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Bibliothek im Eis

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Im nördlichen Weddelmeer, auf dem Ekström-Schelfeis (70° 39’ Süd, 08° 15’ West), befindet sich die Deutsche Forschungsstation Neumayer. Aus technischen Gründen ist die Station unter dem Eis erbaut. Funktional ausgestattet und neonbeleuchtet sind die Arbeits- und Lebensräume der 9 Wissenschaftler, die dort 15 Monate überwintern. Kein Tageslicht dringt in die Station, kein Fenster eröffnet den Blick in die Weite der Antarktis.

In unmittelbarer Nähe zur Forschungsstation steht seit Winter 2003/04 die Bibliothek im Eis auf dem Eis, ein Kunstprojekt, eine Skulptur des Künstlers Lutz Fritsch.

Lutz Fritsch, geb. 1955, lebt in Köln und arbeitet als Künstler mit farbigen Skulpturen im Innen- und Außenraum; seine Fotografien zeigen den unmittelbaren Blick des Bildhauers auf räumliche Zustände, urbane Situationen, während seine Zeichnungen mit dem gesehenen und erlebten Raum umgehen. Die farbigen Skulpturen strukturieren vorhandene Räume und definieren neue Räume. Mit den Außenskulpturen irritiert Lutz Fritsch den Blick, zeigt immer Übersehenes, lässt lang Vertrautes bewusst werden, bildet neue Orte des Geschehens. So bilden die Skulpturen Orientierungspunkte, Landmarken im urbanen Raum, wie z.B. Rheinorange an der Mündung von Rhein und Ruhr in Duisburg oder Der Stand der Dinge in Pforzheim.

Im Winter 1994/95 nahm Lutz Fritsch als Künstler zusammen mit Naturwissenschaftlern an der Expedition ANT-XII-2 des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven, in die Antarktis teil. Ziel war die Deutsche Forschungsstation Neumayer. Dort angekommen erforschte Lutz Fritsch die Weite, Beschaffenheit und Befindlichkeit dieses Extremraumes. Er erlebte die Maßstabslosigkeit, die Unwirtlichkeit der Antarktis sowie die Enge und Funktionalität der unter dem Eis erbauten Station. "Mich faszinierte die Weite, die Maßstabslosigkeit des Naturraums, die Ästhetik der dem Eis innewohnenden Kräfte sowie der Kontrast zwischen der Zivilisations-Geschwindigkeit und der Langsamkeit und scheinbaren Raum-Zeitlosigkeit dieses Naturraums am Ende der Welt", so Fritsch. In diesem Spannungsfeld entstand die Idee für einen speziellen Raum auf dem Eis, abseits der Station. Aufgrund vieler Diskussionen des Künstlers mit den Naturwissenschaftlern über Sehen und Empfinden, über Erfahren und Messen, über Phänomene und Datenreihen entwickelte sich ein spannender Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft, den Lutz Fritsch fortsetzen wollte. Aus diesen Erlebnissen heraus, den Ort vor Augen, entwickelte Fritsch schon 1994 die Idee zu einem Kunstwerk: die Bibliothek im Eis.

Ein Gebäude auf dem Eis, ein Rückzugsort, ein Raum der Kontemplation, der Ruhe zum Nachdenken über das Sein in der Antarktis, über Natur und Zivilisation und über den Umgang mit Raum und Umwelt. Das Kunstwerk ist aber nicht einfach nur ein Raum auf dem Eis, sondern es ist eine real benutzbare Bibliothek mit 1000 Büchern, die im Sinne der Fortführung des Dialogs von Kunst und Wissenschaft gestiftet wurden. Gestiftet von Künstlern und Wissenschaftlern aller Disziplinen, die Lutz Fritsch persönlich angeschrieben und gebeten hat, ein Buch für diesen speziellen Ort auszuwählen und zu schenken. Jeder Stifter schrieb vorne in das Buch seinen Namen und einen kurzen Kommentar. So entstand eine einzigartige Bibliothek am Ende der Welt, als Gegenpol zur Forschungsstation im Spannungsgefüge zwischen der Weite des Naturraums und der Intimität des geistitigen Raumes, die "Bibliothek im Eis".

Das Bauwerk ist ein speziell isolierter 20-Fuss-Container, dessen Außenwände jeweils in einem anderen Grünton lackiert sind: maigrün, smaragdgrün, gelbgrün, laubgrün. Grün ist die Farbe, die den im Eis lebenden Wissenschaftlern vollständig fehlt, es ist die Sehnsuchtsfarbe, denn so weit das Auge reicht, beherrschen Schnee und Eis die Weite der Antarktis. Der Boden und das Dach der Bibliothek sind leuchtend rot lackiert. Damit bildet die "Bibliothek im Eis" schon von weitem einen Orientierungspunkt, eine Landmarke, die zu sehen ist. Von nahem ist sie ein grüner Ort, ein Raum voller Bücher im Angesicht des Horizonts.

Das Innere der Bibliothek besteht aus zwei Räumen, einem kleinen Vorraum mit Garderobe und Ablage und dem eigentlichen Leseraum mit Fenster. Es ist ein beheizter Raum, ausgelegt mit Teppichboden, eingerichtet mit warmtonigen Kirschholzregalen, einem bequemen Ledersofa mit Kissen. Die Wände sind mit Stoff bespannt und vor dem Fenster steht ein Schreibtisch mit Sessel. Indirektes Licht beleuchtet die Bücher in den Regalen, verschiedene Lichtquellen und Leselampen lassen sich individuell einstellen und schaffen ein warmes Raumlicht.

Der Bibliotheks-Container wurde mit Unterstützung des Alfred-Wegener-Instituts gebaut und im Winter 2003/04 auf dem deutschen Forschungsschiff Polarstern in die Antarktis gebracht. Im Winter 2004/05 baute Lutz Fritsch die Bibliothek in der Antarktis auf und stellte die Bücher ein. Am 19.1.2004 wurde die Bibliothek im Eis anlässlich des Jubiläumsjahres „25 Jahre Alfred-Wegener-Institut“ im Bremer Rathaus eingeweiht.