die Häftlinge wurden zunächst zum Holzeinschlag verwendet (Holz war zu dieser Zeit ein Hauptexportartikel der Sowjetunion). Der Politikwechsel ab 1928 - Industrialisierung, Zwangskollektivierung - führte zu einem wesentlich größeren Häftlingsaufkommen.
Stalin forderte 1929 eine effizientere Nutzung der Arbeitskraft von Häftlingen in den Arbeitslagern, die fortan offiziell als "Besserungsarbeitslager" bezeichnet wurden. Die Lagerreformen der Jahre 1928/29, speziell das Dekret vom 26. Juni 1929, waren die Geburtsstunde der eigentlichen GULAG. Häftlinge mit einem Strafmaß von über drei Jahren sollten generell in Lagern untergebracht werden und dort Arbeiten verrichten. Unter Stalin wurde das System straff durchorganisiert und stetig erweitert. In den folgenden Jahren weitet sich das Lagersystem räumlich aus, bis es schließlich in allen Teilen der Sowjetunion anzutreffen war. Auch die Arbeitskraft der Häftlinge wurde immer weitläufiger eingesetzt. Zum Beispiel sollte Igarka durch eine 1.300 km lange Polareisenbahn erschlossen werden. Projekt Nr. 501 am Ob und Projekt Nr. 503 am Jenissei sollten sich zur Magistrale verbinden. Es wurden 100.000 bis 120.000 Menschen, hauptsächlich Gulag-Insassen dazu eingesetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch Deutsche als Zwangsarbeiter nach Sibirien transportiert. Häufig wurden sie in der Frühzeit der DDR als – meist vermeintliche – "Spione für den Westen" ("Kalter Krieg") oder Regimegegner verhaftet. Aber auch aus vielen anderen Ländern und Regionen kamen die Häftlinge, so dass in den Lagern viele Nationen vertreten waren. Seit 1948 unterstanden auch die Speziallager in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, beziehungsweise der DDR, der Lager-Hauptverwaltung GULag des Moskauer Innenministeriums. [2]
Zahl der Opfer
In den Lagern der Sowjetzeit waren zeitweise bis zu 2,5 Millionen Menschen ohne Gerichtsurteil inhaftiert. Ein ordentliches Gerichtsverfahren oder einen Beschluss, dem eine Untersuchung vorausging, gab es in der UdSSR nicht mehr. Die Gesamtzahl der Menschen, die zwischen 1918 und 1953, insbesondere während der Periode des Stalinismus, in einem Gefangenenlager oder in einer Kolonie gefangengehalten wurden, lag jedoch weitaus höher und wird von der jüngeren Forschung mit etwa 18-20 Millionen angegeben.
Große Volksteile und -gruppen wie beispielsweise die Kosaken, "Ausbeuter" wie die Kulaken oder willkürlich als solche Bezeichnete, Geistliche u.v.a. fielen dem Genozid, bzw. dem Demozid des kommunistischen Terrors zum Opfer, der von Lenin begonnen und durch Stalin zum Höhepunkt getrieben wurde. Die Liquidierung der Gegner der kommunistischen Ideen sollte damit erreicht werden.
Die durchschnittliche jährliche Sterberate im Lagersystem wurde in der Forschung jahrzehntelang debattiert. Sie ist bisher nicht abschließend ermittelt. Verschiedene Forscher kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. So reichen Schätzungen von 2,5-30%, schreibt Heinsohn. Für die Lager Kolyma und Workuta gibt es noch höhere Schätzungen. Dort sollen bis zu 50% der Häftlinge umgekommen sein. Rummel, der frühere Zahlen nach unten korrigierte, rechnet für die gesamte marxistisch-leninistische Ära von 1918-1991 mit 39 Millionen Gulag-Toten. Heinsohn erwähnt, dass von den drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen in den Lagern nach fünf Jahren bereits eine Million verstorben waren.
Es wird kritisiert, dass die sowjetischen, bzw. russischen Forscher in frühen Publikationen das Material der Archive in wissenschaftlich unhaltbarer Weise veröffentlicht hätten, ganze Häftlingskategorien seien weggelassen worden (Bacon, Gulag). Bacon gibt für 1937 die Zahl von 31 Toten pro 1000 Gefangenen an, für 1938 spricht er von 91, für 1939 von 38, 1941 von 67 (dreimal höher als die Sterberate im Landesdurchschnitt), 1942 von 176 (siebenmal höher als Landesdurchschnitt), 1943 von 170, 1944 von 92, 1945 von 61 (siebenmal höher als Landesdurchschnitt). Die niedrigsten Opferzahlen für die Jahre von 1934-1953 gibt die Forschergruppe Getty, Rittersporn, Zemskov, Dugin an, nämlich 1.053.929 Tote.
Seit Mitte der 1990er Jahre ist ein großer Teil der erhaltenen Archivbestände des GULAG, der umfangreiche und detaillierte Häftlings- und Sterbestatistiken enthält, Forschern nicht nur in Moskau, sondern (als Mikrofilme) auch in Bibliotheken in München, London, Cambridge/Mass., Stanford und Chicago frei zugänglich. Zahlreiche Dokumente, die Sterbedaten enthalten, sind zudem in Quelleneditionen publiziert worden. Jedoch sind noch immer nicht alle ehemaligen sowjetischen Archivbestände freigegeben. Eine Aktennotiz des GULAG aus der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nennt etwa die Zahl von 1.606.748 Todesfällen im System der Lager und Kolonien im Zeitraum zwischen 1930 und 1956, wobei in dieser Ziffer Sterbefälle in Kolonien erst ab 1935 enthalten sind (Kokurin/Petrov, S. 441f.). Etwa 900.000 dieser Todesfälle fallen dabei in die Jahre 1941-45.
Solche Zahlen beinhalten allerdings weder Opfer von Exekutionen außerhalb (und innerhalb) der Lager, z.B. während des Roten Terrors oder des Großen Terrors, noch Todesfälle auf Transporten, gleichfalls nicht Opfer von Spätfolgen des Lageraufenthaltes, desgleichen nicht die Opfer der verheerenden Hungersnöte in der Ukraine, ebenso in Kasachstan, der Wolgaregion, dem Nordkaukasus und anderen Gebieten der UdSSR, ausgelöst und verschärft durch die exzessive Requirierung von Lebensmitteln durch die kommunistische Partei (frühe 1920er (Lenin) und frühe 1930er (Stalin) Jahre) und die Zwangskollektivierung (frühe 1930er Jahre) (insgesamt schätzungsweise etwa 12 Millionen Opfer). Die Bezeichnung der Hungernöte als Völkermorde, zu der verschiedene Historiker neigen, ist in der Forschung umstritten. [3] [4]
Die Menschen in den Lagern starben an permanenter Unterernährung, Erfrierungen, harten Strafen (Strafisolator, Strafbaracke, Strafkompanien, Einzelstrafen wie Entzug des Essens oder der Kleidung im Winter), Erschöpfung durch Überarbeitung, Krankheiten durch Fehlen von Hygiene und medizinischer Versorgung.
Neben den Todesopfern und den Inhaftierten selbst muss man auch die Familien bzw. Angehörigen der Inhaftierten als Opfer bezeichnen, die Ehegatten, die Kinder und übrige Familienmitglieder. Die Regierungen nahmen bewusst in Kauf, dass die Familien in größte Not geworfen wurden. Es sollte damit eine größere Breitenwirkung des offiziellen Terrors erreicht werden.
Nutzung der Arbeitskraft
Mit Ausnahme einiger besonderer Lager für Wissenschaftler (so genannte Scharaschka, von Solschenizyn wurde in dem Roman Der erste Kreis der Hölle das von ihm in der Realität Erlebte aus eigener Erfahrung beschrieben), kam es im Lagersystem insgesamt nie zu jener effizienten Nutzung der Arbeitskraft, die ab Mitte der Zwanziger Jahre als ein Hauptmotiv bei der Gestaltung des Lagersystems gedient hatte. Die Methode, zum Beispiel den Weißmeer-Ostsee-Kanal im Winter von hungernden und frierenden Häftlingen mit Spitzhacke, Schaufel und Spaten ausheben zu lassen, war wirtschaftlich völlig ineffizient.
Neben der Nutzung der Arbeitskraft war das zweite Hauptmotiv der Lager die Besserung und Umerziehung der Inhaftierten. Beide Motive kommen in der offiziellen Bezeichnung "Besserungsarbeitslager" zum Ausdruck, die ab Mitte der Zwanziger Jahre verwendet wurde.
Nach offizieller Auflösung des Gulag ca. 1960 wurden als Nachfolgerlager des Gulag weiterhin zahlreiche Arbeitslager betrieben, die bis ca. 1990 unter der Bezeichnung "Besserungsarbeitskolonie" im Wirtschaftsplan als Produktionseinheiten eingeplant wurden.
Die Nutzung der Arbeitskraft hatte bei Gründung der sowjetischen Lagersystems unter Lenin noch keine Rolle gespielt, in diesen ersten Jahren dienten die Lager primär der Konzentration und Isolation der Klassenfeinde und führten demgemäß im offiziellen Sprachgebrauch der Sowjetregierung die Bezeichnung "Konzentrationslager".
Alltag im Lager
Die unmenschlichen Lebensbedingungen führten zum Tod vieler Hunderttausender Häftlinge. Die Häftlingsmortalität lag bis in die 1950er Jahre hinein deutlich über der der übrigen sowjetischen Gesellschaft. Am höchsten war sie allerdings während der Kriegsjahre 1942 und 1943, als infolge von extremer Verknappung der Versorgung und einer noch rücksichtsloseren Ausnutzung der Häftlingsarbeiter jeweils fast ein Viertel aller Lagerinsassen starb. Die Lebensbedingungen, aber auch die Ineffizienz der Lager wurden an einem Einzelschicksal beispielhaft beschrieben in Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Dennissowitsch, die nach Widerständen während der Tauwetter-Periode in der sowjetischen Literaturzeitschrift Novyj mir erschien.
Klassenkampf im Lager
In den Straflagern gab es eine fein abgestufte Rangordnung, in der die Kriminellen als "klassen-nah" oder auch "sozial-nah" und die politischen Häftlinge (oder wen man dafür hielt) als "klassen-fremd" oder auch "sozial-fremd" galten. So wurden wichtige Posten, wie etwa Barackenälteste, Verwalter, Buchhalter, aber auch Köche, Brotschneider, Automechaniker, Vorarbeiter in den Arbeitsbrigaden und sogar die Erzieher-Posten oft mit kriminellen Häftlingen besetzt. Die "Politischen" mussten dagegen zum Beispiel als Erdarbeiter, als Landarbeiter, im Holzschlag, in Steinbrüchen sowie in der Ziegelbrennerei arbeiten.
Dieses System hielt sich bis Anfang der 50er Jahre, als Stalin sich entschloss, die Ideologie von der "sozialen Verwandtschaft" fallenzulassen. Nun wurden die kriminellen Häftlinge in eigens für sie gebauten Spezialgefängnissen untergebracht, wo sie in Einzelzellen keine Gelegenheit mehr zum Stehlen oder Rauben fanden.
Auflösung der Lager
Die Auflösung des Lagersystems wurde durch die unmittelbar nach Stalins Tod 1953 erlassene Amnestie eingeleitet, die allerdings nur "unpolitische" Häftlinge betraf. Die Freilassung politischer Häftlinge setzte ein Jahr später ein. Ende der 1950er Jahre wurde das letzte Lager aufgelöst, Strafkolonien bestanden jedoch weiterhin. Auch kam es in der Folgezeit immer wieder zu politischen Verhaftungen, wenngleich bei weitem nicht mehr in jenem Umfang wie zur Stalinzeit. Beendet wurden die politischen Verfolgungen erst unter Gorbatschow.
Alexander Solschenizyn
Das trotz ständiger Überwachung durch den KGB von Alexander Solschenizyn nach Erlebnissen heimlich geschriebene und nach Westeuropa geschmuggelte Buch Der Archipel Gulag führte dazu, dass das Wort Gulag als Bezeichnung für die Behörde, der die Zwangsarbeitslager unterstanden, zum Begriff wurde. Dieser steht für das Repressionssystem der Sowjetunion als Ganzes oder das Teilsystem der Straflager.
Wirkung des Buches
Solschenizyns begriffsbildendes Buch Der Archipel Gulag wirkte in Westeuropa und den USA sehr stark. Solschenizyn liefert darin eine sehr materialreiche literarische und doch wirklichkeitsgetreue Aufarbeitung des Systems der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der Verhöre, der Folter, der Verurteilungen und der Straflager selbst mit ihren unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände, Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen.
Siehe auch
- Stalinismus, Josef W. Stalin
- Sowjetunion, Geschichte der Sowjetunion
- Dissident
- Menschenrechte
- NKWD (Volkskommissariat des Inneren der Sowjetunion)
- Der Archipel Gulag
- Kommunismus
- Vernichtung durch Arbeit
- GPU
Weblinks
- Commons: Gulag – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
- Gulag-Museum
- Links zu verschiedenen Gulag-Museen in Sibirien (en)
- Karte der Gulag (de)
- Karte der Lager
- deutschsprachiges Portal über den GULAG mit Fachtexten, Fotos, Häftligsbiografien etc.
- Stalineisenbahn
- Aus Anne Applebaum Der Gulag
- Russia's Camps
- Kommentierte Bibliographie zum Gulag (pdf)
- Über 1000 russische Polithäftlinge und ihre Erinnerungen an den GULAG - Website des Sacharow-Zentrums Moskau
- John H. Noble, Autor von "Ich war Sklave in Russland" und "Verbannt und verleugnet"
Anmerkungen
- ↑ Ralf Stettner "Der Besserungsarbeitsgedanke und die Strafvollzugssysteme der zwanziger Jahre" in Archipel Gulag, Paderborn,München,Wien,Zürich, Schöningh 1996, ISBN 3506787543
- ↑ Bodo Ritscher Das Speziallager Nr.2 1945-1950. Katalog zur ständigen historischen Ausstellung., Wallstein Verlag 1999. ISBN 3892442843
- ↑ Gunnar Heinsohn Lexikon der Völkermorde, Rowohlt rororo, 1998 ISBN 3499223384
- ↑ Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933, Basingstoke, Hampshire [England]; New York: Palgrave Macmillan, 2004.