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Kultivationshypothese

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Die Kultivationsthese (auch: Kultivierungsthese) geht auf die [Vielseherforschung] des Medienwissenschaftlers George Gerbner zurück. Gerbner untersuchte in den 70er Jahren die Rolle des Fernsehens bei der Vermittlung des Weltbildes der Rezipienten. Seine These: Gerade Vielseher, also Menschen, die mehrere Stunden täglich fernsehen, werden durch das Fernsehen kultiviert und sehen die Welt so, wie sie im Fernsehen vermittelt wird. Das Fernsehen sieht er also als Sozialisationsinstanz, die bei den Konsumenten verzerrte Vorstellungen von der Realität erzeugt.

Gerbner hat zur Untermauerung der These die gesellschaftliche Realität, die in den Medien vermittelte Realität und die Publikumsrealität verglichen. Dazu führte er eine Inhaltsanalyse des TV-Programms (Cultural Indicator Analysis) sowie eine Rezipientenbefragung (Cultivation Analysis) durch.

Seine Ergebnisse: Das Fernsehen stellt in der Tat die Realität verzerrt dar. Es zeigt mehr Gewalt, vor allem mehr Tötungsdelikte, als real geschehen. Im Fernsehen geht Gewalt meist von Männern aus und wird als Mittel zur Konfliktlösung dargestellt. Diese Befunde sind übertragbar auf das wahrgenommene Realitätsbild: Vielseher halten die Realität für viel gewalttätiger, als sie tatsächlich ist. Außerdem haben sie mehr Angst vor Gewalt. Diese Angst kann dann unter Umständen dazu führen, dass die Gewaltbereitschaft steigt, da die Vielseher meinen, sie müssten sich in der gewalttätigen Welt verteidigen.


Kritik und Weiterentwicklung

Winfried Schulz hat 1986 Gerbners Studie zur Kultivierungshypothese auf Deutschland übertragen. Bei univariater Analyse stellte er ebenso wie Gerbner fest, dass es eine signifikante Korrelation zwischen TV-Konsum sowie Angst und Depression gibt.

Anders als Gerbner baute Schulz aber mehrere Kontrollvariablen (Intelligenz, soziales Umfeld, Geschlecht, Alter u. ä.) in seine Untersuchung ein und führte multivariate Analysen durch. Diese zeigten keinerlei Korrelationen zwischen TV-Konsum und Angst/Depressivität mehr.

Daraus ist zu folgern, dass Angst und Depressivität nicht (oder zumindest: nicht allein) durch TV-Konsum verursacht werden, sondern mehrere Ursachen haben. Es scheint sogar wahrscheinlich, dass nicht das Fernsehen das Realitätsbild der Vielseher beeinflusst, sondern umgekehrt: Das von Drittfaktoren (soziales Umfeld etc.) geprägte Realitätsbild ist überhaupt erst der Auslöser für den hohen Fernsehkonsum der Vielseher (z. B. eskapistische Mediennutzung).

Es besteht der Verdacht, dass es sich bei Gerbners Forschungsergebnissen um Artefakte handelt, also um Scheinzusammenhänge, die allein durch die Auswertung zustande kommen, vor allem, da die Begriffe "Viel"- und "Wenigseher" auch von Gerbner nicht stringent verwendet wurden (Bei den verschiedenen Erhebungswellen der ursprünglichen Studie wurden die Zeitanforderungen für "Viel"- bzw. "Wenigseher" unterschiedlich angesetzt).

Auch wenn es heute begründeten Zweifel an der Validität von Gerbners Studie gibt, wurden Kultivierungseffekte durch Fernsehkonsum in mittlerweile mehr als 300 Studien nachgewiesen.

Es gilt heute als gesichert, dass Fernsehen zur Sozialisation beiträgt. Zwar ist es nur ein Sozialisationsfaktor von vielen (und auch nicht der wirkungsstärkste), jedoch ist er besonders wirksam, weil ihm nahezu die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist. Dies ist möglicherweise auch der Grund dafür, dass die messbaren Unterschiede zwischen Viel-, Durchschnitts- und Wenigsehern eher gering sind.

Um die Relevanz der Kultivierungshypothese abschließend beurteilen zu können, ist jedoch eine Langzeit- bzw. Längsschnittstudie nötig. Nach wie vor ist auch unklar, ob Vielseher wirklich eine homogene Gruppe sind, wie die Theorie unterstellt, und ob sie sich tatsächlich den in der Cultural Indicator Analysis untersuchten Programmen aussetzen.

In neueren Untersuchungen hat Gerbner weitere Aspekte der Kultivierung des Fernsehens untersucht. Dass Fernsehen eine Wirkung auf die Einstellungen hat, setzt er hier voraus. Er entwickelte das so genannte Mainstreaming-Konzept, demzufolge das Fernsehen Einstellungsunterschiede in der Bevölkerung angleicht und zu einer Konvergenz der Standpunkte führt. Im Gegensatz dazu bewirkt Resonance, dass Medien besonders dann wirken, wenn die Rezipienten sich persönlich betroffen fühlen.

Literatur

Gerbner, G. (1976). The scary world of the TV's heavy viewer. Psychology Today, pp. 41-45.