Individualpsychologie
Der Begriff Individualpsychologie wurde von dem österreichischen Arzt
Alfred Adler (1870 - 1937) geprägt.
Adler zählt neben Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu den bedeutendsten Vertretern der Tiefenpsychologie. Adler arbeitete anfangs mit Sigmund Freud zusammen. Nach dem Bruch mit Freud
entwickelte Adler die Individualpsychologie in Konkurrenz zur Freudschen
Psychoanalyse.
Während bei Freud die Frage nach dem Grund (Kausalität) im Vordergrund steht, betont Adler die Notwendigkeit, nach dem Zweck von Symptomen wie Lebensäußerungen insgesamt (Finalität) zu fragen.
Die Kernbegriffe der Individualpsychologie sind
- Organminderwertigkeit
- Minderwertigkeitskomplex bzw. Überlegenheitskomplex
- Kompensation
- Lebensplan/Lebensstil/Lebensschablone
Nach Ansicht der Individualpsychologie versucht jeder Mensch, die im Kleinkindalter erlebte Minderwertigkeit durch ein Streben nach Vollkommenheit auszugleichen (zu kompensieren). Deshalb habe sich jeder seit seiner Kindheit eine bevorzugte Leitlinie (bzw. einen geheimen Lebensplan) zurechtgelegt, wie er dieses Ziel erreichen wolle. Die vier Grundmuster der Leitlinien sind:
- konstruktiv-aktiv ("Ich muss Erfolg haben");
- konstruktiv-passiv ("Ich muss mich für andere aufopfern", "Ich muss charmant sein");
- destruktiv-aktiv ("Ich muss opponieren", "Ich muss es den anderen heimzahlen");
- destruktiv-passiv ("Ich muss meine Schwäche demonstrieren", "Ich muss faul sein").
Dass die destruktiven Leitlinien kontraproduktiv sind, liegt auf der Hand, doch ist nach Adler auch die konstruktiv-aktive Leitlinie gefährlich, wenn sie zu "vertikalem Streben" führt (d. h. zu Machtstreben bzw. zu dem Wunsch, die als Kleinkind erlebte Minderwertigkeit auszugleichen, indem man andere dominiert). Die Lebensaufgabe des Menschen besteht daher nach Ansicht der Individualpsychologie darin, das vertikale in ein "horizontales Streben" zu verwandeln, das sich durch Gemeinschaftsgefühl auszeichnet. Sinn habe menschliches Leben also dann, wenn das Streben nach Vollkommenheit unter dem "Leitstern des Wohles der Allgemeinheit" stehe (Alfred Adler, Der Sinn des Lebens, 1933).
Nach Adler entwickelt sich der Lebensstil durch soziale, physiologische und psychologische Bedingungen. Damit bereitete er erstmals, wenn auch in geringem Umfange, der Sozialpsychologie, bzw. der environmentalistischen Psychologie, Anerkennung. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die Entwicklung des Lebensstils ist für Adler die Familie. Werden Kinder verwöhnt, so droht ein Mangel an Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Solche Kinder neigen dann später dazu, stets nach Zuneigung zu suchen und ihr ganzes Leben auf (die eigene) Bemutterung auszurichten. Abgelehnte Kinder entwickeln hingegen ein beachtliches Maß an Selbstständigkeit, das jedoch vornehmlich auf Eigennutz und nicht auf Gemeinschaftssinn beruht.
Die Theorie Adlers beeinflusste sowohl die Psychotherapie als auch die Pädagogik, sowie die Neopsychoanalyse.
Das wohl bekannteste Werks von C.G. Jung hinsichtlich der Individualpsychologie dürften die Psychologischen Typen (1921) sein. Darin beschreibt er vier Hauptfunktionen (Denken, Fühlen, Sensorik und Intuition), die, kombiniert mit den Attributen Intro- und Extroversation, acht Funktionen ergeben. Auf diesem System bauen MBTI, Keirsey Temperament Sorter sowie die Sozionik auf. Letztere Systeme sind vor allem bei Laien und Psychonauten beliebt, werden aber akademisch nicht gelehrt und stoßen häufig auf Kritik.
Literatur
- Alfred Adler: Theorie und Praxis der Individualpsychologie (Fischer-Taschenbuch)
- Rainer Schmidt (Hrg): Die Individualpsychologie Alfred Adlers, Frankfurt: Fischer TB, 1989
- Bernhard Handlbauer, Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers, Geyer-Edition, Wien-Salzburg, 1984
- Alfred Adler: Individualpsychologie und dialektische Charakterkunde, Frankfurt: Fischer TB; 1974
- Dreikurs, Rudolf: Grundbegriffe der Individualpsychologie, 2002 (Dreikurs gelingt es, die Grundbegriffe der Adlerschen Individualpsychologie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.)
Weblinks
- Österreichischer Verein für Individualpsychologie
- Individualpsychologie in Österreich Informationen zur Individualpsychologie und Liste der Psychotherapeuten
- Alfred Adler die Individualpsychologie