COVID-19 Case-Cluster-Study


Die Covid-19 Case-Cluster-Study, umgangssprachlich Heinsberg-Studie, ist eine bisher nicht abgeschlossene und nicht wissenschaftlich veröffentlichte Studie im Zusammenhang mit der durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Pandemie, die in Gangelt im Kreis Heinsberg durchgeführt wird. Sie ist die erste derartige Studie in Deutschland.
Die Studie wurde vom Land Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben und wird geleitet von Hendrik Streeck, Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn. Der Fortschritt der Studie wird bei Facebook und Twitter veröffentlicht.[1][2]
Hintergrund
Die COVID-19-Pandemie tritt im Kreis Heinsberg seit dem 27. Februar 2020 mit vergleichsweise hohen Fallzahlen (Infektionen und Todesfälle) als Teil der weltweiten COVID-19-Pandemie in Erscheinung. Heinsberg gilt in Deutschland als „Erstregion“[3][4] und „Epizentrum“[5] der Pandemie.
Seit dem 6. März 2020 führt das Robert Koch-Institut (RKI) den Kreis Heinsberg als „besonders betroffenes Gebiet in Deutschland“.[6]
Im Kreis Heinsberg wurde, vermutlich in Folge einer Karnevalssitzung in Gangelt, an der ein infiziertes Ehepaar teilnahm, die erste größere Ausbreitung der COVID-19-Pandemie in Deutschland verursacht.[7]
Ziel
Die Studie soll durch Erhebung repräsentativer Daten Fakten zu Letalität, Dunkelziffer und Immunität bezüglich SARS-CoV-2 liefern.[8][9][10][11][12] Streeck hatte kritisiert, dass das Robert Koch-Institut eine solche Studie nicht selbst durchführt.[13] Im Gegensatz zu Christian Drosten, der „sehr viruszentriert“ arbeite, schaue er sich an, was „das Virus mit dem Menschen“ mache. Er zeigte sich enttäuscht, dass er bei den Beratungen der Regierung nicht konsultiert worden sei.[13]
Vorgehen
Etwa 600 Haushalte wurden gebeten, an der Studie teilzunehmen. Insgesamt nahmen bis 8. April 2020 etwa 1000 Einwohner aus etwa 400 Haushalten teil. Es werden Fragebögen ausgefüllt, Rachenabstriche genommen und Blut auf das Vorliegen von Antikörpern getestet.
Veröffentlichung von Zwischenergebnissen
Erste Ergebnisse der Studie wurden in der zweiten Aprilwoche 2020 erwartet[14] und am 9. April 2020 bei Facebook und Twitter veröffentlicht. In diese erste Auswertung gingen die Rückschlüsse zu etwa 500 Personen ein. Demnach sei eine bestehende Immunität von etwa 14 % der Teilnehmer festgestellt worden, etwa 2 % der Personen hätten eine aktuelle SARS-CoV-2-Infektion aufgewiesen, die Infektionsrate habe etwa 15 % betragen und die Letalität „bezogen auf die Gesamtzahl der Infizierten in der Gemeinde Gangelt” betrage mit den vorläufigen Daten aus dieser Studie „ca. 0,37 %.“[15]
In einer Pressekonferenz mit dem Ministerpräsidenten des Landes NRW, Armin Laschet, empfahl Streeck der Politik, in die Phase 2 der Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene einzutreten,[16] d. h. mit der Rücknahme der Beschränkungen für die Bevölkerung zu beginnen.[17]
Kritik
An der Veröffentlichung der Zwischenergebnisse wurden u. a. die Methode, die Aussagekraft sowie die Rollen von Ministerpräsident Laschet und der PR-Agentur StoryMachine kritisiert.[18][19][20][21][22]
Alexander Kekulé bezeichnete in seinem Podcast in einer ersten Stellungnahme die Studie als „Sonderfall“ und riet dazu, mit Empfehlungen aufgrund der Studie vorsichtig zu sein.[23]
Auch Christian Drosten kritisierte die Studie und die Empfehlungen Streecks. Sie sei nicht in einem wissenschaftlichen Peer-Netzwerk veröffentlicht worden; aus der Präsentation könne man nichts ableiten.[24] Streeck erwiderte: „Das muss natürlich schlussendlich die Politik entscheiden. Wir liefern Daten und Fakten.“[25]
Die Süddeutsche Zeitung merkte an, dass die eineinhalbseitge Pressemitteilung, welche die Verkündung vorläufiger Ergebnisse begleitete, nicht die Kriterien für eine wissenschaftliche Vorveröffentlichung (sog. „Preprint“) erfülle.[26]
Reaktionen der Politik
Mehrere Ministerpräsidenten, der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und Bundeskanzlerin Angela Merkel warnten vor voreiligen Schritten und mahnten, nicht leichtsinnig zu sein.[27]
Reaktionen des RKI
Das Robert Koch-Institut kündigte drei Studien in Deutschland an. Bei den Untersuchungen sollen Blutproben auf Antikörper untersucht werden.[28]
Wissenschaftliche Veröffentlichungen im Kontext
Eine am 20. März 2020 vorläufig veröffentlichte Studie der Forschungsgruppe um Christian Drosten stellte in einer Validierung des in der Heinsberg-Studie verwendeten kommerziellen ELISA-Systems eine Kreuzreaktivität zum gängigen Erkältungsvirus HCoV OC43 fest.[29] Damit steht die Frage im Raum, ob mit den in der Heinsberg-Studie verwendeten Tests Antikörper gegen das SARS-CoV-2 oder gegen das Erkältungsvirus gemessen wurden. Streeck äußerte gegenüber der Presse, dass dies für die Heinsberg-Studie keine Rolle spiele. Daten, welche die Aussage belegen, liegen nicht vor.[30]
Eine am 6. April 2020 vorläufig veröffentlichte Studie der Fudan-Universität in Shanghai untersuchte 175 Patienten mit überstandener COVID-19 bezüglich ihrer Antikörperbildung mittels ELISA und Neutralisationstests. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass bei 10 Patienten keine messbare Antikörperbildung vorliege und bei rund einem Drittel der Patienten nur eine niedrige, quantitativ messbare Antikörperantwort vorliege. Aufgrund der erhobenen Daten stellten die Autoren die regelhafte Ausbildung einer antikörpervermittelten Immunität bei milden Verläufen in Frage und empfahlen weitere Untersuchungen.[31]
PR-Agentur StoryMachine
Die Studie wird von der PR-Agentur StoryMachine mit zehn Mitarbeitern begleitet. Bei Facebook und Twitter werden, ungewöhnlich für eine wissenschaftliche Studie, zahlreiche Beiträge gepostet. Der Inhaber der Agentur, die sonst wenig öffentlich in Erscheinung tritt, sagte dazu, Ziel sei es, „dieser wissenschaftlichen Arbeit größtmögliche Öffentlichkeit und Sichtbarkeit zu ermöglichen.“[32][33] Gegründet wurde StoryMachine von Ex-Bild-Chef Kai Diekmann, Ex-Stern.de-Chef Philipp Jessen und dem Eventmanager Michael Mron.[34]
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Heinsbergprotokoll - Startseite. In: facebook.com. Abgerufen am 8. April 2020.
- ↑ Heinsberg Protokoll (@hbergprotokoll) / Twitter. In: twitter.com. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Am Beispiel von Heinsberg die Pandemie verstehen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgerufen am 1. April 2020.
- ↑ Kreis Heinsberg wird zur Erstregion. land.nrw, abgerufen am 1. April 2020.
- ↑ China um Hilfe gebeten: Heinsberg steht für das größte Problem in der Corona-Krise. focus.de, abgerufen am 1. April 2020.
- ↑ COVID-19 (Coronavirus SARS-CoV-2): Risikogebiete. Robert Koch-Institut, abgerufen am 30. März 2020.
- ↑ Gangelt und der Wettlauf gegen das Coronavirus. In: wz.de. 27. Februar 2020, abgerufen am 2. April 2020.
- ↑ Coronavirus: Am Beispiel von Heinsberg die Pandemie verstehen. In: faz.net. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Wissenschaftsteam erforscht Infektionsgeschehen des Corona-Virus in Heinsberg. In: Wir in NRW – Das Landesportal (land.nrw). Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Kreis Heinsberg: Große Virus-Studie startet - Ergebnisse schon kommende Woche? - FOCUS Online. In: focus.de. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Kreis Heinsberg. In: kreis-heinsberg.de. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Coronavirus: Virologe Hendrik Streeck startet Corona-Studie in Heinsberg. In: rp-online.de. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ a b Markus Lanz vom 31. März 2020 - ZDFmediathek. In: zdf.de. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Covid-19 - Erste Studienergebnisse aus stark betroffenem Landkreis Heinsberg erwartet. In: deutschlandfunk.de. Abgerufen am 3. April 2020.
- ↑ Hendrik Streeck, Gunther Hartmann, Martin Exner, Matthias Schmid: Vorläufiges Ergebnis und Schlussfolgerungen der COVID-19 Case-Cluster-Study (Gemeinde Gangelt). (PDF) In: land.nrw. 9. April 2020, abgerufen am 9. April 2020.
- ↑ Zwischenergebnis der Heinsberg-Studie mit Virologe Streeck und Ministerpräsident Laschet - Mediathek - WDR. In: wdr.de. Abgerufen am 9. April 2020.
- ↑ Lageeinschätzung der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH). (PDF) In: krankenhaushygiene.de. 30. März 2020, abgerufen am 9. April 2020.
- ↑ Zweifel an Zuverlässigkeit ausgewerteter Tests: „Unplausible Zahlen“ – Kritik an Heinsberg-Studie - Wissen - Tagesspiegel. In: tagesspiegel.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Covid-19 - Experten-Kritik an Studie zur Corona-Epidemie in Heinsberg. In: deutschlandfunk.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Heinsberg-Studie: „Kann daraus nichts ableiten“ – Virologe Drosten übt Kritik - FOCUS Online. In: focus.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Coronavirus: Studie zu Herdenimmunität in Heinsberg unter starker Kritik - WELT. In: welt.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Heinsberg-Studie: Drei Männer, ein Protokoll und viele Fragen. In: zeit.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Kekulés Corona-Kompass. Kekulés Corona-Kompass, Folge 22, 9. April 2020
- ↑ Coronavirus: Kritik an Corona-Studie aus Heinsberg. In: zeit.de. ZEIT ONLINE, abgerufen am 10. April 2020.
- ↑ Coronavirus: Kritik an Heinsberg-Studie schließt Lockerung des Shutdowns nicht aus - DER SPIEGEL. In: spiegel.de. Abgerufen am 10. April 2020.
- ↑ Kathrin Zinkat : [Kritik und Zweifel an Studie aus Heinsberg, Süddeutsche Zeitung, 10. April 2020, abgerufen am 12. April 2020
- ↑ Ministerpräsidenten warnen vor zu früher Lockerung. In: faz.net. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Wer hatte schon Corona? - RKI kündigt mehrere Studien an. In: rbb24.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Okba NMA, Müller MA, Li W, Wang C, GeurtsvanKessel CH, Corman VM, et al. Severe acute respiratory syndrome coronavirus 2−specific antibody responses in coronavirus disease 2019 patients. Emerg Infect Dis. 2020 Jul. doi:10.3201/eid2607.200841
- ↑ Florian Schumann und Dagny Lüdemann: Kritik an Corona-Studie aus Heinsberg. DIE ZEIT, 10. April 2020, online verfügbar, zuletzt abgerufen am 12. April 2020
- ↑ Jinghe Huang, Fan Wu : Neutralizing antibody responses to SARS-CoV-2 in a COVID-19 recovered patient cohort and their implications. medRxiv, 6. April 2020, doi:10.1101/2020.03.30.20047365
- ↑ Heinsberg-Studie: Drei Männer, ein Protokoll und viele Fragen. In: zeit.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ "Heinsberg Protokoll": Zum ersten Mal spricht Philipp Jessen über ein Storymachine-Projekt › Meedia. In: meedia.de. Abgerufen am 11. April 2020.
- ↑ Corona-Krise in Deutschland: Fragen zur Heinsberg-Studie tauchen auf. In: tagesschau.de. Abgerufen am 12. April 2020.