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Jüdische Musik

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Einführung

Curt Sachs hat 1957 die jüdische Musik wie folgt definiert: "Jüdische Musik ist diejenige Musik, die von Juden für Juden als Juden gemacht wurde". In einer solchen funktionalen Definition werden die Bereiche von Beschreibung, Analyse und daraus zu ziehenden Folgerungen offen gelassen.

Wie bei allen anderen Nationen und Kulturen wird auch die jüdische Musik durch ihren Ursprung bestimmt und durch geschichtliche Eigenarten modifiziert. Im Ursprung gelten dieselben Prinzipien, die bei allen Abkömmlingen der nahöstlichen Hochkulturen gewirkt haben. Die Musik selbst wird durch mündliche Überlieferung geschaffen, ausgeführt und weitergegeben. Die Praxis steht im Rahmen von religiösen und literarischen Überlieferungen, die ihrerseits schriftlich festgelegt sind.

Der historische Faktor der jüdischen Musik ist die Diaspora. Durch ihre Zerstreuung kamen die Juden in Kontakt mit einer Vielzahl regionaler musikalischer Stile, Praktiken und Ideen. Einige davon entsprachen eher ihrer eigenen Überlieferung (z.B. im Nahen Osten und rund ums Mittelmeer), andere unterschieden sich davon grundsätzlich (beispielsweise im Europa nördlich der Alpen und der Pyrenäen).

Die Frage der musikalischen Notation verdeutlicht die spezifisch jüdische Problematik. Einerseits entwickelte das Judentum niemals ein Notensystem im europäischen Sinne (ein Ton = ein Symbol). Auch das europäische Judentum übernahm das Notensystem der umgebenden Kultur nur in einigen Gemeinden während bestimmter Perioden, und nur für gewisse Bereiche der musikalischen Tätigkeit. Andererseits dienen die Teamim weltweit als Indikatoren für gewisse melodische Motive zur Festlegung der Kantillation der biblischen Texte. Der melodische Inhalt dieser Kantillation ist hingegen von Ort zu Ort verschieden und wird ausschließlich mündlich überliefert. Die syntaktischen und grammatischen Funktionen, welche ebenfalls durch die Teamim festgelegt werden, sind mindestens gleich alt wie die melodischen Traditionen und sind ihrerseits in schriftlich überlieferten Doktrinen (Halacha) und Diskussionen festgelegt.

Biblische Periode

Ein Schofar im jemenitischen Stil. (Foto: Olve Utne)

Die Bibel ist die wichtigste und reichste Quelle für das Wissen über das musikalische Leben im alten Israel bis zur Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft. Sie wird durch mehrere Zusatzquellen ergänzt: archäologische Funde von Musikinstrumenten und von Abbildungen musikalischer Szenen, vergleichbares Material aus benachbarten Kulturen sowie nachbiblische Quellen wie die Schriften von Philo, Josephus Flavius, die Apokryphen und die Mischna.

Nach der Rückkehr aus Babylon erhielt Musik als sakrale Kunst und als künstlerisch sakrale Handlung einen bedeutenden Platz in der Organisation des Tempeldienstes. Der Psalm 137 An den Flüssen Babylons beschreibt keine abstrakte Personifizierung, sondern levitische Sänger, die im Dienste ihrer Eroberer das Lob der assyrischen und babylonischen Könige singen mussten. So wurden Hof- und Tempelorchester in Mesopotamien zum Prototyp der Tempelmusik, die nach der Rückkehr der Juden in Jerusalem errichtet wurde.

Liste der in der Bibel erwähnten Instrumente

  1. Asor, siehe unten bei Newel.
  2. Halil, Blasinstrument mit zwei Pfeifen, wahrscheinlich einer Melodiepfeife und einer Brummpfeife. Das Instrumentenmundstück war wahrscheinlich wie bei der Klarinette mit einfachem Rohrblatt ausgestattet. Das Instrument wurde bei Freude- und Trauerzeremonien verwendet.
  3. Hazozra, Trompete, aus kostbarem Metall, normalerweise aus Silber hergestellt. Es wurde von Priestern bei Opfer- und Krönungszeremonien verwendet.
  4. Kaitros/Katros, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  5. Keren, aramäisch Karna, siehe unten bei Schofar.
  6. Kinnor. Ein Saiteninstrument aus der Familie der Leiern. Der kanaanitische Typus des Instruments, der bestimmt auch von den Israeliten verwendet wurde, ist asymmetrisch. Das Instrument hatte wahrscheinlich eine Durchschnittshöhe von 50-60 cm und war von der Tonhöhe her im Altbereich angesiedelt, wie Funde aus Ägypten zeigen (wo die Form und auch der Name des Instruments von den benachbarten Semiten übernommen wurde). Kinnor wurde zum Hauptinstrument im Orchester des zweiten Tempels. Es wurde von König David gespielt und war deshalb bei den Leviten hoch angesehen. Laut Josephus Flavius hatte es zehn Saiten und wurde mit einem Plektrum gespielt.
  7. Maschrokita, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  8. Mena'an'im, ein Rasselinstrument, das nur einmal bei der Beschreibung des Transports der Bundeslade nach Jerusalem erwähnt wird (2. Buch Samuel 6,5) und an anderer Stelle (1. Buch der Chronik 13,8) unter dem Namen Meziltajim (siehe unten) erscheint. Nach dem 7. vorchristlichen Jahrhundert verschwanden diese Rasseln und wurden durch die neu erfundene Metallglocke ersetzt (siehe unten Pa'amon).
  9. Meziltajim, Zilzalim, Mezillot. Die beiden ersten Formen stehen wahrscheinlich für Zimbeln. Die in Ausgrabungen gefunden Zimbeln waren plattenförmig und aus Bronze hergestellt, mit einem durchschnittlichen Durchmesser von 12 cm. Sie wurden von den Leviten im Tempeldienst verwendet. Mezillot werden in Secharja 14, 20 als Glöckchen erwähnt, die Pferden umgehängt werden. Sie entsprechen wahrscheinlich den Metallglöckchen, die auf assyrischen Reliefs zu sehen sind.
  10. Minnim, ein unklarer Begriff, wahrscheinlich ein Saiteninstrument.
  11. Newel, eine Art Leier, vielleicht ursprünglich aus Kleinasien, größer als der verwandte Kinnor und deshalb mit tieferem Ton. Laut Josephus Flavius hatte es 12 Saiten und wurde mit den Fingern gezupft. Es war das zweitwichtigste Instrument im Tempelorchster. Gemäß der Mischna bestanden die Saiten aus Schafdärmen. Newel asor, oder in der Kurzform Asor, war vermutlich eine kleinere Form von Newel mit nur zehn Saiten.
  12. Pa'amon werden in Exodus und bei Josephus Flavius erwähnt. Sie gehörten zur Bekleidung des Hohepriesters, die Bedeutung ist Glocke. Die in Palästina gefunden Glocken sind klein, bestehen aus Bronze und haben einen eisernen Klöppel.
  13. Psanterin und Sabchal, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  14. Schalischim, nur im 1. Buch Samuel 18, 6-7, als Instrument erwähnt, das von Frauen gespielt wird. In Analogie mit einem ugaritischen Wort für Metall könnte es sich um Zimbeln handeln.
  15. Schofar, siehe dort.
  16. Sumponia, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  17. Tof, ein rundes Tamburin, wird mit Tanz in Verbindung gebracht und oftmals von Frauen gespielt.
  18. Ugaw, immer noch unklar, wahrscheinlich aber kein Blasinstrument gemäß mittelalterlicher Exegese. Vielleicht handelt es sich um die Harfe, die wie die Laute (Minnim?) niemals zum kanaanitischen und israelitischen Instrumentarium gehörte.
  19. Danielische Instrumente. Buch Daniel 3, 5 beschreibt auf aramäisch ein Orchster am Hofe des babylonischen Königs. Es enthält fogende Instrumente: Karna, Maschrokita, Kaitros, Sabbcha, Psanterin, Sumponia sowie allerlei Arten von Instrumenten. Karna ist ein Horn, und Kaitros, Sabbcha und Psanterin sind aramäisierte Formen der griechischen Wörter Kithara, Sambyke und Psalterion (für die beiden letzteren siehe Harfe). Maschrokita ist ein Pfeifinstrument, und Sumponia entspricht dem griechischen Begriff Symphonie, wörtlich "Zusammenklang". Sehr wahrscheinlich bedeutet dieser Ausdruck gar kein Musikinstrument, sondern beschreibt das Zusammenklingen der vorher erwähnten Instrumente, was durch den Zusatz allerlei Arten von Instrumenten noch verstärkt würde.

Die Entstehung des synagogalen Gesangs

Die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem im Jahre 70 erforderte eine vollständige Neuausrichtung im religiösen, liturgischen und geistigen Bereich. Die Abschaffung des Tempeldienstes bedeutete ein abruptes Ende der durch Leviten ausgeführten Instrumentalmusik. Das Verbot des Gebrauchs von Instrumenten in der Synagoge hat sich mit wenigen Ausnahmen bis in die heutige Zeit erhalten. Da die musikalischen Traditionen der Leviten und ihre beruflichen Regeln ausschließlich mündlich überliefert wurden, sind davon keine Spuren erhalten geblieben. Der synagogale Gesang war demnach ein Neubeginn in jeglicher Beziehung - vor allem auch hinsichtlich der geistigen Grundlage. Das Gebet übernahm von nun an die Rolle des Opferdienstes, um Vergebung und Gnade Gottes zu erlangen. Es musste in der Lage sein, einen weiten Bereich menschlicher Gefühle auszudrücken: Freude, Dankbarkeit und Lob sowie Flehen, Sündenbewusstsein und Zerknirschung.

In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten herrschte in den verschiedenen jüdischen Gemeinden im Nahen Osten eine große stilistische Einheit bei der Rezitation der Psalmen und weiterer biblischer Bücher. Derselbe Rezitationsstil findet sich auch in den ältesten Tradtionen der katholischen, orthodoxen und syrischen Kirchen. Da ein enger Kontakt zwischen den christlichen Glaubensrichtungen nur zu einem sehr frühen Zeitpunkt bestand, müssen die gesanglichen Strukturen vom Christentum zusammen mit den Heiligen Schriften selbst übernommen worden sein.

Der Pentateuch und Ausschnitte aus den Propheten werden im synagogalen Gottesdienst regelmäßig vorgetragen, während die anderen biblischen Bücher für gewisse Festtage vorbehalten sind. Es ist für die Synagoge charakteristisch, dass der biblische Text niemals vorgelesen bzw. deklamiert wird, sondern stets mit musikalischen Akzenten (Teamim) und Kadenzen versehen wird. Der Kirchenvater Hieronymus bezeugt diese Praxis um das Jahr 400 mit den Worten: decantant divina mandata: "sie (die Juden) singen die göttlichen Gebote".

In der talmudischen Zeit wurden die musikalischen Akzente ausschließlich mündlich überliefert, und zwar durch die Praxis der Chironomie: Hand- und Fingerbewegungen zum Anzeigen der verschiedenen Kadenzen. Die Chironomie war schon von Sängern im alten Ägypten ausgeübt worden und wurde später auch von den Byzantinern übernommen. Bis vor kurzem wurde diese Überlieferung in Italien und Jemen gepflegt. In der zweiten Hälfte des ersten christlichen Jahrtausends wurden von den Masoreten nach und nach schriftliche Akzente eingeführt. Einige Gemeinden, vor allem jemenitischer und bucharischer Herkunft, verzichten bis heute auf schriftliche Anweisungen zum Vortrag des Bibeltextes und tragen die Bibel in einer sehr einfachen Weise vor, indem sie ausschließlich psalmodische Kadenzen verwenden. Die Beschränkung des biblischen Vorsingens auf einen kleinen Notenbereich und beschränkte Verzierungen ist beabsichtigt und dient der verschärften Wahrnehmung des Wortes. Curt Sachs nennt diese Art von Musik logogenisch: sie entsteht aus dem Wort und dient dem Wort.

Musik in der mittelalterlichen Diaspora

Der jüdische Spruchdichter Süßkind von Trimberg mit Judenhut – rechts im Bild (Codex Manesse, 14. Jhd.).

Der Beginn einer neuen Periode in der jüdischen Musik kann um die Mitte des 10. Jahrhunderts angesetzt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Akzentsystem des biblischen Textes abgeschlossen. Musik wurde zu einem Thema der philosophischen Betrachtung, und die Poesie erhielt durch die Einführung des musikalischen Metrums und der damit verbundenen ästhetischen Werte einen neuen Charakter. Gleichzeitig ereigneten sich wichtige politische Änderungen. Die Eroberung und Einigung der nahöstlichen Länder durch den Islam führte die lokalen jüdischen Gemeinden in eine Welt der relativen Freiheit und Offenheit. Die Juden hatten die Möglichkeit, sich in die allgemein herrschende Kultur zu integrieren, mussten aber dafür ihre administrative Autonomie aufgeben. Die religiöse Herrschaft der babylonischen Akademien kam zu einem Ende, und die zerstreuten jüdischen Gemeinden mussten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Der Begriff musika taucht erst im 10. Jahrhundert im hebräischen Sprachgebrauch auf, und zwar in der arabisierten Form mūsīkī. Er bezeichnete das Konzept der Wissenschaft der Musik. Dieser Wissenschaftszweig gilt als der vierte im klassischen Quadrivium. Er wird von Dunasch ibn Tamim (890 - ca. 956), einem jüdischen Sprachwissenschaftler und Astronomen aus Kairouan, als "die vorzüglichste und letzte der propädeutischen Disziplinen" bezeichnet.

In der Mitte des 10. Jahrhunderts führte Dunasch ben Labrat, ein Schüler von Saadia Gaon, das musikalische Metrum in die hebräische Poesie ein. Die arabischen Dichter hatten die Metrik der alten Griechen, die auf zeitlich festgelegten Silbenlängen beruht, schon im 8. Jahrhundert übernommen, doch im Unterschied zum Arabischen kennt die hebräische Sprache keinen Unterschied zwischen kurzen und langen Silben. Die Sänger mussten demnach zwischen den verschiedenen Wortakzenten eine gewisse Anzahl Silben einfügen.

Schon zu Zeiten des Römischen Reiches hatten sich Juden den Spielleuten (ludarii) angeschlossen, denen Musiker jeglicher Herkunft beitreten konnten. Da die Gaukler und Vaganten in jedem Fall eine soziale Randgruppe darstellten, war ihre jüdische Herkunft kein Hindernis, um bei einem islamischen Kalifen oder Emir, einem christlichen König, Bischof oder Ritter als Hofmusiker zu dienen.

Quelle: Encyclopaedia Judaica, Bd. 12, S. 554-678.

Literatur

  • Eckhard John, Heidy Zimmermann (Hrsg.): Jüdische Musik. Fremdbilder - Eigenbilder. Böhlau Verlag, Köln 2004, ISBN 3412168033