Islam in Bulgarien
Ab 2007 ist Bulgarien innerhalb der erweiterten EU das Land mit dem prozentual größten muslimischen Bevölkerungsanteil. Im gesamteuropäischen Vergleich aber liegt der Islam in Bulgarien mit 12-13% zwar etwa gleichauf mit Russland (etwa 14%), aber noch deutlich hinter Mazedonien (33%), Bosnien-Herzegowina (44%), Albanien (fast 70%) und der Türkei (98%) an sechster Stelle.
Von zur Zeit weniger als 8 Millionen Einwohnern Bulgariens sind entsprechend der Volkszählung von 2001[1] etwa 1 Million [2] Muslime, davon wiederum 747.000 Balkan-Türken[3], 131.000 bulgarische Muslime[4] (Pomaken), 103.000 muslimische Roma und 20.000 sonstige Muslime. Die türkische Minderheit in Bulgaren bezeichnet sich als Bulgarien-Türken (Bulgaristan Türkleri).
Bulgarien und der Islam: Geschichte
Schon vor der türkischen Eroberung hielten erste Vorläufer des Islam in Bulgarien Einzug, als im 13. Jahrhundert bulgarische Bojaren kumanische Söldner aufnahmen, die vor den Mongolen geflohen waren, unter denen sich aber bereits eine muslimische Minderheit befand. Schon Zar Kalojan (selbst Kumane?), vor allem aber die Zaren Iwan Asen II. und Koloman I. wiesen ihnen die damals zu Bulgarien gehörende Dobrudscha und Kumanowo im damals ebenfalls zu Bulgarien gehörenden Mazedonien als Siedlungszentren zu.
Die den Mongolen folgenden Tataren unter Nogai Khan, inzwischen ebenfalls islamisiert, unterwarfen 1285 Bulgaren und Kumanen, Nogais Sohn Chaka wurde 1299-1300 bulgarischer Zar. Auch Nogaier siedelten sich fortan in der Dobrudscha an.
Nach den Schlachten an der Maritza (1371), auf dem Anselfeld (1389) und bei Nikopolis (1396) wurde ganz Bulgarien dem Reich der osmanischen Türken angeliedert, ein letzter Kreuzzug gegen die Eroberer scheiterte 1444 in der Schlacht bei Warna.
Die von dem osmanischen Architekten Sinan 1575/76 in Sofia erbaute Banya-Bashi-Moschee steht heute noch ebenso wie die 1744/45 in der nordostbulgarischen Stadt Schumen entstandene Tumbul-Moschee, die bis heute als die größte Moschee Bulgariens und die zweitgrößte Moschee des gesamten Balkan gilt. Unter der bis 1878/1885 bzw. 1908/12[5] andauernden osmanisch-türkischen Herrschaft siedelten sich zahlreiche Türken in Bulgarien an, ebenso zahlreich konvertierten vor allem im 17. Jahrhundert slawische Bulgaren zum Islam.
Die meisten Muslime in Bulgarien sind hanafitische Sunniten. Anfang des 16. Jahrhunderts jedoch ließ der türkische Sultan Selim I. nach seinem Sieg über die schiitischen Perser einige alewitische und schiitische Türken nach Bulgarien zwangsumsiedeln, so daß es noch heute auch insgesamt 80.000 Schiiten und einige Bektaschi z.B. in der Region Rasgrad oder bei Sliwen gibt.
Pomaken im Süden, Türken im Norden
- Siehe Hauptartikel: Pomaken und Balkan-Türken
Unter den bulgarischen bzw. slawischen Muslimen bildeten die Pomaken fortan eine eigene Gruppe, zwei ihrer Vertreter (Filibeli und Kalafat) machten im 17. und 18. Jahrhundert als osmanische Großwesire (tr:Sadrazam) sogar höchste Karrieren im Staat des osmanischen Sultans, ebenso der aus der nordbulgarischen Stadt Rustschuk (Russe) stammende Türke Celebizade Scherif Hasan Pascha oder der aus dem südbulgarischen Kardschali stammende Jungtürke Talat Pascha. Die Pomaken sind aber nicht zu verwechseln mit der türkischen Minderheit Bulgariens. Trotz der Übernahme türkischer Kulturelemente sprechen die meisten dieser slawischen Muslime weiterhin einen als Pomakisch bekannten bulgarischen Dialekt.

Was als Bulgarischer Aprilaufstand 1876 in der Geschichte glorifiziert wird, begann z.T. auch als Massaker christlicher Bulgaren an ihren muslimischen Nachbarn und den türkischen Garnisonen. Die ebenso grausamen türkischen Vergeltungsaktionen führten zum Krieg der Osmanen mit Russland und Rumänien, die türkische Niederlage konnte auch ein protürkischer Aufstand der Pomaken gegen die russischen Besatzer nicht mehr verhindern. Trotz des nach Zusammenbruchs der über 500jährigen türkischen Herrschaft 1879-1899 einsetzenden Massenexodus hunderttausender Muslime nach Anatolien und weiteren bulgarischen Pogromen 1908/10 und 1912/13 sind noch bis heute vor allem im Nordosten Bulgariens Türken und Roma sowie im Südwesten (westliche Rhodopen und Pirin-Gebirge) Pomaken (bulgarische Muslime) ansässig. Siedlungszentren, zum Teil mit absoluten und relativen muslimischen Mehrheiten, waren und sind
- im "pomakischen" Südwesten und Süden[6] die Oblaste Blagoewgrad, Smoljan und Pasardschik
- im "türkischen" Nordosten[7] die Oblaste (Bezirke) Rasgrad, Russe, Targowischte, Silistra, Dobritsch und Schumen
- "Ausnahmen" sind die türkischen Gemeinden bei Sliwen im Südosten (einschließlich der türkischen "Hochburg" Kardschali in den östlichen Rhodopen) und die Pomaken rund um Lowetsch im Nordwesten
- in den großen Städten des Landes: Plowdiw, Burgas, Warna, allerdings kaum in der Hauptstadt Sofia.
Im Gegenzug dazu gibt es seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Pomaken- bzw. Muhadschir-Gemeinden in der heutigen türkischen Marmararegion bzw. Schwarzmeerregion, vor allem in bzw. nahe den Küstenstädten, aber auch im Innern Phrygiens (Eskişehir), Lykaoniens (Eregği), Mysiens (Balıkesir), Bithyniens und Kilikiens). Sie sind jedoch in der Türkei nicht als ethnische Minderheit anerkannt und weitgehend türkisiert. Heute betonen etwa 120.000 türkische Staatsbürger ihre bulgarische Herkunft, nur 20.000 von ihnen aber geben Pomakisch-Bulgarisch noch als ihre Muttersprache an.
Muslime in Bulgarien: Gegenwart

Erst 1912 hatten die Türken die letzten südwestbulgarischen Provinzen verloren (Blagoewgrad, Smoljan und Kardschali), 1913-1940 dann verlor Bulgarien die nordostbulgarische Süddobrudscha (Bezirke Silistra und Dobritsch) mitsamt den dort lebenden Türken an Rumänien. Ebenfalls bereits 1913 waren in einem ersten "Bevölkerungsaustausch" 100.000 Türken aus Bulgarien vertrieben worden, nach der kommunistischen Machtergreifung 1944/46 flohen bis 1950 weitere 100.000 in die Türkei.[8]
Nach den bzw. trotz der Vertreibungen von bis zu 300.000 der sich der "Bulgarisierung" widersetzenden türkischen Muslime in den 1980ern befanden sich 1991 offiziell noch immer 900.000 Angehörige der türkischen Minderheit im Land, von den sich damals aber kaum 800.000 tatsächlich auch als Muslime bekannten.[9] Mit dem Ende des Kommunismus aber kaum auch das Ende des staatlich verordneten Atheismus, das Bekenntnis zum Islam nahm sowohl unter Türken als auch unter Pomaken wieder zu. Einige in den 1980ern geflohene Türken kehrten nach Bulgarien zurück, während gleichzeitig viele Bulgaren und Türken auf der Suche nach Arbeit im Ausland Bulgarien verließen. So sank die Bevölkerung in den 20 Jahren zwischen 1985 und 2005 von 9 Millionen auf auf 7,8 Millionen, während gleichzeitig der Anteil der Muslime im Land stieg.
Unter den Pomaken vor allem in den Westrhodopen nimmt aber eine Neigung zur Selbstidentifikation als Türken zu, da die bulgarischen Behörden die bulgarischen Muslime (im Gegensatz zu den türkischen Muslimen) nur als religiöse, nicht aber als ethnische Minderheit anerkennen. Kaum 60.000 muslimische Bulgaren bezeichnen sich daher heute noch als Pomaken (vor 1990 sollen es noch 260.000 gewesen sein, angesichts der antitürkischen Kampagne hatten sich aber wohl vor allem Türken damals als Pomaken "getarnt".)
Seit 1990 sind die Bulgarien-Türken in der Bewegung für Bürgerrechte und Freiheiten, DPS (Движение за права и свободи, ДПС), unter ihrem Vorsitzenden Ahmed Demir Doğan organisiert. Schon 1991 zog die Partei ins Parlament ein und ist seitdem an fast allen (bürgerlichen) Koalitionsregierungen der postkommunistischen Ära beteiligt gewesen.
Siehe auch
- slawische Muslime
- Knabenlese
- Geschichte Bulgariens
- Geschichte der Türkei
- Islam in Rumänien
- Islam in Griechenland
- Ilija Trojanow
Anmerkungen
- ↑ http://www.nsi.bg/Census/Ethnos.htm
- ↑ http://www.nsi.bg/Census/Religion.htm
- ↑ http://www.nsi.bg/Census/MotherTongue.htm Bei der Befragung nach der Muttersprache gaben mehr als 762.000 Türkisch an
- ↑ Die Zahl ergibt sich aus der zwischen Religionszugehörigkeit und ethnisch/sprachlichem Bekenntnis liegenden Differenz, die Gesellschaft für bedrohte Völker gibt die Anzahl der Pomaken in Bulgarien für 2001 sogar mit 250.000 an.
- ↑ Unabhängigkeit Nordbulgariens (von Sofia bis Warna) als Fürstentum 1878, Anschluß Südostbulgariens (Ostrumelien, von Plowdiw bis Burgas) 1885, Erhebung zum Königreich und Einstellung bulgarischer Tributzahlungen 1908, Eroberung Südwestbulgariens (Rhodopen) 1912
- ↑ Betrachtet man nur die zusammenhängenden Bezirke Smoljan, Blagoewgrad, Kardschali und Pasardschik, so sind mit 281.000 der 955.000 Einwohner über 29% Muslime. Ohne Pasardschik machen die Muslime in der Südwestregion mit 235.000 von 645.000 Einwohnern 37% aus.
- ↑ Betrachtet man nur die zusammenhängenden Bezirke Ruse, Silistra, Dobritsch, Warna, Targowischte, Schumen und Rasgrad, so sind mit 400.000 der 1,58 Millionen Einwohner über 25% Muslime. Ohne die die Küstenbezirke Warna und Dobritsch machen die Muslime in der Nordostregion mit 310.000 von 900.000 Einwohnern über 35% aus.
- ↑ Mehr noch als bulgarische Nationalisten und orthodoxe Fundamentalisten förderten die an Sowjetrußland angelehnten Kommunisten Bulgariens die antitürkische und antimuslimische Sichtweise von 500 Jahren "osmanischem Joch", während zuvor Bulgarien trotz der einstigen Balkankriege 1915-18 und erneut ab 1991 wieder Bündnisse mit der Türkei geschlossen hatte. Aus proletarisch-internationalistischer Solidarität mit den sozialistischen "Brudervölkern" wurde diese bulgarische Sichtweise auch in den von ostdeutschen und russischen Kommunisten kontrollierten DDR- und Sowjet-Publikationen verbreitet.
- ↑ Fischer Weltalmanach 1994. Frankfurt 1993
Literatur
- Ali Eminov: Turkish and other Muslim Minorities in Bulgaria. London 1997. (Rezension der Uni Köln)
Weblinks
englische Wikipedia
- Bulgarian Muslims
- Pomaks
- Veda Slovena (Muslimische Volksmusiksammlung)
- Banya Bashi Mosque (Moschee in Bulgariens Hauptstadt Sofia)
- Tombul Mosque (größte Moschee Bulgariens in Schumen)
- Turks in Bulgaria
- Movement for Rights and Freedoms (DPS, Partei der türkischen Minderheit)
türkische und bulgarische Wikipedia
- Bulgaristan Türkleri (Bulgarien-Türken, türkische Wikipedia)
- Pomaklar (Pomaken, türkische Wikipedia)
- Възродителен процес (Bulgarisierungsversuche und Vertreibung der Bulgarien-Türken, bulgarische Wikipedia)
- Българи мохамедани (Bulgarische Muslime, bulgarische Wikipedia)
weitere
- Website der DPS (bulgarisch)
- Arabisches Geld für islamische Minderheit in den bulgarischen Rhodopen
- Prof. Dr. Valery Stojanow: Die Muslime am Balkan als eine autochthone und überregionale Minderheit
- Ulrich Büchenschütz: Minderheitenpolitik bulgarischer Kommunisten gegenüber Juden, Roma, Pomaken und Türken (Magisterarbeit)