Ralf Dahrendorf
Ralf Gustav Dahrendorf, seit 1993 Baron Dahrendorf of Clare Market, (* 1. Mai 1929 in Hamburg) ist ein deutsch-englischer Soziologe, Politiker und Publizist. Er war Mitglied des Deutschen Bundestages, parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Mitglied der Europäischen Kommission und Direktor der London School of Economics.
Leben
Ralf Dahrendorf wurde 1929 als Sohn des SPD-Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf in Hamburg geboren. Er studierte Philosophie und Klassische Philologie an der Universität Hamburg und promovierte dort 1952 zum Dr. phil. mit einer Arbeit zum Marxismus. Es folgten eine zweite Promotion in Soziologie an der London School of Economics sowie die Habilitation an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken (beides 1957). Seit 1958 lehrte er zunächst als Professor für Soziologie in Hamburg, Tübingen und Konstanz.
Dahrendorf war nach dem Krieg zuerst Mitglied der SPD. In dieser Zeit kandidierte er bereits einmal auf einer regionalen Liste für die Freidemokraten. 1967 wechselte er endgültig zu dieser Partei. 1969 bis 1970 war Dahrendorf Bundestagsabgeordneter der FDP und parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Kanzler Willy Brandt, 1970 Mitglied der Europäischen Kommission in Brüssel.
Dahrendorf wurde in seinem politischen Wirken vor allem als Vordenker des Liberalismus bekannt, der maßgeblichen Anteil daran hatte, das Profil der Partei zu verändern. Zusammen mit Karl-Hermann Flach war er an der programmatischen Umgestaltung der Partei in den späten 1960ern und frühen 1970ern beteiligt. Bekannt wurde er auch durch öffentliche Diskussionen mit den Vertretern der 68er-Bewegung wie Rudi Dutschke. Kritiker werfen ihm in diesem Zusammenhang falsche Toleranz und Anbiederung vor. Dahrendorf ist heute kein FDP-Mitglied mehr und hält diese auch nicht mehr für eine liberale Partei.
Von 1974 bis 1984 war er Direktor der London School of Economics, von 1987 bis 1997 Rektor der St. Antony's College und von 1991 bis 1997 Prorektor der Universität Oxford. Er wurde von der Königin Elisabeth II. zunächst zum Sir (Ritter), dann 1993 zum Baron Dahrendorf of Clare Market als Life Peer (Peer auf Lebenszeit, das heißt nicht Mitglied des Erbadels) geadelt.
Zum Werk
Viele Schüler kennen Dahrendorfs Arbeiten durch das "Dahrendorfhäuschen": eine Darstellung der Schichtung der Bevölkerung in der BRD. Mit seiner Habilitationsschrift Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, die im Schulenstreit zwischen Marxismus und Strukturfunktionalismus einen 'dritten Weg' zu öffnen versprach, wurde er in der deutschen Soziologie bekannt, in weit stärkerem Maße (viele Auflagen der englischen Übersetzung) dann im angelsächsischen Sprachbereich.
Er führte mit dem Konzept des Homo Sociologicus auch die Rollentheorie in die deutsche Soziologie ein. Sein Übergang in die Politik während der Zeit der Studentenrevolte, der bekannten Diskussion mit Rudi Dutschke unter freiem Himmel, überraschte die Fachwelt. Er gilt als Verfechter des politischen Liberalismus. Theoretisch Interessierten ist er als Vertreter der Konfliktsoziologie, teilweise auch durch seine Beteiligung am Positivismusstreit in der deutschen Soziologie bekannt, in dem die Philosophen Karl Popper und Theodor W. Adorno in Tübingen aufeinandertrafen.
Als zeitkritischer Intellektueller publizierte er viel, darunter über die Zeit nach 1989 und über Europa.
Schriften
- Ralf Dahrendorf: Class and class conflict in industrial society. Stanford Univ. Press, Stanford 1973
- Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung: Gesellschaft u. Soziologie in Amerika. Piper, München 1962
- Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus: ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1965
- Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Piper, München 1965
- Ralf Dahrendorf: Konflikt und Freiheit: auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. Piper, München 1972, ISBN 3-492-01782-7
- Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia: Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Piper, München 1974, ISBN 3-492-00401-6
- Ralf Dahrendorf: Lebenschancen: Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1979, ISBN 3-518-37059-6
- Ralf Dahrendorf: Die neue Freiheit: Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1980, ISBN 3-518-37123-1
- Ralf Dahrendorf: Die Chancen der Krise: über die Zukunft des Liberalismus. DVA, Stuttgart 1983, ISBN 3-421-06148-3
- Ralf Dahrendorf: Fragmente eines neuen Liberalismus. DVA, Stuttgart 1987, ISBN 3-421-06361-3
- Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt: Essay zur Politik der Freiheit. DVA, Stuttgart 1992, ISBN 3-421-06539-X
- Ralf Dahrendorf: Die Zukunft des Wohlfahrtsstaats. Verl. Neue Kritik, Frankkfurt a.M. 1996
- Ralf Dahrendorf: Liberale und andere: Portraits. DVA, Stuttgart 1994, ISBN 3-421-06669-8
- Ralf Dahrendorf: Liberal und unabhängig: Gerd Bucerius und seine Zeit. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46474-2
- Ralf Dahrendorf: Über Grenzen: Lebenserinnerungen. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49338-6
- Ralf Dahrendorf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung: Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50540-6
- Ralf Dahrendorf: Der Wiederbeginn der Geschichte: vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak; Reden und Aufsätze. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51879-6
Literatur
Jürgen Kocka: Dahrendorf in Perspektive, in: Soziologische Revue, 2004 (XXVII): 151-158