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Ärzte ohne Grenzen

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Ärzte ohne Grenzen ist der Name der deutschsprachigen Sektionen der 1971 gegründeten internationalen Organisation Médecins Sans Frontières. Die private Hilfsorganisation ist unabhängig von Glaubensgemeinschaften und leistet medizinische Nothilfe in Krisen- und Kriegsgebieten. Während die deutsche Bezeichnung im deutschen Sprachraum oft auch für die gesamte Organisation verwendet wird, wird auf internationaler Ebene die französische Bezeichnung bevorzugt, die oft auch mit MSF abgekürzt wird, oder auch die englische Übersetzung Doctors Without Borders.

Die Organisation wurde 1971 von einer kleinen Gruppe französischer Ärzte als Reaktion auf den Biafra-Krieg gegründet. Sie wird von einer internationalen Verwaltung geleitet, die ihren Sitz in Genf hat. Die meisten Mitarbeiter sind Ärzte und Pflegekräfte, aber auch Vertreter anderer Berufsgruppen unterstützen die Organisation aktiv. Das internationale Netzwerk von Ärzte ohne Grenzen setzt sich aus Sektionen in 19 Ländern zusammen. Jährlich werden etwa 3000 Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen und Logistiker rekrutiert, um Projekte zu betreiben. Etwa 1000 Angestellte machen dauerhafte Belegschaftsarbeit, um Freiwillige zu rekrutieren sowie Finanzen und Beziehungen zu den Medien zu verwalten. Zu etwa 80% finanziert sich „Ärzte ohne Grenzen“ aus Privatspenden, während staatliche Spenden und Spenden aus der Wirtschaft die restlichen 20% übernehmen, wodurch die Organisation über ein jährliches Budget von etwa 400 Millionen US-Dollar verfügt.

In mehr als 70 Ländern stellt die Organisation Gesundheitssysteme und medizinische Ausbildung zur Verfügung, außerdem beharrt sie häufig auf politischer Verantwortung in Krisengebieten wie Tschetschenien oder dem Kosovo. Die Hilfsprojekte sind dabei unterschiedlicher Natur und reichen vom (Wieder-)Aufbau von Krankenhäusern über die Erstellung von Brunnen bis zur einfachen Aufklärung der Bevölkerung. Erst einmal hat die Organisation seit ihrem Bestehen auf militärisches Eingreifen gesetzt, nämlich beim Völkermord in Ruanda im Jahr 1994.

In Anerkennung der kontinuierlichen Anstrengungen der Mitglieder, medizinische Fürsorge in akuten Krisenregionen zur Verfügung zu stellen, erhielt sie 1999 den Friedensnobelpreis.

Grundsätze

„Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet immer unabhängig, unparteiisch, und abhängig von der konkreten Einsatzsituation auch so neutral wie möglich. Nur so ist es nach Auffassung der Organisation möglich, in Krisenregionen effektiv humanitäre Hilfe zu leisten. MSF sieht aber auch das Witnessing („Zeuge sein“) im Rahmen der medizinischen Nothilfe als eine wichtige Aufgabe. Witnessing bedeutet, wenn notwendig, auf Völker in Not aufmerksam zu machen. Anhand von Berichten der Mitarbeiter vor Ort wird in der MSF-Einsatzzentrale entschieden, welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Mögliche Aktionen sind: Gespräche mit Verantwortlichen, Lobbying oder öffentliche Aufklärungskampagnen, im schlimmsten Falle sogar der Rückzug aus einem Einsatzgebiet. Nach Meinung von MSF ist zwischen Witnessing und Neutralität in der praktischen humanitären Arbeit unter Umständen eine Abwägung notwendig, die im Einzelfall eine Aufgabe der Neutralität notwendig macht. Diese Auffassung zur Neutralität unterscheidet MSF grundlegend von der strikt praktizierten Neutralität des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), aus dessen Einsatzerfahrungen MSF entstanden ist. MSF ist, nach den Worten des Mitbegründers Bernard Kouchner, stets unparteiisch, aber nicht immer neutral.

Die humanitäre Arbeit von MSF für die Opfer von Not und Gewalt wurde 1999 durch die Verleihung des Friedensnobelpreises besonders geehrt.

„Das norwegische Nobel-Komitee hat entschieden, den Friedensnobelpreis 1999 an Ärzte ohne Grenzen zu vergeben, in Anerkennung der bahnbrechenden humanitären Arbeit dieser Organisation auf mehreren Kontinenten.“

The Nobel Foundation

Gründung

Kind im Biafra-Krieg, das an Kwashiorkor leidet, einer Krankheit, die in Folge von Unterernährung entsteht

Organisationen wie Oxfam, die Essensvorräte und medizinische Hilfe an Bevölkerungen weitergeben, die in Not sind, gab schon lange bevor im Jahr 1971 „Ärzte ohne Grenzen“ gegründet wurde. Die 1863 gegründete Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung war die erste, die medizinische Notfallsversorgung für Länder leistete, deren Bevölkerung an den Folgen von Krieg oder Naturkatastrophen zu leiden hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese allerdings zunehmend dafür kritisiert, dass sie mit Hinblick auf den Holocaust kaum Verantwortung übernommen hätte. Manche, wie Bernard Kouchner, der spätere Mitbegründer von „Ärzte ohne Grenzen“, sahen die stetige Neutralität in Krisensituationen als Mittäterschaft an.

Biafra

Während des Biafra-Krieg, der von 1967 bis 1970 tobte, bildete das nigerianische Militär eine Blockade um die neu hinzugewonnene unabhängige Region Biafra, die im Südosten des Landes lag. Zu diesem Teitpunkt war Frankreich das einzige nennenswerte Land, das die Bevölkerung von Biafra unterstützt hatte, da Großbritannien, die USA und die Sowjetunion für die nigerianische Regierung Partei ergriffen hatten. Außerdem war die Situation innerhalb der Blockade in der restlichen Welt unbekannt. Eine Reihe französischer Ärzte, darunter auch Bernard Kouchner, meldeten sich zusammen mit den französischen Roten Kreuz freiwillig, um in Krankenhäusern und Nahrungsversorgungszentren im belagerten Biafra zu arbeiten. Das Rote Kreuz brauchte Freiwillige, um ein Abkommen zu unterzeichnen, das von manchen wie Kouchner und seinen Unterstützern jedoch als Knebel betrachtet wurde, da es die Neutralität der Organisation aufrechterhalten sollte, egal unter welchen Umständen. Kouchner und andere französische Ärzte unterschrieben dieses Abkommen.

Nachdem sie im Land angekommen waren, waren die Freiwilligen, einschließlich der Beschäftigten in der Gesundheitsvorsorge und der Krankenhäuser, den Angriffen der nigerianischen Armee ausgesetzt. Dabei wurden sie Zeugen, wie die blockierenden Kräfte Zivilisten entweder ermordeten oder verhungern ließen. Kouchner war ebenso Augenzeuge dieser Ereignisse, insbesondere aber sah er sehr viele Kinder, die in der Folge von Hungersnot sterben mussten. Als er nach Frankreich zurückkehrte, kritisierte er die nigerianische Regierung und das Rote Kreuz, indem er deren Verhalten als Mittäterschaft bezeichnete. Mit der Unterstützung weiterer französischer Ärzte half er, die Region Biafra in das Interesse der Medien zu rücken, und appellierte daran, dass auf internationaler Ebene Verantwortung für diese Situation übernommen werden müsse. Diese Ärzte, allem voran Kouchner, beschlossen, dass eine neue Hilfsorganisation benötigt werde, die sowohl politische als auch religiöse Grenzen ignorieren und dem Wohlergehen der Opfer Vorrang einräumen solle.

Etablierung im Jahr 1971

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Bernard Kouchner, Gründungsmitglied und erster Vorsitzender von Ärzte ohne Grenzen

Die Groupe d'Intervention Médicale et Chirurgicale en Urgence (dt. „Gruppe für medizinisches und chiriurgisches Eingreifen in Notfällen“) wurde 1970 von französischen Ärzten gebildet, die in Biafra gearbeitet hatten, um Hilfe zu leisten und um die Priorität der Opferrechte über die Neutralität zu betonen. Zur selben Zeit hatte Raymond Borel, Herausgeber der medizinischen Fachzeitschrift TONUS als Reaktion auf den Bhola-Wirbelsturm, der sich 1970 in Bangladesch ereignet hatte und dort mindestens 500.000 Menschen tötete, eine Organisation mit dem Namen Secours Médical Français (dt. „französische medizinische Katastrophenhilfe“) gebildet. Borel hatte beabsichtigt, Ärzte zusammenzusuchen, die Opfern von Naturkatastrophen Hilfe leisten sollten. Am 20. Dezember 1971 verschmolzen Borel, Kouchner und ihre Kollegen die beiden Gruppen zu Médecins Sans Frontières.

Der erste Einsatz der neuen Organisation war in Managua, der Hauptstadt von Nicaragua, wo ein Erdbeben am 23. Dezember 1972 den größten Teil der Stadt zerstört hatte und bei dem zwischen 10.000 und 30.000 Menschen umkamen. Diese Organisation, die heute bekannt dafür ist, schnelle Verantwortung in Notfällen zu übernehmen, kam drei Tage, nachdem das Rote Kreuz einen Einsatz für Katastrophenhilfe eingerichtete hatte, an. Am 18. und 19. September 1974 verursachte der Hurrikan Fifi riesige Überflutungen in Honduras, durch den Tausende von Menschen umkamen (wobei die Schätzungen unterschiedlich sind). Hierbei richtete „Ärzte ohne Grenzen“ seinen ersten länger andauernden Einsatz für Katastrophenhilfe ein.

Zwischen 1975 und 1979, nachdem Südvietnam an Nordvietnam gefallen war, emigrierten Millionen Kambodschaner nach Thailand, um den Roten Khmer zu entkommen. Als Reaktion darauf richtete „Ärzte ohne Grenzen“ in Thailand zum ersten Mal ein Flüchtlingslager ein. Als Vietnam sich 1989 aus Kambodscha zurückzog, startete die Hilfsorganisation langfristige Einsätze für Katastrophenhilfe, um den Überlebenden der Killing Fields zu helfen und das Gesundheitssystem des Landes wiederaufzubauen. Obwohl die Einsätze in Thailand darauf abzielten, mehr Kriegsopfern zu Hilfe zu kommen, kann man die Operationen in Südostasien wohl als ersten Kriegseinsatz sehen. Daher betrachtete die Organisation dieses Gebiet auch als echte Kriegszone, einschließlich der Tatsache, dass sie 1976 feindlichem Feuer gegenüberstand. Von 1976 bis 1984 half sie in Krankenhäusern von Libanon während des Bürgerkrieg bei chirurgischen Einsätzen.

Neue Führung

1977 wurde Claude Malhuret zum neuen Vorsitzenden von „Ärzte ohne Grenzen“ gewählt; in der Folgezeit begann die Diskussion über die Zukunft der Organisation. Vor allem das Konzept témoignage („Zeuge sein“ oder witnessing), das sich darauf bezog, dass man seine Meinung über das Leiden deutlich vertreten solle und das als Gegensatz zum Totschweigen aufgefasst wurde, lehnten Malhuret und seine Unterstützer ab bzw. spielten es herunter. Malhuret war der Auffassung, dass die Organisation Kritik an den Regierungen der jeweiligen Staaten, in denen sie tätig waren, vermeiden solle, während Kouchner glaubte, dass die Dokumentierung und Bekanntmachung des Elends, das in einem Land herrscht, die beste Möglichkeit sei, ein Problem zu lösen.

Nach der Flüchtlingsbewegung aus Südvietnam und seiner Nachbarländer im Jahr 1979, bei der die Flüchtlinge sowohl per Fuß als auch per Schiff flüchteten, gehörte Kouchner zu den Unterzeichnern eines Appells, der von französischen Intellektuellen in der linksliberalen Zeitung Le Monde initiiert wurde, um das Projekt „Ein Boot für Vietnam“ zu unterstützen, das beabsichtigte, den Flüchtlingen medizinische Hilfe zur Verfügung zu stellen. Obwohl dieses Projekt von den meisten Mitgliedern von „Ärzte ohne Grenzen“ nicht unterstützt wurde, charterte Kouchner dennoch ein Boot namens L’Île de Lumière (dt. „Die Insel des Lichtes“), reiste zusammen mit anderen Ärzten, Journalisten und Fotografen zum Südchinesischen Meer und leistete tausenden Patienten medizinische Hilfe. Obwohl der Einsatz ein Erfolg war, erhielt Kouchner weiter kaum Unterstützung von „Ärzte ohne Grenzen“, woraufhin er im März 1980 mit rund 15 weiteren Ärzten eine neue Organisation namens Médecins du Monde („Ärzte der Welt“) gründete. Kouchners neue Hilfsorganisation ist „Ärzte ohne Grenzen“ sehr ähnlich, und so führen beide Organisationen oft in den selben Ländern Feldeinsätze durch.

Entwicklung von „Ärzte ohne Grenzen“

1982 gelang es Malhuret und Rony Brauman, finanzielle Unabhängigkeit der Organisation zu erhöhen, indem sie Wohlfahrtsbriefmarken bei der Post einführten, um dadurch leichter an Spenden heranzukommen. Letzterer wurde im selben Jahr neuer Vorsitzender von „Ärzte ohne Grenzen“. Außerdem wurden in den achtziger Jahren Ableger der Organisation in anderen Ländern gebildet: In Belgien wurde als zweite Sektion 1980 gegründet, die in der Schweiz, die ihren Sitz in Genf hat, bildete sich 1981. Die Niederlande folgten 1984, Spanien 1986 und Luxemburg, deren Ableger auch der erste Unerstützer war, im Jahr 1990. In den frühen neunziger Jahren wurden dann die meisten anderen Ableger gegründet: Griechenland und die USA folgten 1990, Kanada 1991, Japan 1992, Großbritannien, Italien und der deutsche Ableger Ärzte ohne Grenzen e.V. 1993 und Australien sowie der österreichische Ableger, dessen Sitz in Wien ist, im Jahr 1994. Auch in Österreich, Dänemark, Schweden, Norwegen und Hongkong bildeten sich Ableger, später kam auch noch einer in den Vereinigten Arabischen Emiraten hinzu.

Malhuret und Brauman führten nach Kouchners Abgang auch zahlreiche Veränderungen an der Organisation durch. Nachdem die sowjetische Armee im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war, wurden sofort Feldeinsätze durchgeführt, um den Mudschahid-Kämpfern medizinische Hilfe zu ermöglichen. Im Februar 1980 prangerte die Organisation die Roten Khmer öffentlich an.

Während der von 1984 bis 1985 herrschenden Hungersnot in Äthiopien führte sie Ernährungsprogramme in Land durch, wurde aber 1985 ausgewiesen, nachdem sie die Unterschlagung internationaler Hilfeleistungen und die durch das Mengistu-Regime durchgeführten Zwangsumsiedlungen angeprangert hatte. Aufgrund des Drucks der internationalen Aufmerksamkeit sowie aufgrund der Androhung der Sperrung von Geldern durch die wichtigsten Geberländer lenkte das Regime ein.

Nachdem San Salvador, die Hauptstadt von El Salvador, am 10. Oktober 1986 von einem Erdbeben heimgesucht worden war, stellte sie der dortigen Bevölkerung Ausrüstung zur Verfügung, um sauberes Trinkwasser herstellen zu können. 1993 erhielt die Organisation vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge die Nansen-Medaille.

Sudan

1979 führte „Ärzte ohne Grenzen“ Einsätze im Süden des Sudan durch, um Zivilisten zu helfen, die entweder dem Verhungern nahe waren oder an anderen Folgen des dortigen Bürgerkrieg litten. Freiwillige Helfer der Organisation berichteten mehrfach von Folter, Massenhinrichtungen, Kannibalismus bis hin zu Hungertoden in riesigem Ausmaße.

Im Jahr 1989 kamen bei einem Abschuss eines Piloten ohne Grenzen-Flugzeugs mit einer Rakete im Sudan neben anderen Opfern zwei Mitarbeiter ums Leben. Die Organisation verließ daraufhin den Südsudan bis 1992. Allerdings hat sie innerhalb der letzten 25 Jahre dem Sudan trotzdem weiterhin Katastrophenhilfe geboten, obwohl einige freiwillige Helfer verhaftet wurden und es immer wieder Kampfmassaker, auch von seiten von Zivilisten gab. Ärzte ohne Grenzen hat zur Situation im Sudan die Medien immer um Hilfe gebeten, allerdings fühlte sich die Organisation aus den USA und aus Europa seitens der Medien und der Regierungen oft nicht in ausreichendem Maße unterstützt.


Frühe neunziger Jahre

In den frühen neunziger Jahren wurden eine ganze Reihe von Ablegern der Organisation in anderen Ländern gegründet und zur selben Zeit wurden Feldeinsätze durchgeführt, von denen einige zu den gefährlichsten und erschreckendsten Situationen gehörten, auf die sie jemals gestoßen war.

1990 traf „Ärzte ohne Grenzen“ in Liberia ein, um den Zivilisten und Flüchtlingen zu helfen, die Opfer des dortigen Bürgerkrieg geworden waren. Die fortbestehenden Kämpfe während der neunziger Jahre und der zweite liberianische Bürgerkrieg führten dazu, dass die Mitglieder aktive Unterstützung bei der Nahrungsversorgung und beim Aufbau eines Gesundheitssystems leisteten sowie massenweise Schutzimpfungen durchführten. Außerdem sprachen sie sich gegen Angriffe auf Krankenhäuser und Nahrungsversorgungsstationen aus, die insbesondere in der Hauptstadt Monrovia stattgefunden hatten.

Feldeinsätze wurden durchgeführt, um Katastrophenhilfe für kurdische Flüchtlinge leisten zu können, die vor der Anfal-Kampagne des Iraks flüchten mussten. Dafür wurden 1991 auch Beweise für die dortigen Gräueltaten gesammelt. Im selben Jahr begann der Bürgerkrieg in Somalia und mit ihm weit verbreitete Hungersnot und Krankheiten, wogegen die Organisation 1992 Feldeinsätze durchführte. Fehl geschlagene Eingriffe der Vereinten Nationen führten zu höherer Gewaltbereitschaft, woraufhin „Ärzte ohne Grenzen“ diese Vorgänge 1993 anprangerte; allerdings stellten Freiwillige weiterhin Gesundheits- und Nahrungsversorgung zur Verfügung. Aber auch seit die Vereinten Nationen sich zurückgezogen hatten, setzte sich die Gewalt in Somalia ungehindert fort, und „Ärzte ohne Grenzen“ gehört zu den wenigen Organisationen, die den Zivilisten, die Kampfhandlungen zum Opfer fallen, helfen, indem sie Kliniken und Krankenhäuser betreiben.

Ihre Arbeit in Srebrenica (Bosnien und Herzegowina) nahm die Organisation im Jahr 1993 als Teil eines UN-Konvois auf, ein Jahr nachdem der bosnische Krieg begonnen hatte. Die Stadt war von der Vojska Republike Srpske, die etwa 60.000 Bosniaken enthielt, umzingelt gewesen, und war dadurch zu einer Enklave geworden, die von einer UN-Schutztruppe bewacht worden war. „Ärzte ohne Grenzen“ war die einzige Organisation, die den eingeschlossenen Zivilisten medizinische Versorgung leistete.

Ruanda

1994 mussten Delegierte von MSF in Ruanda in die dort tätige Delegation des IKRK aufgenommen werden, um sie vor der Bedrohung durch Hutu-Extremisten im Rahmen des beginnenden Völkermordes zu schützen. Die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ trugen dabei das Emblem des Roten Kreuzes und erklärten sich bereit, nach den Einsatzregeln des Roten Kreuzes tätig zu sein, da dies im Rahmen der örtlichen Gegebenheiten der einzige effektive Schutz vor einer möglichen Ermordung war. Die Vorgehensweise von MSF, Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu thematisieren und humanitäre Hilfe dadurch effektiver zu gestalten, war in diesem Einsatz an seine Grenzen gestoßen. Beiden Organisationen konnten erreichen, dass alle wichtigen Krankenhäuser im ruandischen Kigali während der schlimmsten Phase des Völkermordes betriebsfähig blieben. Zusammen mit insgesamt 37 anderen humanitären Organisationen wurde „Ärzte ohne Grenzen“ ein Jahr später aus Ruanda ausgewiesen, obwohl viele Freiwillige von „Ärzte ohne Grenzen“ und des Roten Kreuzes zusammen unter den Einsatzregeln des Roten Kreuzes arbeiteten, die besagen, dass Neutralität oberste Priorität haben solle. Allerdings hatte „Ärzte ohne Grenzen“ zuvor das Blutbad durch ruandische Truppen im Vertriebenenlager Kibeho kritisiert. Diese Ereignisse führten innerhalb der Organisation zu einer Debatte über den Spagat, einerseits als Arbeiter für humanitäre Hilfe tätig zu sein und auf der anderen Seite die Rolle des Augenzeugen zu übernehmen. Als Reaktion auf den Einsatz in Ruanda bewegte sich die Position der Organisation bezüglich der Tatsache, dass die Neutralität respektiert werden soll, näher an die des Roten Kreuzes heran, was eine bemerkenswerte Entwicklung darstellt, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen sie gegründet wurde.

Das Rote Kreuz verlor 56 Mitarbeiter, und „Ärzte ohne Grenzen“ fast hundert ihrer jeweiligen lokalen Belegschaften in Ruanda, woraufhin die französische Sektion beschlossen hatte, ihr Team aus dem Land zu evakuieren, wobei die lokale Belegschaft gezwungen war, im Land zu bleiben. Allerdings gab sie die Morde bekannt und verlangte, dass ein Eingreifen der französischen Streitkräfte den Volkermord stoppen solle. Ebenso gab sie in den Medien die Parole "Niemand kann einen Völkermord ohne Ärzte stoppen" bekannt, und nicht einmal einen Monat später folgte die umstrittene Opération Turquoise. Dieses Eingreifen resultierte entweder direkt oder indirekt aus den Wanderungen der ruandesischen Flüchtlinge nach Zaire und Tansania, die auch als "Flüchtlingskrise der großen Seen" bekannt wurden und den Zivilisten später Cholera-Epidemien, Hungertode und andere Massentode bescherten.

Sierra Leone

In den späten neunziger Jahren führte die Organisation Einsätze durch, um Bewohner des Aralseees zu behandeln, die unter Tuberkulose und Anämie litten und um sich um Zivilisten zu kümmern, die unter drogenbedingten Krankheiten, Hungersnot und an Cholera- bzw. AIDS-Epidemien litten. Während einer Epidemie im Jahr 1996 impfte sie insgesamt drei Millionen Nigerianer gegen Meningitis und prangerte 1997 die Ablehnung der Taliban an, eine Gesundheitsvorsorge für Frauen einzuführen. Das bedeutendste Land, in dem Ärzte ohne Grenzen in den späten neunziger Feldeinsätze durchführten, war wohl Sierra Leone, das zu dieser Zeit in einen Bürgerkrieg verwickelt war. 1998 begannen Freiwillige, bei chirurgischen Eingriffen in Freetown zu helfen, um der wachsenden Anzahl der Amputationen Abhilfe zu schaffen, und Statistiken über Zivilisten (Männer, Frauen, Kinder) zu sammeln, die für sich in Anspruch nahmen, die ECOWAS Monitoring Group zu vertreten. Die Männergruppen reisten zwischen den Dörfern umher und hackten systematisch jedem Bewohner einen oder auch beide Arme ab, vergewaltigten Frauen, schossen Familien nieder, zerstörten Häuser und zwangen Überlebende, die Region zu verlassen. Langfristige Projekte, die nach dem Ende des Bürgerkriegs folgten, beinhalteten psychologische Unterstützung und Bewältigen des Phantomschmerzes.

Weitere Geschichte der Organisation

1990 wurde in Afghanistan ein MSF-Logistiker ermordet. Die Organisation unterbrach daraufhin die Aktivitäten im Land bis 1992. 1993 kam es zu einer scharfen Verurteilung der Vorgehensweise der Vereinten Nationen in Somalia, da humanitäre Prinzipien verletzt wurden. Im gleichen Jahr stellte die Organisation die Aktivität im irakischen Kurdistan nach der Ermordung eines Handicap International-Mitarbeiters ein.

Am 10. Dezember 1999 wurde der Organisation für ihre Arbeit der Friedensnobelpreis verliehen.

Im Jahr 2001 wurden zwei Mitarbeiter entführt. Einer von ihnen wurde nach sechsmonatiger Entführung in Kolumbien unversehrt wieder freigelassen, ein weiterer Mitarbeiter in Tschetschenien kam nach einem Monat wieder frei. 2002 wurde in Dagestan der MSF-Mitarbeiter Arjan Erkel entführt und im Mai 2004 nach 20 Monaten freigelassen. Am 2. Juni 2004 wurden in Afghanistan fünf Mitarbeiter (eine Belgierin, ein Norweger, ein Niederländer und zwei Afghanen) in einem Hinterhalt der Taliban getötet. MSF sieht eine der Ursachen für dieses Attentat in der bereits davor kritisierten Instrumentalisierung und dem Missbrauch humanitärer Hilfe für politische Zwecke durch die Koalitionstruppen unter US-amerikanischer Führung. So wurden zum Beispiel Afghanen mittels Flugblättern dazu aufgefordert, Informationen über die Taliban und Al Kaida zu liefern, um weiterhin humanitäre Hilfe zu erhalten. Aufgrund dieses Vorfalls und des trotzdem anhaltenden Missbrauchs durch die Koalitionstruppen stellte die Organisation die Arbeit in Afghanistan am 28. Juli 2004 nach 24-jähriger Tätigkeit ein.

Im Jahr 2005 kritisierte „Ärzte ohne Grenzen“ die Vereinten Nationen scharf: man habe die Hungerkatastrophe im Niger zu spät an die Öffentlichkeit getragen; bis heute sind Hunderttausende von der Dürre betroffen.

Stand 2005 gibt es 19 MSF-Sektionen in verschiedenen Ländern. MSF ist in über 70 Ländern tätig.

Siehe auch

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