Moloch. Das Leben des Moravagine
Moloch. Das Leben des Moravagine (französischer Originaltitel: Moravagine) ist ein Roman des französischsprachigen Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars, der erstmals im Jahre 1926 in Paris unter dem Namen Moravagine im Verlag Grasset publiziert wurde, Cendrars widmete das Werk seinem Verleger. Das Buch ist 2006 in die Reihe Schweizer Bibliothek von Das Magazin aufgenommen worden.
Der Roman schildert das Leben von Moravagine, dem letzten Spross des ungarischen Königshauses. Raymond La Science, ein junger, aufstrebender Psychiater und intradiegetischer Ich-Erzähler, berichtet von den Abenteuern, die er mit Moravagine erlebt hat und beschreibt dessen bestialische Ausschweifungen. Die Handlung spielt sich in den verschiedensten Ecken der Welt ab: Vom Geburtsort Moravagines in Ungarn über eine psychiatrische Klinik in der Schweiz nach Deutschland und weiter in das revolutionäre Russland, danach geht es über Großbritannien und den Atlantik nach Nord- und Südamerika und schließlich nach Frankreich im Ersten Weltkrieg.
Handlung
Die Geschichte beginnt im Sanatorium Waldensee bei Bern (wohl eine Anspielung auf die Klinik Waldau in Bern). Der Erzähler arbeitet dort als Assistent von Dr. Stein und trifft Moravagine auf diese Weise. Sie werden Freunde und Moravagine erzählt ihm von seiner Jugend als letzter Nachkomme des Königs von Ungarn, der machtlos im Schloss von Fejervar festgehalten und früh mit Rita verheiratet wurde. Moravagine ist so besessen von Rita, dass er ihr bei einem ihrer seltenen Besuche und der Ankündigung, dass sie ihn verlässt, den Bauch aufschlitzt. Im Alter von achtzehn wird er ins Gefängnis in Pressburg gebracht und verbringt zehn Jahre dort, bis er heimlich in das Irrenhaus Waldensee in der Schweiz geschafft wird. Der Erzähler verhilft Moravagine zur Flucht aus Waldensee. Zusammen gelangen sie über Basel nach Berlin. Dort besucht Moravagine Musikvorlesungen an der Universität, um "dem Urrhythmus" näher zu kommen, und erzählt nun auch von der Zeit, die er in Pressburg verbracht hat. Als Moravagine in Berlin zu viele Frauen umbringt, müssen die beiden wieder fliehen. Diesmal gehen sie nach Moskau, wo sie Anschluss bei einer Gruppe von Revolutionären finden und schließlich selbst bei der Revolution mitmischen. In dieser Gruppe ist auch Mascha, mit der Moravagine ein sado-masochistisches Verhältnis beginnt. Sie wird schwanger von ihm, doch dies interessiert Moravagine nicht wirklich. Als die Revolution fehlschlägt, fliehen der Erzähler und Moravagine in einem Güterzug, in dem sie Mascha, aufgehängt, mit aufgeschlitztem Bauch und heraushängendem Fötus auffinden. Danach machen sie eine Überfahrt von London über Liverpool nach New York, auf der sie einen Orang-Utan namens Olympio kennenlernen und ihre Zeit mit ihm verbringen. In den Staaten treffen sie Lathuille, der sich als Führer anbietet und ihnen eine Goldmine und ein Diamantenfeld verspricht. Als sie von Indianern verfolgt werden, helfen sie ihm und er lädt sie dann zu seiner Hochzeit in New Orleans ein. Die zukünftige Familie von Lathuille will die zwei jedoch gefangen nehmen und diesmal ist es Lathuille, der ihnen zur Flucht verhilft. Lathuille begleitet sie auf einem Schiff, das sie an der Orinokomündung in einem kleinen Faltboot absetzt. Nach einigen Wochen werden sie von Indianern angegriffen, welche Lathuille töten. Der Erzähler wird wegen seines Apothekerkastens von den Indianern für einen Zauberer und Moravagine für den Erlöser, der nach einem Monat königlichen Lebens geopfert wird, gehalten. Raymond bekommt Malaria. Moravagine bringt es fertig, zusammen mit seinem delirierenden Freund zu fliehen. Viele Frauen aus dem Stamm der Indianer sind ihnen gefolgt und jeden Abend bringt er eine von ihnen zu seinem Vergnügen und unter dem Vorwand, dass er ein Gott sei, um. Zurück in Paris beginnt Moravagine mit der Fliegerei. Er möchte mit seinem Flugzeug um die Welt fliegen, doch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommt ihm zuvor. Moravagine meldet sich freiwillig als Flieger, der Erzähler geht zur Infanterie und sie werden voneinander getrennt. Der Erzähler verliert im Krieg ein Bein und wird zusammen mit anderen Amputierten und Verwundeten jeden Donnerstag zur Erholung auf die Insel Sainte-Marguerite gebracht. Auf der Insel steht eine neurologische Klinik, die er jeden Donnerstag zu besuchen beginnt, wobei er Moravagine wiedersieht, der vollgepumpt mit Morphium und vom Wahnsinn zerfressen im Sterben liegt. Sein einziger Freund kann in seiner letzten Stunde nicht bei ihm sein. Er hinterlässt Raymond seine gesammelten Werke, welche von der Zukunft, genauer: der Menschheit im Jahre 2013, handeln. Er spricht von Leben auf dem Mars und vom 99 Jahre dauernden Krieg. Auf seinem Grabstein steht: „Hier ruht ein Fremder“.
Personen
Moravagine
Moravagine ist „klein, dunkelharig, rachitisch spindeldürr“, als ihm Raymond la Science zum ersten Mal begegnet, der jedoch rasch von seiner tiefen und ruhigen Stimme eingenommen ist. Moravigine fehlt jegliche Fähigkeit, seine Leidenschaft einzuschränken oder seinem unkontrollierten und rein dem Instinkt und Lüsten gehorchenden Benehmen Einhalt zu gebieten oder wenigstens Schranken zu setzen. Dass dies beabsichtigt ist, zeigt sich auch in seinem Namen, welcher die zwei Gegensätze in sich verbindet: Mora – la mort – der Tod, das Sterben, das Ende und le vagin – die Vagina – das Gebärende, Lebenbringende und die Lust. Er ist ein Doppelwesen, das die Zerstörung und das Leben zugleich in sich trägt und, so kann man sagen, schlussendlich daran zerbricht. Seine Kindheit war prägend für ihn, sein inneres Feuer und sein Charakter scheint er schon seit seiner Geburt zu haben. Der Mechanismus jeglichen Dinges fasziniert ihn unheimlich. Er sucht überall das Leben, den Antrieb, er ist fasziniert von den bis ins Mark disziplinierten Soldaten und deren Strammstehen im Schloss seiner Kindheit. Ein Trieb in ihm ersetzt den Sinn für das "Richtige", das "Akzeptable" oder "moralisch Korrekte". Es gibt in seiner Welt nur sein eigenes Empfinden, das eines anderen ist inexistent. Raymond ergänzt ihn und gehört auf eine Art zu ihm. Er ist kein lebenswichtiger Teil von Moravagine, sondern ein Teil seiner Welt und seines Denkens. Moravagine bringt es fertig, Raymond la Science für sich zu gewinnen und ihn mit seinem Wesen anzustecken. Neben seinem mörderischen Gemüt hat Moravagine auch eine andere Seite. Er leidet enorm unter seiner Sinnlosigkeit und Verzweiflung, die Antwort auf seine große Frage nach dem Grund seines Daseins nicht zu finden. Er stellt somit auch den Schmerz dar, der mit der Freude am Leben mitkommt. Das Leben ist für viele nicht immer schön und oft auch geprägt von einer Suche nach etwas, in dem man sich verwirklichen kann, der Suche nach einem wahren Zuhause und einer Bedeutung, einem Sinn und einer Antwort auf die Frage, weshalb man überhaupt hier ist. Er vereinigt all dies in sich und ist somit nicht einfach nur ein Moloch, ein alles verschlingendes Monster, sondern einfach sehr menschlich, auch wenn dies ein beunruhigender Gedanke ist.
Raymond la Science
Die Person Raymond la Science existierte tatsächlich und war um 1900 Mitglied einer illegalen französischen Anarchistengruppe, die Bonnot-Gang genannt, welche sich hauptsächlich durch Diebstähle und Chaosstiftung bekannt machte. Raymond la Science wurde 1913 auf die Guillotine gebracht. Im Buch selbst gibt es einen Hinweis darauf („Wir kamen in Paris an, als die Affäre Bonnot gerade zu Ende ging“). Man kann davon ausgehen, dass Cendrars sehr bewusst diesen Namen wählte. Nun ist dies ja auch nur ein Deckname für den tatsächlichen Erzähler, dessen wirkliche Identität unbekannt ist. Raymond la Science erzählt, indem er die Außensicht der anderen Charaktere und die Innensicht seiner Ich-Figur begrenzt. Er stammt aus gutem Hause und hat ein intensives Studium der Psychiatrie durchgemacht, bevor er als ehrgeiziger junger Mann in die Klinik Waldensee kommt. Der Name „la Science“ ist passend, da es zum einen auf einen Anarchisten mit einer starken Lust für Chaos und zum anderen auf die Wissenschaft, „la science“, welche sein ganzes Wesen definiert, verweist. Raymond wird in allen Handlungen von seinem Kopf und seiner Faszination für den Wahnsinn und das menschliche Unbewusste getrieben. Er legt viel Wert auf absolute Genauigkeit und Kontrolle und es macht ihn nervös, wenn er die Zeit nicht mehr im Griff hat oder sein Körper auf die Nähe einer Frau reagiert. Er denkt, wie Moravagine, nie an die Zukunft, obwohl er sehr wohl die Ursache einer Handlung voraussehen kann. Er lässt sich von Moravagine mitziehen, hat ihm sein ganzes Leben gewidmet und wäre bereit, alles für ihn zu tun. („Ich bin willenlos. Wenn er jetzt sagte, ich solle mich umbringen: ich zöge sofort meinen Revolver aus der Tasche und jagte mir eine Kugel in den Mund.“) Er gibt mehr oder weniger alles auf, um Moravagine zuerst freizusetzen und ihn dann zu begleiten, um ihn zu studieren. Im Gegensatz zu Moravagine empfindet er viel für seinen Freund. Er macht sich keine Illusionen über ihn und seine beschränkte Fähigkeit zu lieben, doch er sorgt sich um ihn. Während seiner Zeit im Ersten Weltkrieg ist es Moravagine, der ihn dazu bringt, sich aufzurappeln und sich in Sicherheit zu bringen. Sein Brief von 1924 an Blaise Cendrars, seinem Freund aus Paris und Kumpanen im Krieg (welcher zu Beginn abgedruckt ist), vermittelt weitere Informationen. Nach Moravagines Tod hat er alleine weiterhin Chaos gestiftet und sich mit Wahnsinn befasst, bis er schließlich in Spanien zum Tod verurteilt wird.
Mascha Uptschak
Mascha ist eine ungefähr 35- bis 38-jährige litauische Jüdin, die in Deutschland Mathematik studiert hat. Der Erzähler beschreibt sie als „gross, stattlich [mit einem] üppigen Busen, und auch Bauch und Hinterteil waren ziemlich umfangreich“. Neben der Tatsache, dass sie Moravagine mit ihrem politischen Ansichten und ihrem groben Gebaren auf Trab hält, ist sie auch der Grund für umfangreiche philosophische Überlegungen von Raymond über die Frau und deren Schuld an allem Übel in der Welt. Danach gibt es nur den Masochismus, die Frau selbst ist eine Masochistin und der Mann ist ihr ausgeliefert; den Sadismus an sich gibt es nicht, woraus man sehr bequem schließen kann, dass die Gleichung immer damit aufgelöst wird, dass die Frau schuld ist. Sie scheint eine Art Spielzeug zu sein und Moravagine liebt es sie zu quälen.
Olympio
Der Orang-Utan Olympio
Champcommunal und Cendrars
In Paris treffen sie auf einen weiteren komischen Kauz, den Erfinder Champcommunal, der der Grund für Moravagines Fliegerleidenschaft ist. Obwohl er selbst eigentlich nur eine Karikatur des betrunkenem, leicht verwirrten französischem Erfinders ist, ist das Auftauchen seines Gehilfen, Blaise Cendrars, überraschend und macht hellhörig. Der Leser hat nun eine Darstellung Cendrars von sich selber als Freund des Erfinders Champcommunal. In der weiteren Geschichte treffen einander Cendrars und Raymond im Lazarett wieder, da beide eine Gliedmaße verloren haben. Cendrars eigenes Erschieinen in der Geschichte ist autobiografisch, verlor er doch einen Arm im Krieg. Auch die müde und zum Teil auch bittere Sprache, welche Raymond in diesem Teil wählt, ist auf eine seltsame Weise realistischer als die Geschichte zuvor. Cendrars muss sich in dieser Zeit mit Raymond angefreundet haben, denn er wird ja derjenige sein, dem seine gesamten Dokumente und Moravagines Manuskripte zugeschickt werden.
Der Urrhythmus
Als die beiden in Deutschland sind, nimmt Moravagine an der Berliner Universität ein Musikstudium auf, da Musik für ihn eine große Bedeutung hat. In Berlin widmet er sich ganz dem Rhythmus, dem Urrhythmus, welcher alles erklären und der Welt einen Sinn geben soll. Doch er findet ihn nicht und sucht einen Ausweg, um nicht an dieser Leere und Sinnlosigkeit zu verrecken. So beginnt er junge Mädchen zu töten. Dies erfüllt ihn wieder mit Leben, heilt ihn und lässt ihn wieder zu Sinnen kommen. Dass die Musik gerade eine Antwort auf diese Fragen geben soll, scheint gar nicht einmal so weit her geholt zu sein.
Prinzip der Zweckmäßigkeit
Zu Beginn der Nordamerikareise kommt ein Kapitel, welches sich von allen anderen unterscheidet. Dadurch drängt sich die Vermutung auf, dass gar nicht Raymond, sondern vielmehr Cendrars selbst spricht. Das Kapitel „Streifzüge durch Amerika“ handelt nur von den philosophischen Gedanken und dem Prinzip der Zweckmäßigkeit, welches ganz Nordamerika bestimmt. Alles ist darauf ausgerichtet, alles hat einen Sinn und eine Gesetzmäßigkeit und alles fließt ineinander und formt ein großes Eines. Raymond redet von einem Phänomen, das wir heute Globalisierung nennen, und wie es sich auf alles auswirkt, wie die verschiedenen Kulturen sich miteinander vermengen, wie Rohstoffe und Enderzeugnisse aus aller Welt zusammenfinden und das ganze Leben und Denken dieser neuen Welt ausmachen. Die Maschinerie des Ganzen („Und das Rad dreht sich.“) fasziniert ihn genauso wie Moravagine ein einfaches Rohr oder die Toilettenspülung. Es gibt schon ein paar Parallelen zum Urrhythmus und der Suche danach: Die ganze Welt scheint in einem Puls zu leben.
Entstehung des Textes
Im Pro Domo beschreibt Blaise Cendrars, wie Moloch. Das Leben des Moravagine entstand. Die Idee war im November 1912 plötzlich in seinem Kopf und ließ ihn nicht mehr los, obwohl er danach lange Zeit nicht mehr daran dachte. Während des Krieges dachte er an nichts Anderes als Moravagine. Er war Tag und Nacht bei ihm. Doch er musste das Buch, das er schreiben wollte, auf unbestimmte Zeit verschieben. Am 31. Juli 1917 begann er mit dem Schreiben, er begann neu, schrieb abwechselnd ein Schluss- oder Anfangskapitel. Im Februar 1926 beendete er die Arbeit an seinem Buch. Dazu sagt er: „Und nun Schwamm darüber, ich hatte eben den letzten Punkt getippt, und das musste begossen werden, Teufel noch mal! Moravagine war tot. Tot und begraben.“
Bedeutung der Manuskripte Moravagines
Die Originalwerke von Moravagine, seine Unterschrift und eine Skizze von ihm sind wichtig. Denn obwohl die Manuskripte kurz und unvollständig oder besser gesagt: unverständlich sind, werden ein paar bedeutende Ideen angesprochen, die die Gestalt – und die Zeit – Moravagines noch tiefer ausleuchten.
Ausgaben
- Moravagine. Paris : Grasset, 1926.
- Moravagine: Roman. Übers. von Lissy Rademacher. München : Georg Müller 1928.
- Moravagine: Roman. Suivi de „Pro domo“: Comment j'ai ecrit „Moravagine“. Un inedit et une postface. Paris : Grasset 1957.
- Moloch. Das Leben des Moravagine. Aus d. Franz. von Lotte Frauendienst. Nachwort Rudolf Wittkopf. Düsseldorf : Rauch 1961.
- Moloch. Das Leben des Moravagine. Aus d. Franz. von Lotte Frauendienst. Zürich : Die Arche, 1975 ISBN 3-7160-2055-9.
- Moravagine. Monsterroman. Nach der Übersetzung von Lissy Rademacher, kommentiert und ergänzt von Stefan Zweifel. Berlin : Die Andere Bibliothek 2014 ISBN 978-3-8477-0352-5[1]
Literatur
- Stephen Kyrk: Blaise Cendrars' Moravagine : image, theme and symbol. Ann Arbor, Mich., Univ. of Kentucky, Diss., 1974.
- Jean-Carlo Flückiger: Sous le signe de Moravagine. Paris : Lettres Modernes Minard, 2006 ISSN 0035-2136.
- Oxana Khlopina: Moravagine. Blaise Cendrars' Schatten. Übersetzung aus dem Französischen von Barbara Traber. Bern : Stämpfli 2014 ISBN 978-3-7272-1424-0 (Gollion : Infolio, 2012).[2]
Einzelnachweise
- ↑ Ina Hartwig: Der Teppichbrandstifter als Künstler. Rezension, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2014, S. 13.
- ↑ 9783727214240/Khlopina-Oxana/Moravagine?bpmbutton73869=1&bpmtoken=#.U7_XQLSKBjo Moravagine. Blaise Cendrars' Schatten, Verlagsankündigung bei Stämpfli.