Bildungsgeschichte der Sowjetunion
Die Bildung in der Sowjetunion stand unter dem Einfluss der bolschewistischen Ideologie sowie der verschiedenen Herrscher im Sowjetsystem und musste den Herausforderungen an ein Bildungssystem nach der Industrialisierung des großen Reiches genügen. Den Beginn markierte die Russische Oktoberrevolution 1917, obwohl die UdSSR formal erst 1922 gegründet wurde. Damit wurde in der Bildung im zaristischen Russland angeknüpft. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 nahmen die Bildungssysteme der einzelnen Republiken eigene Wege, so die Bildung in Russland.
Von 1920 bis 1953
Das Volkskommissariat für Bildung der RSFSR bestand seit Beginn der bolschewistischen Regierung 1917. Am 26. Juni 1918 (13. Juni) wurde mit Lenins Unterschrift vom Rat der Volkskommissare „Das Dekret über die Organisation der Volksbildung in der Russischen Republik“ erlassen, in dem die Aufgaben der Staatlichen Kommission für Bildung detaillierter festgelegt wurden. Die Kommission hatte die Aufgabe, die Angelegenheiten der Volksbildung zu leiten und die allgemeinen Prinzipien der Volksbildung festzulegen, staatliche Bildungspläne zu erlassen und andere prinzipielle Fragen zu klären. 1927 war die allgemeine Grundschulpflicht noch fast ebenso weit entfernt wie vor der Oktoberrevolution: Die Gruppe der 8-11jährigen Kinder wurde lediglich zu etwa 50 % beschult, nur knapp ein Drittel dieser Grundschulen entsprach dem vierklassigen Normaltypus, und besonders auf dem Lande gingen Mädchen seltener und kürzer zur Schule als Jungen. Ein Gesetz zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde erst im Jahre 1930 erlassen.[1] Der chaotische Anatoli Lunatscharski wirkte von 1917 bis 1929 als Volkskommissar, nach seiner Entlassung führte Andrei Bubnow einen strengen administrativen Kurs.[2]
In den 1920er Jahren wurde das Bildungssystem entsprechend dem föderalistischen Staatsaufbau der Sowjetunion dezentralisiert. Es entstanden kleine, fachlich eng spezialisierte Hochschuleinheiten, die an einzelne Wirtschaftsbranchen oder Großbetriebe angebunden waren. In dieser Weise wurde gesichert, dass den Betrieben immer genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen (vgl. Kuebart 2002, S. 94). Die Kompetenzen für das Bildungswesen lagen bei den Volksbildungskommissariaten der Republiken.
Im Rahmen einer Neuorganisation in den 1930er Jahren wurde ein speziell für das Hochschulwesen zuständiges Staatsorgan gegründet. Während die Kompetenzen für die fachlich spezialisierten Hochschulen bei den Branchenverwaltungen lagen, fielen die Universitäten in die Zuständigkeit des Hochschulressorts. Bei der Grundschule lagen die Probleme in der Lehrerfrage und im Schulraum. Zwischen den Jahren 1930 und 1932 mussten allein in der RSFSR ca. 114.000 Grundschullehrer ausgebildet werden. Die Absolventen der regulären Lehrerbildungsanstalten (Pädagogische Technika und Pädagogische Hochschulen) reichten dafür bei weitem nicht aus. Im Schuljahr 1930/1931 sollten alle Schulen einem Industriebetrieb, Staatsgut oder Kolchos angeschlossen werden; im Mittelpunkt der Lehrpläne und der Schularbeit sollte das Studium der Produktion und die Teilnahme der Kinder an der produktiven Arbeit stehen. Für die 12-13jährigen bedeutete dies teilweise die Arbeit unmittelbar im Betrieb. Nach dem Beschluss des ZK der KPdSU vom 5. September 1931 „Über die Grund und Mittelschule“ endete die frühsowjetische Periode der pädagogischen Experimente, die autoritäre Lern- und Leistungsschule der Stalin-Ära setzte sich durch. Ohne die Polytechnisierung grundsätzlich infragezustellen, sollte die „gesamte gesellschaftlich produktive Arbeit der Schüler den Unterrichts- und Erziehungszielen der Schule untergeordnet werden müsse. Jeder Versuch, die Polytechnisierung der Schule von der soliden und systematischen Aneignung der Wissenschaften, insbesondere der Physik, Chemie und Mathematik, zu trennen, stellt eine grobe Abweichung von der Idee der polytechnischen Schule dar.“[3]
Wegen des Mangels an Arbeitskräften wurde 1940 das System der „Staatlichen Arbeitsreserven“ eingeführt, wodurch ein zentral gelenktes Berufsbildungswesen geschaffen wurde. Die Kompetenzen für das Bildungswesen lagen beim Rat der Volkskommissare der UdSSR, der die Planung der Ausbildungskontingente, die Organisation und Rekrutierung von Schülern und die Verteilung der Absolventen auf die Betriebe übernahm. Besonders nach dem Kriegsende erfolgte eine Zwangsrekrutierung von Schülern, um die Planziele des Wiederaufbaus zu erreichen.[4]
Von 1953 bis 1980
Nach Stalins Tod im Jahre 1953 wurde das Bildungswesen dem Kulturministerium untergestellt. Nach einem Jahr wurde jedoch diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht und während das Hochschulwesen einem Unionsministerium untergestellt wurde, fiel die Hauptverwaltung der Arbeitsreserven wieder in die Zuständigkeit des Ministerrats der UdSSR. 1958 wurde versucht Reformen durchzusetzen. Das System der Arbeitsreserven wurde abgeschafft und durch beruflich-technische Schulen ersetzt. Im Rahmen der regionalen Dezentralisierung wurden die wirtschaftlichen Leitungskompetenzen von den zentralen Ministerien auf die Ministerräte der Unionsrepubliken übertragen. Dadurch erfolgte eine starke Einschränkung der Kompetenzen des Staatskomitees für beruflich-technische Bildung. Unter Chruschtschow sollten die revolutionären Ziele reaktiviert werden. Das neue Parteiprogramm der KPdSU vom XXII. Parteitag im Oktober 1961 enthielt einen Zwanzigjahresplan, an dessen Ende die klassenlose kommunistische Gesellschaft stehen sollte. Sieben Punkte:
- Formung einer wissenschaftlichen Weltanschauung,
- Erziehung zur Arbeit,
- Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral,
- Entwicklung des proletarischen Internationalismus und des sozialistischen Patriotismus,
- allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit,
- Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus im Bewusstsein und Verhalten des Menschen,
- Entlarvung der bürgerlichen Ideologie.[5]
Nach Chruschtschows Sturz wurde der Wirtschaftsapparat reorganisiert, was auch bestimmte Änderungen im Bildungswesen mit sich brachte. 1965 verschwanden die regionalen Volkswirtschaftsräte und das Staatskomitee für beruflich-technische Bildung wurde wieder dem Ministerrat der UdSSR untergestellt.
Die Kompetenzen dieses Komitees wurden jedoch weiter abgestuft. In den 1970er Jahren wurde erneut versucht, die Kompetenzen in der Berufsausbildung beim Staatskomitee zu konzentrieren und dadurch eine einheitliche staatliche Berufspolitik einzuführen. Dieser Versuch scheiterte jedoch, weil die führenden Wirtschaftsfunktionäre und -wissenschaftler die dezentrale, betriebliche Ausbildung unterstützten (vgl. Kuebart 2002, S. 13–20).
1980er Jahre
Wesentliche Veränderungen im Bildungswesen erfolgten 1984, als ein neuer Reformplan für die allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen erstellt wurde. Ein Treffen im Herbst 1986 versammelte viele pädagogische Experten, die wichtige Prinzipien für eine demokratische und humane Schule am 18. Oktober 1986 unter dem Titel „Pädagogik des Zusammenwirkens“ in der „Lehrerzeitung“ veröffentlichten. Sie setzten mehr auf die „Kreativität und Kraft der Lehrer-und Schülerpersönlichkeit“. Damit war ein Abgehen vom Konformismus angebahnt.[6]
Im nächsten Schritt wurde 1986 ein Richtlinienentwurf für die Umgestaltung des Hoch- und Fachschulwesens vorgelegt. Die Reform war aus drei Gründen notwendig.[7] In den 1960er und 1970er Jahren erfolgte eine rasche Expansion des Hochschulwesens und damit wurde der gesellschaftliche Bedarf an Hochschulabsolventen bereits Ende der 1970er Jahre gesättigt. Die Nachfrage unterlag jedoch regionalen und sektoralen Ungleichgewichten. Während in manchen Sektoren ein Überangebot an qualifizierten Arbeitskräften bestand, mangelte es Branchen wie Elektronik und Robotik an Ingenieuren. Um die Anzahl der Absolventen auf dem Niveau des Jahres 1980 zu „einzufrieren“, wurden Bremsmaßnahmen in der Hochschulzulassungspolitik eingeführt. Während der Anstieg der Hochschulabsolventenzahl stagnierte, konnten die sektoralen Ungleichgewichte nicht beseitigt werden. Ein Grund dafür war die Lohnpolitik, die die Arbeit des Ingenieurs teilweise niedriger bewertete als diejenige eines Facharbeiters. [8].
Ein weiteres Problem stellte die Qualität der Ausbildung und die fachliche Kompetenz der Absolventen dar. In den 1970er Jahren entstand aus lokalen Prestigegesichtspunkten und durch die Aufwertung bestehender Institutionen eine Vielzahl von neuen Hochschulen, die jedoch über keine Mittel für qualitative Ausbildung verfügten. Manche solche Hochschulen hatten keinen einzigen Professor. Dies hatte nicht nur für die Effizienz der Hochschulen negative Konsequenzen, sondern auch für die Forschungsaktivitäten. Deswegen wurde die Modernisierung der Ausbildung zu einem Kernpunkt des Reformplans.
Mit der Einführung von Perestrojka am Ende der 1980er Jahre wurden neue Leitvorstellungen und Akzentsetzungen in das Bildungswesen eingebracht. Ein Kernpunkt der Reformpläne war die Integration von Hochschulbildung, Industrie und Wissenschaft. Im Rahmen dieser Kooperation sollten die Hochschulen die Betriebe mit der benötigten Anzahl von Absolventen mit bestimmten Qualifikationsprofilen „beliefern“, während die Betriebe Finanz- und Sachausstattung den Hochschulen zur Verfügung stellen sollten. Auch die Hebung des Qualitätsniveaus wurde erneut zum Ziel gesetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden den Hochschulen mehr Freiheitsspielräume für die Unterrichtsgestaltung eingeräumt und eine externe Evaluation („Attestierung“) eingeführt. Auch die Weiterbildung und Umqualifizierung gewannen an Bedeutung und dadurch sind alternative Bildungsformen, wie z. B. die „Offene Universität“ entstanden.[9]
Literatur
- Friedrich Kuebart: Von der Perestrojka zur Transformation – Berufsausbildung und Hochschulwesen in Russland und Ostmitteleuropa. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2002, ISBN 3-936522-09-X.
- Irina Grapengeter: Pädagogische Leitbegriffe in Zeitendes gesellschaftlichen Wandelsin Russland (1989-2010), Diss. Augsburg 2014
Weblinks
- Michael Lausberg: Bildungspolitik in der Sowjetunion bis 1966. Abgerufen am 1. August 2020.
Einzelbelege
- ↑ Bildungspolitik in der Sowjetunion bis 1966. Abgerufen am 1. August 2020.
- ↑ Sheila Fitzpatrick: The Commissariat of Enlightenment: Soviet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, October 1917-1921. In: Political Science Quarterly. Band 88, Nr. 1, März 1973, ISSN 0032-3195, doi:10.2307/2148675.
- ↑ Michael Lausberg: Bildungspolitik in der Sowjetunion bis 1966. Abgerufen am 1. August 2020.
- ↑ Friedrich Kuebart: Schulreform, technisch-ökonomische Modernisierung und Berufsausbildung in der Sowjetunion. In: Bildung und Erziehung. Band 40, Nr. 1, 1987, ISSN 0006-2456, S. 9–12, doi:10.7788/bue.1987.40.1.35.
- ↑ Michael Lausberg: Bildungspolitik in der Sowjetunion bis 1966. Abgerufen am 1. August 2020.
- ↑ Irina Grapengeter: Pädagogische Leitbegriffe in Zeitendes gesellschaftlichen Wandelsin Russland(1989-2010), Diss. Augsburg 2014 https://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/3000/file/Dissertation_Grapengeter.pdf S. 122-125
- ↑ Vgl. Kuebart 2002, S. 25
- ↑ Vgl. Kuebart 2002, S. 26ff.
- ↑ Vgl. Kuebart 2002, S. 25–34.
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