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Günter Wallraff

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Günter Wallraff auf einer Podiumsdiskussion bei den Jugendmedientagen 2006

Hans-Günter Wallraff (* 1. Oktober 1942 in Burscheid bei Köln) ist ein deutscher Investigativ-Journalist der in den 60er/70er Jahren durch seine unkonventionellen Reportagen zur Arbeitsweise und den Arbeitsbedingungen von Firmen wie Gerling, Thyssen, McDonalds und der Zeitung BILD bekannt wurde. Für seine Recherchen arbeitete Wallraff teilweise mehrere Monate bis Jahre als Firmen-Mitarbeiter unter falscher Identität.

Kindheit und Jugend

Günter Wallraff wurde am 1. Oktober 1942 in Burscheid bei Köln geboren. Sein Vater arbeitete bei Ford in Köln, seine Mutter stammte aus bürgerlichen Verhältnissen, ihre Eltern besaßen ein Klaviergeschäft. Nach dem Besuch des Gymnasiums bis zur Mittleren Reife machte er eine Buchhändlerlehre und wurde Buchhändler. Noch in den 50er Jahren begann er zu schreiben - zunächst kurze Gedichte, von denen er einige 1960/61 in der Flugschrift für Lyrik veröffentlichte.

Kriegsdienstverweigerung

Günter Wallraff war einer der ersten Deutschen, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigerten. 1963 wurde er gemustert und zur Bundeswehr eingezogen. Sein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung wurde abgelehnt. Aufgrund seiner Weigerung, eine Waffe in die Hand zu nehmen, wies man ihn zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts Koblenz ein. Um in einer Umgebung, die ihn für verrückt hielt, überleben zu können, schrieb er ein Tagebuch - auch in der Hoffnung, seine Erfahrungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Seine erste, allerdings noch unfreiwillige Rolle, die des Wehrdienstverweigerers und Psychiatrie-Patienten, war für ihn ein Schlüsselerlebnis und bildete den Ausgangspunkt seiner späteren Arbeiten. Er wurde später als „Für Krieg und Frieden untauglich“ aus der Bundeswehr entlassen.

Industriereportagen

Bekannt wurde er mit seinen Industriereportagen, welche 1966 unter dem Titel „Wir brauchen dich“ erschienen. Dieses Buch beruht auf seinen Erlebnissen als Arbeiter an verschiedenen Orten von 1963 bis 1965, unter anderem in einer Sinteranlage eines Stahlwerks von Thyssen. Den Studenten der 68er-Bewegung lieferten die Reportagen Erfahrungen aus der Arbeitswelt in Buchform.

Als „Hans Esser“ bei Bild-Hannover

1977 arbeitete Wallraff vier Monate lang als Redakteur „Hans Esser“ bei der Bild-Zeitung in Hannover. In dem noch im gleichen Jahr erschienenen Buch Der Aufmacher (Der Mann der bei BILD Hans Esser war) schilderte er seine Erfahrungen in der Redaktion, die Manipulationen, Verfälschungen und zum Teil menschenverachtenden Recherchemethoden des Blattes. Wallraff selbst soll später von Springermitarbeitern abgehört worden sein. Dem Buch folgte eine Hetzkampagne durch BILD und weitere Zeitungen des Springer-Verlages. Die Ausstrahlung des 1977 für den WDR produzierten Dokumentarfilms Informationen aus dem Hinterland wurde nach dessen Fertigstellung auf Betreiben der Axel Springer AG durch den damaligen Fernsehdirektor Heinz Werner Hübner verboten[1]. 1979 erschien das Buch Zeugen der Anklage, in dem Opfer von BILD zu Wort kommen. 1981 folgte das BILD-Handbuch. Das BILD-Handbuch bis zum BILDausfall.

Bis 1981 klagte die Bildzeitung gegen Wallraff und unterlag letztlich in allen Instanzen bis zum Bundesgerichtshof. Die in Folge angestrengte Verfassungsbeschwerde führte 1983 gar zu einem Grundsatzurteil durch das Bundesverfassungsgericht in Wallraffs Sinne. Nicht zuletzt deshalb kann Wallraff bis heute, nicht ohne Stolz, sagen, dass ihn „bei der Bildzeitung immer noch einige Redakteure von Grund auf hassen“.

1981 endete die vom Springer-Konzern mit dem Ziel des Verbotes von Der Aufmacher eingeleitete Prozesskette vor dem Bundesgerichtshof mit einem Erfolg für Günter Wallraff. Das Gericht bescheinigte ihm das Recht, seine Erfahrungen in der BILD-Redaktion zu veröffentlichen, da sich sein Buch mit „gewichtigen Mißständen“ befasse und „Fehlentwicklungen eines Journalismus aufzeige“, an deren Erörterung die Allgemeinheit „in hohem Maße“ interessiert sein müsse. Gegen dieses Urteil legte der Springer-Konzern eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Dessen Grundsatzurteil, das 1983 erging, bestätigte jedoch den Spruch des Bundesgerichtshofs.

1985 erschien Günter Wallraffs BILDerbuch, das eine Zusammenstellung von BILD-Schlagzeilen darstellt.

1987 behauptete der Journalist Hermann L. Gremliza, Teile des Buches Der Aufmacher anstelle von Wallraff geschrieben zu haben[2].

Als „Ali“ bei Thyssen

Im März des Jahres 1983 entschied sich Wallraff am eigenen Leib zu erfahren in welcher Art in Deutschland mit Ausländern umgegangen wird. Er gab sich als Türke Ali aus und arbeitete bei einem Subunternehmer von Thyssen. Den Umgangston, die Steuerspartricks der Firmen im Umgang mit Ausländern, die Verletzung einfacher Arbeitsschutzregeln hatte so drastisch noch niemand beschrieben. Sein Buch „Ganz unten“ verkaufte sich über 3 Millionen mal und es erschienen Übersetzungen in mehr als 30 Ländern.

Stasi-Beschuldigungen

Im September 2003 wurden nach Einsichtnahme der BStU in die „Rosenholz-Akten“ Wallraff Verbindungen zum Staatssicherheitsdienst der DDR in den 1960er Jahren nachgesagt. Wallraff bestreitet, jemals aktiv für die Stasi gearbeitet zu haben. Am 17. Dezember 2004 entschied das Landgericht Hamburg aufgrund einer Klage Günter Wallraffs gegen den Springer-Verlag, der ihn mehrfach als IM und Stasi-Mitarbeiter bezeichnet hatte, dass durch die vorgelegten Dokumente der Verlag keinen Nachweis für seine Behauptungen erbringen konnte und diese deshalb zukünftig nicht wiederholen darf. Am 10. Januar 2006 bestätigte das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg endgültig ein Urteil gegen den Springer-Verlag, mit dem ihm verboten wird, Günter Wallraff als Mitarbeiter der Staatssicherheit zu bezeichnen.

1980 übersetzte Wallraff zusammen mit anderen deutschen Künstlern wie Diether Dehm, Wolf Biermann, Hannes Wader, Henning Venske, Dieter Hildebrandt und Hanns Dieter Hüsch die Texte der niederländischen Band Bots für das Album Aufstehn ins Deutsche. Unter anderem entstand daraus der Hit Sieben Tage lang.

Kritik

Wallraff wurde bekannt durch seine aufsehenerregende Art der Recherche. Dieser Recherchestil baut auf dem persönlichen Erleben durch Einschleusung in das unmittelbare Kernumfeld des Reportage-Ziels auf. Wallraff gab sich jeweils eine fiktive Identität und war nicht als Journalist zu erkennen. Auf diese Weise entstanden Bücher, welche soziale Missstände anprangern und die versuchen, neue Einblicke in die Funktionsweise der Gesellschaft zu vermitteln. Von den Betroffenen wird Wallraff für seinen Recherchestil häufig kritisiert, da sie ihr Persönlichkeitsrecht verletzt oder auch sogenannte Betriebsgeheimnisse in Gefahr sahen. Häufig wurde deshalb versucht, Wallraffs Recherchestil zu unterbinden. Vor allem die Bild-Zeitung versuchte dieses nach Wallraffs dortigen Recherchen. Das Vorgehen von Wallraff wurde jedoch immer wieder von Gerichten als verfassungsgemäß angesehen. Zugunsten von Wallraffs Vorgehen sprechen nach Auffassung der Gerichte insbesondere die Pressefreiheit und das überwiegende Interesse der Allgemeinheit insbesondere in Bereichen, die die öffentliche Meinungs- und Willensbildung betreffen. Aus der Abwägung mit den widerstreitenden Interessen der unmittelbar Betroffenen folgt allerdings, dass z.B. keine privaten Gespräche veröffentlicht werden dürfen.

Für den Recherchestile von Walraff verwendet man in Schweden das eigene Verb „wallraffa“, das sogar in die aktuelle Ausgabe der Wortliste der Schwedischen Akademie aufgenommen wurde.[3]

Werke

  • Wir brauchen dich. Als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben. (1966) ISBN B0000BU1CE
  • Industriereportagen. Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben. (1970) ISBN 3-462-02143-5
  • Vorläufiger Lebenslauf nach Akten und Selbstaussagen des Stefan (1968) ISBN B-0000B-UCG-B
  • Meskalin - Ein Selbstversuch. Mit Original-Offsetlithographien von Jens Jensen. (1968) ISBN B-0000B-U1C-B
  • Nachspiele. Szenische Dokumentation. (1968) ISBN 3-923306-02-4
  • 13 unerwünschte Reportagen (1969) ISBN 3-462-03174-0
  • Hängt den D. auf! Ein nicht gesendetes Fernsehspiel. In: Blätter für deutsche und intemationale Politik, Heft 10, S.1110-1120 (1969)
  • Von einem, der auszog und das Fürchten lernte. Bericht, Umfrage, Aktion. Aus der unterschlagenen Wirklichkeit. (1970) ISBN 3-921040-01-9
  • Neue Reportagen, Untersuchungen und Lehrbeispiele. (1972) ISBN 3-462-00856-0
  • Was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch. Chronik einer Industrieansiedlung. Zusammen mit Jens Hagen. (1974) ISBN 3-453-43066-2
  • Ihr da oben, wir da unten. Zusammen mit Bernt Engelmann (1975) ISBN 3-462-02376-4
  • Wie hätten wir's denn gerne? Untemehmenstrategen proben den Klassenkampf. Zusammen mit Bernd Kuhlmann. (1975) ISBN 3-87294-325-1
  • Unser Faschismus nebenan. Griechenland gestern - ein Lehrstück für morgen. Zusammen mit Eckart Spoo. (1975) ISBN 3-462-01035-2
  • Die Reportagen. (1976) ISBN 3-462-01128-6
  • Aufdeckung einer Verschwörung. Die Spinola-Aktion. Zusammen mit Hella Schlumberger. (1976) ISBN 3-462-01180-4
  • Berichte zur Gesinnungslage der Nation/Berichte zur Gesinnungslage des Staatsschutzes. Zusammen mit Heinrich Böll. (1977) ISBN 3-499-17134-1
  • Der Aufmacher - Der Mann, der bei "Bild" Hans Esser war. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1977, ISBN 3-462-02663-1
  • Zeugen der Anklage. Die ‚BILD‘- beschreibung wird fortgesetzt. (1979) ISBN 3-462-01540-0
  • Das "Bild"-Handbuch. Das Bild-Handbuch bis zum Bildausfall. (1982)
  • Bild-Störung. Ein Handbuch. (1985) ISBN 3-462-01676-8
  • Die unheimliche Republik. Politische Verfolgung in der Bundesrepublik. Zusammen mit Heinrich Hannover. (1982)
  • Nicaragua von innen (1983) ISBN 3-922144-34-9
  • Mein Lesebuch (1984) ISBN 3-596-25794-8
  • Bericht vom Mittelpunkt der Welt. Die Reportagen. (1984) ISBN 3-462-01645-8
  • Befehlsverweigerung. Die Bundeswehr- und Betriebsreportagen (1984) ISBN 3-462-01644-X
  • Enthüllungen. Recherchen, Reportagen und Reden vor Gericht. Mit einem Nachwort von Oskar Negt. (1985) ISBN 3-88243-219-5
  • Ganz unten Beschreibung des Schicksals von illegal eingeschleusten Arbeitern. (1985) ISBN 3-462-01924-4
  • Günter Wallraffs BILDerbuch. Nachwort von Heinrich Böll. (1985)
  • Predigt von unten. (1986) ISBN 3-88243-063-X
  • Reportagen 1963-1974. Mit Materialien und einem Nachwort des Autors. (1987) ISBN 3-462-01796-9
  • Vom Ende der Eiszeit und wie man Feuer macht. Aufsätze, Kritiken, Reden. Mit einem Vorwort von Prof.Dr. Hans Mayer. (1987) ISBN 3-462-01845-0
  • Akteneinsicht (1987)
  • Und macht euch die Erde untertan. Eine Widerrede. (1987) ISBN 3-88243-084-2
  • Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen. (1988) ISBN 3-462-02193-1
  • Wallraff war da. Ein Lesebuch von Günter Wallraff. (1989) ISBN 3-88243-116-4
  • Mein Tagebuch aus der Bundeswehr. Mit einem Beitrag von Flotillenadmiral Elmar Schmähling und einem Dialog zwischen Günter Wallraff und Jürgen Fuchs. (1992) ISBN 3-462-02206-7
  • Ich - der Andere. Reportagen aus vier Jahrzehnten. (2002) ISBN 3-462-03167-8

Preise und Auszeichnungen

  • 1968 Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für „Industriereportagen“
  • 1979 Gerrit-Engelke-Literaturpreis der Stadt Hannover
  • 1983 Monismanienpreis / Göteborgs Nation und Universität Uppsala (S)
  • 1984 Carl von Ossietzky-Medaille
  • 1985 Literaturpreis der Menschenrechte (Frankreich) zusammen mit James Baldwin
  • 1987 British Academy Award / of Film and Television Art
  • 1987 Französischer Medienpreis Prix Jean d'Arcy für den Film „Ganz unten“

Filme

  • Roland Gall, Günter Wallraff: Ermittlungen gegen Unbekannt. Fritz Wagner Filmproduktion, 1973/1974
  • Informationen aus dem Hinterland. 1977, 78 Min (Dokumentation zu den Recherchen bei Bild-Hannover)
  • Knoblauch, Kölsch und Edelweiß. 1981, (Dokumentation zu Wallraffs Wohnviertel Köln-Ehrenfeld)
  • Jörg Gförer, Günter Wallraff: Ganz unten. KAOS Film- und Videoteam GmbH (Köln)/Pirat-Film (Köln)/Radio Bremen (RB), 1985, (Wallraffs Erfahrungen als türkischer Gastarbeiter Ali bei Thyssen)

Quellen

  1. Peter Kleinert: Zensierte Filme ins WDR-Programm Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 24 vom 27. Dezember 2005
  2. Jan Süselbeck: Ali im Rosenholz jungle world, Nr. 38 vom 10. September 2003
  3. Dennis Kittler: Sprachliches Denkmal für Günter Wallraff. Leo, 16. Mai 2006