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Dysgenik

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Dysgenik (engl. Dysgenics) bezeichnet in manchen Veröffentlichungen zur Evolutionstheorie die Schwächung eines Organismus - speziell des Menschen - relativ zu seiner Umwelt, verursacht durch verminderten Selektionsdruck oder durch negative Selektion.

Laut dem Oxford English Dictionary wurde dysgenic erstmalig 1915 benutzt, um die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges zu beschreiben. Der Begriff wurde als Gegenteil zur Eugenik geprägt, einer Soziallehre, welche die Verbesserung des menschlichen Erbgutes durch staatliche Programme und Interventionen vertrat. Eugeniker glaubten damals, Kriege hätten eugenische Wirkung, da sie die Schwächsten einer Population töten. Während des Weltkrieges wurde allerdings schnell deutlich, dass kräftige Männer ebenso schnell durch moderne Waffen getötet werden wie andere.

Nachdem die Eugenik in den 1930er Jahren diskreditiert war, kam auch der Begriff "Dysgenik" außer Gebrauch, bis der Nobelpreisträger William Shockley ihn in seiner kontroversen Rede 1963 wieder aufgriff. Dysgenics: Genetic deterioration in modern populations (Dysgenik: Genetischer Verfall in modernen Populationen) ist auch der Titel eines 1996 erschienenen kontroversen Buchs des irischen Psychologen Richard Lynn. Lynns Ansicht nach vermindern dysgenische Prozesse die Intelligenz westlicher Nationen, speziell der USA, und China werde darum den Westen eines Tages überwältigen. - Kritiker wie Stephen Jay Gould und Richard Lewontin vermuten hinter den wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Lynn und anderen Autoren rassistische Motivationen - vgl. dazu Wissenschaftlicher Rassismus.

(Im angloamerikanischen Sprachgebrauch der Biologie wird das Adjektiv "dysgenic" außerdem für ein fehlerhaft oder abnorm angelegtes Organ gebraucht.)

Lynns These

Richard Lynn (1996), emeritierter Professor der University of Ulster, bezieht sich auf Francis Galton, welcher bereits 1865 Besorgnis darüber ausdrückte, dass die Intelligenz in den Populationen westlicher Nationen abnehme. Galton nannte zwei Gründe für diese Entwicklung: zum einen die Lockerung der natürlichen Selektion, zum anderen die Beobachtung, dass weniger intelligente Leute im Vergleich zu intelligenteren im 19. Jahrhundert tendenziell mehr Kinder hatten. Lynn vertritt die Meinung, „dass Galton und die Eugeniker Recht hatten in ihrer Annahme, dass es eine umgekehrte Beziehung zwischen Intelligenz und Fertilität in modernen Populationen gibt und dass sich als Ergebnis die genotypische Intelligenz verschlechtert.“ Um dies zu belegen, führt er vier Typen von Beweisen an zur umgekehrten Beziehung zwischen sozioökonomischem Status (SoS) und Fertilität, Intelligenz und Anzahl der Geschwister, Intelligenz und Fertilität und Bildungsniveau und Fertilität.

Sozioökonomischer Status und Fertilität

Lynn erwähnt Bevölkerungsstatistiken, aus denen hervorgeht, dass bei weißen, verheirateten Frauen, die zwischen 1860 und 1870 in England und den USA geboren wurden, die Anzahl der Kinder mit abnehmendem SoS zunahm. Lynn glaubt, dass die Klassen sich auch genetisch hinsichtlich ihrer Intelligenz unterscheiden.

Vor dem Ende des 19. Jh. sei die Beziehung zwischen sozioökonomischem Status und Fertilität generell positiv gewesen, besonders in polygamen Gesellschaften, in denen Männer mit hohem Status u.U. hunderte von Frauen und entsprechend viele Kinder hatten. Grund für die Wende hin zu einer negativen Beziehung war laut Lynn die Tatsache, dass große Familien mit hoher Kinder- und Müttersterblichkeit zunehmend durch kleine Familien mit niedrigerer Sterblichkeit ersetzt wurden. Diese Entwicklung war insofern dysgenisch, als dass sie zuerst in der Mittelklasse stattfand. Als weiteren Grund für das Auftauchen dysgenischer Trends zu Beginn des 20. Jh. nennt Lynn den steigenden Gebrauch von Verhütungsmitteln. Im frühen 19. Jahrhundert erschienen die ersten Bücher zur Geburtenkontrolle, die anfangs nur von wenigen Mitgliedern der Ober- und Mittelklassen gelesen wurden. Später verbreitete sich das Wissen durch die ganze Gesellschaft und führte insgesamt zu einer Abnahme der Fertilität. Heute sind sowohl die allgemeine als auch die dysgenische Fertilität insgesamt niedrig. Dass dysgenische Trends dennoch vorhanden sind, liegt Lynn zufolge darin, dass weniger intelligente Menschen auch weniger effektiv verhüten und somit mehr Kinder haben, als sie für ideal halten.

Intelligenz und Anzahl der Geschwister

Lynn erwähnt, dass ab 1925 erste Studien zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und der Anzahl der Geschwister erschienen. Sie fanden alle eine negative Beziehung, d.h. je intelligenter ein Kind, desto geringer die Anzahl seiner Geschwister. So fanden Chapman und Wiggins für diesen Zusammenhang (1925, zit. nach Lynn, 1998) eine Korrelation von -.33 bei 629 12-14jährigen Schülern. Lynn erwähnt auch Theodore Lentz (1977, zit. nach Lynn, 1998), der versuchte, die Abnahme der Intelligenz aus dem Zusammenhang von Intelligenz und Anzahl der Geschwister zu errechnen. Dazu gewichtete er den Intelligenzquotienten der Eltern (der dem der Kinder entsprechen sollte) mit der Anzahl der Kinder und berechnete so aus den Daten von 4330 Kindern und Jugendlichen eine Abnahme von 4 IQ-Punkten pro Generation.

Intelligenz und Fertilität

Obwohl Lynn die von Lentz entwickelte Methode im Grunde für vernünftig hält, gesteht er doch ein, dass einige ihrer Annahmen als fragwürdig aufgefasst werden können. Eine unkompliziertere Methode zur Bestimmung einer Abnahme der genotypischen Intelligenz besteht seiner Meinung nach darin, die Beziehung zwischen der Intelligenz Erwachsener und der Anzahl ihrer Kinder zu bestimmen. Ist sie negativ, müsste laut Lynn die genotypische Intelligenz abnehmen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen adäquate Studien zu diesem Thema. Von zehn größeren Studien, die in den USA durchgeführt wurden, fanden die ersten vier eugenische Beziehungen, also einen positiven Zusammenhang zwischen Intelligenz und Fertilität, die übrigen negative, dysgenische Beziehungen.

Osborne (1975, zit. nach Lynn, 1998) fand als erster einen starken dysgenischen Trend. Er setzte Daten über den IQ aller Kinder zwischen 10 und 14 Jahren in Georgia in Beziehung zu den Fertilitätsraten der 159 Bezirke, denen die Kinder angehörten, wobei er auch Schwarze sowie Kinder unverheirateter Frauen und kinderlose Frauen erfasste. Osborne fand Korrelationen zwischen -.43 bis -.54, also einen relativ hohen negativen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Fertilität. Vining (1982, zit. nach Lynn, 1998) bestätigte diese Ergebnisse in zwei Studien mit Individualdaten. Auch Rutherford und Sewell (1988, zit. nach Lynn, 1998) fanden in einer Stichprobe von 10.317 1957 Personen signifikante negative Korrelationen zwischen Intelligenz und Fertilität. Sie errechneten eine Abnahme der genotypischen Intelligenz von 0.32 Punkten pro Generation, wobei sie eine Erblichkeit von .40 annahmen.

Bildungsniveau und Fertilität

Die Korrelation zwischen Bildungsniveau und Intelligenz liegt Lynn zufolge bei etwa .6, weshalb das Bildungsniveau als indirektes Intelligenzmaß betrachtet werden könne. In den USA wurden Daten zur Beziehung zwischen dem Bildungsniveau von Frauen und der Anzahl ihrer Kinder in den Volkszählungen von 1940, 1960 und 1990 gesammelt und u.a. von Osborne (1951) ausgewertet. Dabei wurden auch unverheiratete Frauen berücksichtigt. Um ein ungefähres Maß für die Größe der dysgenischen Fertilität zu erhalten, wurden sog. dysgenische Raten errechnet, indem die Fertilität der am wenigsten gebildeten Frauen durch die der am höchsten gebildeten geteilt wurde. Mit Bezug auf die säkularen Trends in der Fertilität in Beziehung zum Bildungsniveau weißer Frauen, kann man dysgenische Fertilität in der ersten Kohorte (geboren 1890 bis 1895) beobachten (dysgenische Rate: 2.79) und eine Abnahme dysgenischer Fertilität bei den 20 Jahre später geborenen (dysgenische Rate: 1,42). Für die Kohorte von 1956 bis 1972 antizipiert Lynn einen Wert von 1.18. Die gleiche Entwicklung zeigt sich auch bei den Schwarzen. Hier erreicht die Kohorte von 1915 bis –1919 einen Wert von 1,93, die von 1946 bis 1955 einen Wert von 1,62 und die von 1956 bis 1972 einen antizipierten Wert von 1,34. Um diesen antizipierten Wert von 1,34 zu erhalten befragte Lynn Frauen nach ihrer Familienplanung und schätzte daraus die zu erwartende durchschnittliche Anzahl der Kinder. Weltweit wurden sehr ähnliche Beziehungen gefunden, auch in ökonomisch weniger entwickelten Ländern wie Lateinamerika, der Karibik, Asien und Nordafrika.

Rezeption in der Fachwelt

Nach John C. Loehlin (1998) besteht Lynns Verdienst darin, dass er eine Vielfalt von Daten zum Zusammenhang zwischen Intelligenz und Fertilität zusammengetragen hat. Seine Forschung lasse erkennen, dass Reproduktionsmuster sich in der modernen Welt schnell verändern könne als Reaktion auf Veränderungen in Wissen (z.B. um Verhütung) und Werthaltungen. Allerdings teilt Loehlin Lynns Besorgnis um die Zukunft der U.S.-Bevölkerung nicht. Seiner Meinung nach können die derzeit sehr schwachen dysgenischen Trends problemlos ausgeglichen werden, so z.B. durch eine Verbesserung der Kinderbetreuung an Hochschulen.

Der Psychologe Irwin D. Waldman (1998) hält die Beweislage für einen dysgenischen Trend für schwach: „Autoren wie Lynn [...] scheinen dysgenische Trends als die Verbindung zwischen a) zunehmender Fertilität mit abnehmendem IQ und b) der Erblichkeit des IQ zu definieren.“ Waldman hält es für sinnvoller, den einen dysgenischen Trend in populationsgenetischen Begriffen zu definieren, „als eine Abnahme der Allele, die zu einem höheren IQ prädisponieren und einer Zunahme der Allele, die zu niedrigerem IQ prädisponieren in einer Population von einer Generation zu folgenden Generationen.“ Diese Art der Definition sei nicht nur genauer, sondern erfasse auch Faktoren, die kritisch für Veränderungen in genetischen Einflüssen auf die Intelligenz von Populationen über Generationen hinweg sind.

Waldman kritisiert, dass Lynn die Stichprobengrößen der von ihm herangezogenen Studien nicht immer expliziert bzw. einige Studien zitiert, die mit sehr kleinen Stichproben arbeiten, aus denen sich keine so weitreichenden Schlüsse ziehen lassen. Auch hebt er hervor, dass in so kleinen Stichproben nur sehr wenige Frauen mit extremen IQ-Werten auftreten, weshalb die so gefundene Beziehung von Fertilität und Intelligenz sehr instabil sei. Zudem stellt Waldman heraus, dass sich die Beziehung zwischen zwei Variablen beträchtlich unterscheiden kann, abhängig davon, ob sie aus Gruppen- oder Individualdaten geschätzt wurde (Ökologische Korrelation). Dieses Problem werde von Lynn nicht thematisiert, obwohl er überwiegend Studien mit Gruppendaten zitiere. Waldman hält Lynns Schätzung von .80 für die Heritabilität der Intelligenz für extrem hoch, zumal diese nur auf zwei Studien basiere. Er schlägt eine Schätzung von .60 vor.

Als mögliche Störgrößen nennt Waldman zwei demografische Faktoren, die von Lynn nicht thematisiert werden: das Alter der Eltern bei der Schwangerschaft und die Beziehung zwischen Kindersterblichkeit und Intelligenzniveau. Er hält es für wahrscheinlich, dass Kinder von weniger intelligenten Eltern eine höhere Mortalitätsrate aufweisen als solche von intelligenteren Eltern, was ihm zufolge einen dysgenischen Trend durchaus beeinflussen könnte. Auch hätten viele Studien nur sehr junge Frauen untersucht, obwohl bekannt sei, dass Personen mit niedrigerem IQ tendenziell früher Kinder bekommen.

Weiterhin hält Waldman es für problematisch, dass Lynn eine breite Erblichkeitsschätzung verwendet. Breite Erblichkeitsschätzungen enthalten im Gegensatz zu engen nicht nur additive, sondern auch nichtadditive genetische Varianz, die durch interaktive Effekte verschiedener Allele zustande kommt. Sie kann von eineiigen Zwillingen geteilt werden und zu einem geringeren Grad auf von Geschwistern und zweieiigen Zwillingen, nicht aber von Eltern und ihren Kindern. Waldman zitiert neuere verhaltensgenetische Analysen, denen zufolge nichtadditive genetische Einflüsse eine wichtige Quelle für Intelligenzunterschiede sind, sobald assortative Partnerwahl, also Partnerwahl nach bestimmten Kriterien, in Betracht gezogen wird. So fanden Chipper (1990, zit. nach Waldman, 1998) und Loehlin (1989, zit. nach Waldman, 1998) für den IQ breite Erblichkeitsschätzungen von .5-.6, schätzen aber auch, dass .15- .20 davon auf nichtadditive genetische Varianz entfallen. Insgesamt hält Waldman eine Heritabilitätsschätzung der Intelligenz von 0.3 als Grundlage für Lynns Berechnungen für angemessen.

Des weiteren stellt Waldman heraus, dass Lynn implizit annimmt, dass Faktoren, die genetische Einflüsse auf die Intelligenz betreffen, über Generationen sehr stabil sind. Generell ist dieser Bereich wenig erforscht. Waldman zitiert jedoch eine Studie von Vogler und Rao (1986, zit. nach Waldman, 1998). Die Forscher fanden heraus, dass im Hinblick auf Intelligenz sowohl Korrelationen zwischen Ehepartnern als auch zwischen Eltern und Nachwuchs über die Zeit abzunehmen scheinen, was vermuten lässt, dass der genetische Einfluss auf den IQ ebenfalls abnimmt. Im Gegensatz dazu scheint laut Waldman die assortative Partnerwahl nach Bildungsniveau in den letzten Generationen zuzunehmen.

Samuel Preston (1998) hält die Erwartung, dass höhere Fertilität bei Personen mit niedrigerem IQ eine Intelligenz-Abnahme in der Bevölkerung bewirkt, zwar für vernünftig, aber nicht unbedingt für korrekt. Er stellt fest, dass „die Natur [...] voller Beispiele [ist], bei denen Mitglieder einer Spezies durch die Stärke eines Merkmals einen Reproduktionsvorteil erhalten [...] ohne irgendeine wahrnehmbare Veränderung der Verteilung des Merkmals in der Population.“ Auch verweist er auf die Entdeckung der Evolutionsbiologie, dass unterschiedliche Fertilität im Bezug auf ein Merkmal oft konsistent ist mit einer konstanten Verteilung des Merkmals in der Population, eine Einsicht, die er auf die Intelligenz übertragen möchte.

Preston und Campbell (1993, zit. nach Preston, 1998) untersuchten diese Problem anhand von Modellrechnungen und stellten fest, dass die Mobilität von Eltern- zu Kinder-IQs ausreicht, um den Effekt von Fertilitätsunterschieden auf IQ-Trends auszugleichen. Ihm zufolge produziert jedes Muster von Fertilitätsunterschieden, wenn es mit einer konstanten Wahrscheinlichkeitsverteilung des IQs der Kinder (den ihrer Eltern gegeben) kombiniert wird, ein Gleichgewicht in der Intelligenzverteilung, sowohl bei endogamer als auch bei zufälliger Partnerwahl.

Literaturverzeichnis

  • Loehlin, J.C. (1998). Whither Dysgenics? Comments on Lynn and Preston. In: U.Neisser (Ed), The rising curve. Washington, D.C. American Psychological Association, 389-398
  • Lynn, R. (1998). The Decline of Genotypic Intelligence. In: U.Neisser (Ed), The rising curve. Washington, D.C. American Psychological Association, 335-364
  • Preston, S.H. (1998). Differential Fertility by IQ and the IQ Distribution of a Population. In: U.Neisser (Ed), The rising curve. Washington, D.C. American Psychological Association, 377-388
  • Waldman, I.D. (1998). Problems in Inferring Dysgenic Trends for Intelligence. In: U. Neisser (Ed), The rising curve. Washington, D.C. American Psychological Association, 365-376