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Pyromanie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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ICD-10-Code Pyromanie: F63.3
Unter F63 "Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle"

Begriff

Der Begriff "Pyromanie" (von griech. πυρος (pyros) = Feuer, μανια (mania) = Raserei, siehe Manie) enstammt der Monomanielehre des frühen 19. Jahrhunderts. Diese Lehre lehnt die Psychiatrie und insbesondere die forensische Psychiatrie seit Anfang des 20. Jahrhunderts entschieden ab.

Begriffsgeschichte

Der Begriff entstammt der Monomanielehre der französischen Psychiater Jean Etienne Dominique Esquirol und Charles Chretien Henry Marc.

Neben der „Monomanie des Diebstahls“ wurden „Monomanien“ zu praktisch jedem denkbaren auffälligem bzw. delinquenten menschlichen Verhalten beschrieben: „hypochondrische Monomanie“, „religiöse Monomanie“, „erotische Monomanie“, „Selbstmordmonomanie“, „Mordmonomanie“, „Monomanie des Reichthums, Ergeizes, Stolzes“, „ascetische, religiöse Monomanie“, „Dämonomanie“, „Erotomanie“, „Monomanie aus Nachahmung“, etc.;



Deutsche Entsprechungen des Begriffs

Der Begriff bedeutet zunächst "Monomanie der Brandstiftung". Im deutschen Sprachraum werden u.a. folgende Entsprechungen gefunden:

  • "pathologische Brandstiftung"
  • "triebhafte Brandstiftung"
  • "süchtiges Bradstiften"
  • "zwanghaftes Brandstiften"

Ablehnung des Begriffs in der forensischen Psychiatrie

Aufgrund der bis zur Beliebigkeit reichenden konzeptionellen Unschärfe wurde die Monomanielehre bereits im ausgehenden 19.Jahrhundert von der Psychiatrie verworfen; ihre einzelnen Kategorien (z.B. auch die „Pyromanie“) werden als „kriminalpsychiatrische Kunstprodukte“ (Birnbaum 1926) abgelehnt. Auch die jüngste forensische Psychiatrie lehnt die Monomanielehre und den untrennbar mit ihr verbundenen Begriff "Pyromanie" völlig ab, da hiermit sozial störendes und delinquentes Verhalten in „unangemessener Weise monosymptomatisch zu Krankheitsbildern hochstilisiert wurde, [...], und damit im Zirkelschluss nahe legte, dass entsprechende Verhaltensweisen als krankhaft einzustufen seien“ (Venzlaff & Pfäfflin 2005, Janzarik 1974, Mundt 1986).

Übernahme des Begriffs in die Internationale Klassifikation psychischer Störungen

Überreste der Monomanielehre finden sich noch in der ICD-10 im Kapitel F63 („Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“), u.a. mit der Kategorien F63.3 „pathologische Brandstiftung [Pyromanie]“. Trotz der fragwürdigen Übernahme in moderne Klassifikationssysteme (auch ins DSM-IV)(Kritische Übersicht bei Müller), wird der Begriff durch die forensische Psychiatrie vehement abgelehnt (Venzlaff & Pfäfflin 2005).

Populärwissenschaftliche Rezeption des Begriffs

In populärwissenschaftlichen Zusammenhängen, in Feuilletons oder gerade auch im Internet taucht der Begriff immer wieder auf, i.d.R. mit der mehr oder weniger offen formulierten Frage, ob hier nicht eine psychische Störung vorliegen könne. Als Beispiel möge die Vorversion des vorliegenden Wikipedia-Artikels dienen:

Zitat

"Als "Pyromanie" wird der krankhafte Zwang bezeichnet, Feuer zu legen oder dies zu versuchen. In der ICD-10-Klassifikation wird die Pyromanie zu den Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle gezählt. Hier werden allgemein eine Reihe von Zuständen zusammengefasst, bei denen das Verhalten der betroffenen Personen offensichtlich unkontrolliert und unangemessen ist. Kleptomanie (pathologisches Stehlen), Trichotillomanie (pathologisches Haarezupfen), pathologisches Spielen und andere nicht näher bezeichnete entsprechende Verhaltensweisen werden hier angeführt.


Ausgeschlossen werden jene Fälle von Brandstiftung, die als Folge anderweitiger Störungen erfolgen. Hier sind u.a. Störungen des Sozialverhaltens, Handlungen unter Einfluss von Alkohol und anderen psychotropen Substanzen, organische psychische Störungen und die Schizophrenie zu nennen.


Kriterien Pyromanie ist ein klar umrissenes Krankheitsbild. Im "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders", dem international gültigen Diagnosekatalog der Psychiatrie, finden sich eindeutige Kriterien:

  • Die bewusste und vorsätzliche Brandstiftung in mehreren Fällen.
  • Große Anspannung und Erregung vor der Tat.
  • Großes Interesse an Feuer und allem was damit zu tun hat.
  • Freude oder Erleichterung während der Brandstiftung
  • Die Brandstiftungen wurden nicht aus finanziellen Gründen, Rachegelüsten etc. gelegt.


Verbreitung Pyromanie ist insgesamt eher selten, kommt aber unter Brandstiftern relativ häufig vor. In einer großen Studie in den USA fanden sich unter 1145 erwachsenen männlichen Brandstiftern 39 % mit einer Pyromanie. Bei Frauen ist sie kaum vorhanden.

Oftmals wird angenommen, dass besonders viele Brandstifter selber Mitglied in einer Feuerwehr sind. So haben Pyromanen aufgrund ihrer Krankheit sicher eine gesteigerte Motivation, in eine Feuerwehr einzutreten, doch wird versucht, dies durch eine geeignete soziale und strafrechtliche (Führungszeugnis) Mitgliederauswahl zu verhindern. Auch eine Kontrolle innerhalb der sozialen Gruppen der Feuerwehr verhindert solche Tendenzen. Jedoch ist dieses Problem keine Besonderheit der Feuerwehr – auch andere Gruppen könnten ähnliche Anziehungspunkte für nicht geeignete Mitglieder darstellen (vgl. Vorurteile: Schützenverein, Bundeswehr). Deshalb ist ein professioneller und differenzierter Umgang mit dem Thema notwendig.

Behandlung Die Behandlung erfolgt psychotherapeutisch und verhaltenstherapeutisch."

Literatur

  • Karl Birnbaum: Die psychopathischen Verbrecher. Thieme, Leipzig 1926.
  • Horst Dilling u.a. (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F); klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber, Bern 2006, ISBN 3-456-84286-4
  • Jean Etienne Dominique Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Hartmann, Leipzig 1827.
  • Jean Etienne Dominique Esquirol: Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde. Voß, Berlin 1838 (2 Bde.)
  • Werner Janzarik: Themen und Tendenzen in der deutschsprachigen Psychiatrie. Springer, Berlin 1974.
  • Charles Chretien Henry Marc: Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Rechtspflege Voß, Berlin 1843/1844 (2 Bde.)
  • André Matthey: Nouvelles recherches sur les maladies de l’esprit précédées considérations sur les difficulté de l’art de guérir. Paschoud, Paris, 1816.
  • Tobias Müller: Störungen der Impulskontrolle – Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Rolf Baer u.a. (Hrsg.): Wege psychiatrischer Forschung. Perimed, Erlangen 1991, ISBN 3-88429-390-7
  • Henning Saß u.a.: Diagnostische Kriterien des diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen. DSM-IV-TR. Hogrefe, Göttingen 2003, ISBN 3-8017-1661-9
  • Ulrich Venzlaff, Friedemann Pfäfflin: Persönlichkeitsstörungen und andere abnorme seelische Entwicklungen. In: Klaus Foerster (Hrsg.): Psychiatrische Begutachtung. Elsevier, München 2004, ISBN 3-437-22900-1