Prozessorientierung (Didaktik)
Prozessorientierung ist ein Fachausdruck der Unterrichtslehre. Er verdeutlicht eine didaktische Ausrichtung auf die Vorgänge und Abläufe beim Lernen und korrespondiert dabei mit dem konkurrierenden Prinzip der Zielorientierung des Unterrichts.
Historisches
Dem chinesischen Philosophen und Wanderlehrer Konfuzius (ca. 551 bis 479 v. Chr.) wird, - nach seiner Lehre stimmig, aber unbelegt, da er keine eigenen Schriften hinterließ,- die überlieferte Sentenz „Der Weg ist das Ziel“ zugeschrieben, die als vielzitierte allgemeine Volksweisheit Eingang in die deutsche Umgangssprache gefunden hat. Der Sinnspruch steht in der Regel im Kontrast zu einer überdimensionierten Ausrichtung auf ein angestrebtes Ziel und die Tendenz, es möglichst bald und störungsfrei zu erreichen.
Für den ethisch orientierten Bergwanderer, Bergsteiger und Kletterer ist nicht nur das Erreichen eines Gipfels, sondern die gewählte Route und die Art des Aufstiegs dorthin, ist also nicht das ‚Ob’, sondern das ‚Wie’ der Begehung von entscheidender Bedeutung. Für den Bergwanderer ist das Genießen des „Weges“, das Unterwegssein, der eigentliche Beweggrund für die Bergtour.[1] Die Regel gibt vor, dass der Gipfel nicht irgendwie, sondern „by fair means“, d. h. unter Schonung der Umwelt, ohne künstliche Kletterhilfen, ohne zusätzlichen Sauerstoff, Lastenträger oder Fixseile aus eigener Kraft, erreicht werden muss, um als echte bergsteigerische Leistung gezählt und gewertet werden zu können.[2]
Mit den Vordenkern des Projektunterrichts zu Anfang des 20. Jahrhundert wie John Dewey (1859-1952) oder William Heard Kilpatrick (1871-1965) kam der Gedanke in das pädagogische Geschehen, Erziehung nicht nur nach einem angestrebten Produkt auszurichten, sondern auch den Weg dorthin als wesentliche Komponente in die Bildungsbemühungen einzubeziehen. Die Prozessorientierung bekam den gleichen Rang im Erziehungsgeschehen wie das Anstreben des materiellen Endprodukts der Arbeiten.[3]
Bedeutung
Zeitgemäßer Schulunterricht erschöpft sich nicht in einer bloßen Stoffvermittlung, in der Anhäufung von Wissen und praktischen Fertigkeiten. Die aktuelle Didaktik sowie die auf ihr aufbauenden Lehrpläne verlangen einen sogenannten „Erziehenden Unterricht“. Das bedeutet, dass neben der Ausrichtung auf ein bestimmtes Unterrichtsziel, das es zu erreichen gilt, dem Weg dorthin im Lerngeschehen eine hohe Bedeutung zukommt und breiter Raum gegeben werden muss. Lernschwierigkeiten zu bearbeiten, Lernen zu lehren, Eigeninitiative zu entwickeln, Motivation aufzubauen wird zu einer eigenen Aufgabenstellung und Zielsetzung, zu einem wichtigen Baustein des langfristig angelegten erziehenden Unterrichts. Das zu leisten erfordert nicht nur sachkundige, sondern auch didaktisch-methodisch, d. h. wissenschaftlich gründlich ausgebildete Lehrkräfte. Nach den Didaktikern Warwitz/Rudolf ist die Prozessorientierung insbesondere für die Persönlichkeitsbildung und das soziale Lernen von zentraler Bedeutung:
„Das Lerngeschehen selbst kann auf diese Weise zu einem Unterrichtsziel werden. Ein Unterricht, der ausschließlich zielorientiert arbeitet, (Erwerb einer bestimmten Fertigkeit, Erstellung eines bestimmten Werks, Produkts) läuft Gefahr, den Weg zum vorgeplanten Ziel zu programmieren und die Kriterien der Ökonomie, Zweckmäßigkeit, Erfolgssicherheit und Schnelligkeit dabei voranzustellen.[…] Lernprobleme wie Auffassungsschwierigkeiten, Kooperationsmüdigkeit, Indisponiertheit, Motivationsmangel oder Wünsche und Fragen der Beteiligten, die nicht dem unmittelbaren Fortgang der Arbeit in Richtung Zielplanung dienen, müssen bei so verstandenem Lernen als Störungen gelten, die eine möglichst schnelle Beseitigung erfordern.“[4]
Beispiele
Mehrdimensionales Lernen
Lernprobleme und gruppendynamische Prozesse auf dem Weg zu einem schwierigen Lernziel erfordern komplexe Methoden, einen vielschichtigen didaktischen Zugriff, um zu effektiven Lösungen zu kommen. Produktorientierte und problemorientierte Lehrverfahren müssen miteinander korrespondieren und ineinandergreifen. Fehler und Irrtümer sind erlaubt. Es kommt auf die Art und Weise ihrer Aufarbeitung an. Wenn beispielsweise „unterwegs zum Ziel“ Versagensängste, Auffassungsprobleme, Frustrationen, Spannungen und Aggressionen in der Lerngruppe entstehen, wo Durchhaltewille, Selbstüberwindung, Frustrationsabbau, Kooperation, Hilfsbereitschaft, Sinnfindung gefragt sind, so wird das Mehrdimensionale Lernen im Rahmen der Prozessorientierung des Unterrichts, die keine Störungen, sondern nur Aufgaben und Problemstellungen kennt, die es zu lösen gilt, zu einem bedeutenden Instrumentarium. Es ermöglicht eine Differenzierung des Unterrichtsgeschehens unter Inanspruchnahme der unterschiedlichen Lernpotenziale der Lernenden und damit eine Verbesserung der Motivation und Effektivität bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben.[5][6]
Literatur
- Torsten Fischer, Jörg W. Ziegenspeck: Erlebnispädagogik. Grundlagen des Erfahrungslernens. Erfahrungslernen in der Kontinuität der historischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2008, S. 227ff.
- Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und „progressive“ Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik. Klinkhardt. Bad Heilbrunn 2011. S. 83–144.
- Uwe Multhaup, Dieter Wolff (Hrsg.): Prozeßorientierung in der Fremdsprachendidaktik. Diesterweg, Frankfurt am Main 1992.
- Siegbert Warwitz, Anita Rudolf: Das didaktische Denkbild. In: Dies.: Projektunterricht. Didaktische Grundlagen und Modelle. Verlag Hofmann, Schorndorf 1977, S. 15–20. ISBN 3-7780-9161-1.
- Siegbert A. Warwitz: Die Methoden oder Wie das Kind lernt, In: Ders.: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. 6. Auflage, Baltmannsweiler 2009. S. 50–72. ISBN 978-3-8340-0563-2.
- Corinna Weber: Interdependenzen zwischen Emotion, Motivation und Kognition in Selbstregulierten Lernprozessen: Befähigung zum lebenslangen Lernen durch Mehrdimensionalität der Lehr-Lernkonzeptionen. Diplomica. Hamburg 2012. ISBN 978-3-8428-7317-9
Einzelnachweise
- ↑ Sächsischer Bergsteigerbund: Sächsische Kletterregeln. Artikel 2.1 und 2.5 ( des vom 3. Mai 2008 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Zugriff: 25. Juli 2020
- ↑ https://www.nzz.ch/magazin/reisen/eine_frage_des_stils-1.4570064%7CWalter Aeschimann: Bergsteigen. Eine Frage des Stils.
- ↑ Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und „progressive“ Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik. Klinkhardt. Bad Heilbrunn 2011. S. 83–144.
- ↑ Siegbert Warwitz, Anita Rudolf: Das didaktische Denkbild. In: Dies.: Projektunterricht. Didaktische Grundlagen und Modelle. Verlag Hofmann, Schorndorf 1977. S. 18
- ↑ Siegbert Warwitz, Anita Rudolf: Das Prinzip des mehrdimensionalen Lehrens und Lernens. In: Dies.: Projektunterricht. Didaktische Grundlagen und Modelle. Verlag Hofmann. Schorndorf 1977. S. 15–22.
- ↑ Corinna Weber: Interdependenzen zwischen Emotion, Motivation und Kognition in Selbstregulierten Lernprozessen: Befähigung zum lebenslangen Lernen durch Mehrdimensionalität der Lehr-Lernkonzeptionen. Diplomica. Hamburg 2012.