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Abhängigkeit (Medizin)

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Abhängigkeit (umgangssprachlich Sucht) bezeichnet in der Medizin das unabweisbare Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und die sozialen Chancen eines Individuums.[1] In zahlreichen offiziellen und inoffiziellen Einrichtungen wird der Begriff „Sucht“ verwendet.[2]

Medizinisch und psychologischer Fachbegriff

Im offiziellen Sprachgebrauch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) existierte der Begriff Sucht von 1957 bis 1963. Danach wurde er zunächst durch Missbrauch und Abhängigkeit ersetzt.[1] Schließlich wurde nach 1969 das Missbrauchskonzept zugunsten vier definierter Klassen des Gebrauchs verworfen:[3]

  1. Unerlaubter Gebrauch ist ein von der Gesellschaft nicht tolerierter Gebrauch.
  2. Gefährlicher Gebrauch ist ein Gebrauch mit wahrscheinlich schädlichen Folgen für den Konsumenten.
  3. Dysfunktionaler Gebrauch liegt vor, wenn psychische oder soziale Anforderungen beeinträchtigt sind.
  4. Schädlicher Gebrauch hat bereits schädliche Folgen (Zellschäden, psychische Störung) hervorgerufen.

Diese Bezeichnungen haben in das ICD-10 Eingang gefunden, allerdings findet sich im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders-IV (DSM-IV) nach wie vor die Bezeichnung „Missbrauch“. Aufgrund dieser WHO-Klassifikation sind missbräuchliche und abhängige Konsummuster im sozial-rechtlichen Sinne Krankheiten mit Rechtsstatus.[4]

Der professionelle und wissenschaftliche Sprachgebrauch in den Bereichen Medizin, Psychiatrie, Psychologie und Soziale Arbeit bevorzugt mittlerweile die Formulierungen des ICD-10 und spricht von Abhängigkeit und speziell vom Abhängigkeitssyndrom für substanzgebundene Abhängigkeiten. Die Vermeidung des Terminus Sucht sollte die Stigmatisierung Erkrankter vermeiden und deutlich machen, dass es sich bei Abhängigkeiten um Krankheiten handelt. Die Begrenzung des Abhängigkeitssyndroms auf stoffliche Abhängigkeiten macht zudem auf Unterschiede zu nichtstofflichen Abhängigkeiten aufmerksam; dieser Begriff ist damit differenzierter als Sucht, welche unterschiedslos stoffliche und nichtstoffliche Abhängigkeiten umfasst.

In der American Psychiatric Association war die Ersetzung durch „Abhängigkeitssyndrom“ umstritten. Gegen die Verwendung des Suchtbegriffs wurde die damit einhergehende Stigmatisierung jener Betroffenen vorgebracht, die Medikamente, welche das Zentralnervensystem beeinflussen, einnehmen und damit nach der damals geltenden Definition als „süchtig“ galten.[5] Der Begriff Sucht wurde von der American Psychiatric Association bis 1987 im DSM-III[5] für das Abhängigkeitssyndrom verwendet.

In der Gesellschaft ist der Begriff Sucht weiterhin weit verbreitet und wird auch durch die Medien noch sehr häufig benutzt.

Formen der Abhängigkeit

In den Fachgebieten Psychologie und Psychiatrie werden verschiedene Formen von Abhängigkeit beschrieben:

Ein definitorisches Problem stellt die langfristige Therapie von chronischen Schmerzzuständen mit Opiaten dar. Hier könnte eine „Abhängigkeit“ ähnlich wie bei der Gabe von Insulin bei Diabetes bestehen.

Suchtmedizin

Die Suchtmedizin ist ein Fachbereich der Psychiatrie. Sie befasst sich mit der Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Rehabilitation von Krankheitsbildern im Zusammenhang mit dem schädlichen Gebrauch psychotroper Substanzen und substanzungebundener Abhängigkeit.

Forschungsschwerpunkte der Suchtmedizin sind

Deutschland

Seit dem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1968[6] ist mit der Alkoholabhängigkeit erstmals ein Abhängigkeitssyndrom als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt. Sie und andere Kostenträger übernehmen seither die Kosten für die Behandlung von Begleiterkrankungen der Abhängigen sowie für Leistungen zur Rehabilitation, Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.

Der erste Lehrstuhl für Abhängigkeitserkrankungen in Deutschland wurde 1999 am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim eingerichtet.

Substanzverlangen

Substanzverlangen oder Craving (engl. Begierde, Verlangen) ist ein Fachbegriff aus der Suchtmedizin. Craving oder constant craving umschreibt das kontinuierliche und nahezu unbezwingbare Verlangen eines Suchtkranken, sein Suchtmittel (Alkohol, Tabak, sonstige Drogen) zu konsumieren.[7] Craving ist das zentrale Moment des Abhängigkeits- und Entzugssyndroms. Es hat seine neurobiologische Grundlage in der Sensitivierung des Belohnungssystems im Gehirn, des mesolimbischen Systems.[8]

Auch die Gier nach fetten und süßen Speisen bei Fettleibigkeit wird als „Craving“ bezeichnet.[9][10]

Diskussion um die Bezeichnungen Sucht und Abhängigkeit

Kritik am Begriff der Abhängigkeit umfasst die sprachliche Gleichsetzung von medizinisch betreuten Patienten, mit vorrangig körperlicher Abhängigkeit (z. B. Schmerzpatienten unter Morphiumbehandlung) und auch stark psychisch Abhängigen, wie Heroinabhängigen oder Alkoholikern. Diese sei irreführend und hinderlich: Sie rufe bei Schmerzpatienten Angst vor dem Vollbild der körperlichen und psychischen Abhängigkeit hervor. Im Zuge der Ausarbeitung der aktuellen Version des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) von der American Psychiatric Association wurde über die Wiederaufnahme des Suchtbegriffs nachgedacht.[11]

Sucht in der Umgangssprache

In der Umgangssprache wird von dem Beobachter ein, seiner Meinung nach, krankhaftes, übermäßiges oder zwanghaftes Verhalten oder Gebrauch von Substanzen bezeichnet.[12] „Süchtig nach Ruhm“, „Süchtig nach Schokolade“ oder ähnliche Redewendungen sind von Definitionen der Abhängigkeit im medizinischen Sinne z. B. nach den Kriterien der WHO zu unterscheiden.

Etymologie Sucht

Das Wort „Sucht“ (germ. suhti-, ahd. suht, suft, mhd. suht) geht auf „siechen“ (ahd. siuchan, mhd. siechen) zurück, das Leiden an einer Krankheit bzw. Funktionsstörung. Im heutigen Sprachgebrauch ist das Adjektiv „siech“ (vergleiche auch engl. sick, ndl. ziek) nur noch regional gebräuchlich.

Bereits 1888 definierte Meyers Konversationslexikon „Sucht“ als ein in der Medizin veraltetes Wort, das früher ganz allgemein Krankheit (lateinisch Morbus) oder Leiden bedeutete, z. B. in Schwindsucht, Wassersucht, Fettsucht, Fallsucht, Gelbsucht und Magersucht. So war etwa ein „Wassersüchtiger“ nicht süchtig nach Wasser, sondern litt an Wassereinlagerungen (Ödemen).

Diese historischen Krankheitsbezeichnungen beschrieben meist nur das auffälligste Symptom. Der Schwindsüchtige „schwindet dahin“, im Wassersüchtigen sammelt sich Wasser, der Fettsüchtige ist zu fett, der Gelbsüchtige verfärbt sich gelb, der Trunksüchtige trinkt zu viel, der Magersüchtige ist abgemagert. Durch Verwendungen wie Tobsucht und Mondsucht wurde Sucht auch als krankhaftes Verlangen verstanden.[13] Daraus entstand im 20. Jahrhundert der moderne Suchtbegriff im Sinne von Abhängigkeit. Anfänglich bezog er sich, bei C. v. Brühl-Cramer 1819, nur auf die Trunksucht (Alkoholkrankheit).[14] Später wurden auch andere Abhängigkeiten als Sucht bezeichnet. So ist seit 1829 bei Christoph Wilhelm Hufeland die „Opiumsucht“ – im 18. Jahrhundert noch „Knechtschaft“ (servitus) genannt – belegt.[15]

Das mittelhochdeutsche Kollektivum Gesücht bzw. gesühte (auch gesucht) bezeichnete anfallsweise wiederkehrende Leiden wie die Fallsucht bzw. Epilepsie, Gicht bzw. Arthritis usw.[16][17]

Literatur

Siehe auch

Portal: Drogen – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Drogen
Portal: Psychologie – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Psychologie
Portal: Geist und Gehirn – Übersicht zu Wikipedia-Inhalten zum Thema Geist und Gehirn

Einzelnachweise

  1. a b Sucht. In: Lexikon online für Psychologie und Pädagogik
  2. Zum Beispiel das „Projekt Suchtforschung“ des Bundesbildungsministeriums (Memento vom 31. Januar 2009 im Internet Archive), die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin und die Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie
  3. Stieglitz u. a.(Hrsg.): Kompendium. Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin. Karger, Basel 2002.
  4. Ruthard Stachowske: Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen. (PDF) Jugendhilfe Lüneburg gGmbH / Universitätsklinik Ulm, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 27. April 2014; abgerufen am 16. Mai 2019 (1,42 MB).
  5. a b Robin L. Fainsinger, Vincent Thai, Gary Frank, Jean Fergusson: What’s in a Word? Addiction Versus Dependence in DSM-V. (Memento vom 5. Februar 2012 im Internet Archive)
  6. Aktenzeichen 3 RK 63/66
  7. M. Haney: Self-administration of cocaine, cannabis and heroin in the human laboratory: benefits and pitfalls. In: Addiction Biology. Band 14, Nr. 1, Januar 2009, S. 9–21, doi:10.1111/j.1369-1600.2008.00121.x, PMID 18855806, PMC 2743289 (freier Volltext).
  8. J. D. Steketee, P. W. Kalivas: Drug wanting: behavioral sensitization and relapse to drug-seeking behavior. In: Pharmacological reviews. Band 63, Nummer 2, Juni 2011, S. 348–365, doi:10.1124/pr.109.001933, PMID 21490129, PMC 3082449 (freier Volltext) (Review).
  9. K. J. Steffen, S. G. Engel, J. A. Wonderlich, G. A. Pollert, C. Sondag: Alcohol and Other Addictive Disorders Following Bariatric Surgery: Prevalence, Risk Factors and Possible Etiologies. In: European eating disorders review: the journal of the Eating Disorders Association. Band 23, Nummer 6, November 2015, S. 442–450, doi:10.1002/erv.2399, PMID 26449524 (Review), researchgate.net (PDF)
  10. N. M. Avena, P. Rada, B. G. Hoebel: Evidence for sugar addiction: behavioral and neurochemical effects of intermittent, excessive sugar intake. In: Neuroscience and biobehavioral reviews. Band 32, Nummer 1, 2008, S. 20–39, doi:10.1016/j.neubiorev.2007.04.019, PMID 17617461, PMC 2235907 (freier Volltext) (Review).
  11. C. O’Brien, N. Volkow, T. Li: What’s in a word? addiction versus dependence in DSM-V. In: American Journal of Psychiatry. 2006; 163, S. 764–765 Volltext (Memento vom 31. August 2009 im Internet Archive) mit zahlreichen Hinweisen auf offizielle Stellen, die den Begriff Sucht verwenden.
  12. Sucht. In: Duden, Begriffsdefinition.
  13. Duden, Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache.
  14. Claudia Wiesemann: Sucht. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1365 f.; hier: S. 1365.
  15. Andreas-Holger Maehle: Selbstversuche und subjektive Erfahrung in der Opiumforschung des 18. Jahrhunderts. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 13, 1995, S. 287–297, hier: S. 292.
  16. Max Höfler: Deutsches Krankheitsnamen-Buch. Piloty & Loehle, München 1899 (Reprografischer Nachdruck: Olms, Hildesheim / New York 1970 und 1979, ISBN 1-174-35859-9), S. 706.
  17. Vgl. auch Jürgen Martin: Die ‚Ulmer Wundarznei‘. Einleitung – Text – Glossar zu einem Denkmal deutscher Fachprosa des 15. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 52), ISBN 3-88479-801-4 (zugleich Medizinische Dissertation Würzburg 1990), S. 132.