Revisionismus
Mit dem Begriff Revisionismus (v. lat.: re wieder; videre durchsehen; aus französ.: revisionisme etwas Festgelegtes in Frage stellen [1897]) wird, meist polemisch, das Bestreben eines Teiles einer Interessengruppe bezeichnet, von einer als gemeinsam und verbindlich anerkannten Grundlage abzugehen. Der Begriff kann je nach Zusammenhang unterschiedliche, teilweise sogar widersprüchliche Bedeutungen annehmen:
1. Politisch-pragmatischer Revisionismus
Revisionismus (als deutscher Begriff ab 1903 nachgewiesen) bzw. das revisionistische Abweichen wird in der Politik und Politikgeschichte in der Regel als die moderate, pragmatische und realitätsnahe Herangehensweise beim Durchsetzen der jeweiligen Ziele begriffen. Die dabei an den Tag gelegte Kompromissbereitschaft wird von der jeweils orthodoxeren Gruppe als Verrat beargwöhnt.
- Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich unter Eduard Bernstein innerhalb der SPD eine Strömung der Revisionisten, die den Klassenkampf als Primärziel zu Gunsten eines realpolitischen Kurses aufgab ("Der Weg, nicht das Ziel ist entscheidend"). Der Flügelstreit in der Partei verschärfte sich bis zum 1. Weltkrieg wegen der Befürwortung der Revisionisten von Kriegsanleihen. Während des Krieges kam es zur Spaltung der Partei und in der Folge 1918/19 zur Gründung der KPD. Die Kommunisten nutzten den Begriff als Schlagwort, um zu Beginn der Weimarer Republik die SPD-Regierung heftig zu kritisieren, nachdem der Wehrminister Gustav Noske mit Hilfe illegaler Milizen (den Freikorps) Arbeiteraufstände und Streiks niederschlagen ließ. Weitere SPD-Politiker, denen eine revisionistische Haltung vorgeworfen wurde, waren Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert.
- Die Argumentation, die SPD würde sich von ihren Grundwerten entfernen, wurde 1959 wieder vom linken SPD-Flügel aufgegriffen, als die Partei das Godesberger Programm verabschiedete. Mit dieser Revision ihrer Ziele erkannte die Partei die soziale Marktwirtschaft an und vollzog in der Nachkriegszeit den Schritt von einer Klientel-Partei der linksgerichteten Arbeiterschaft zur Volkspartei.
2. Politisch-ideologischer Revisionismus
Aber auch der Gegensatz zur genannten Position, das zugespitzt fundamentalistisch - ideologische, das intolerante und gewaltbereite Herangehen beim Durchsetzen des Programms kann als Revisionismus beschrieben werden.
- So lehnte die 1925 gegründete militante Revisionistische Zionistische Allianz in Palästina jegliche Zusammenarbeit sowohl mit der britischen Mandatsregierung als auch mit den benachbarten Arabern radikal ab.
3. Historisch-nationalsozialistischer Revisionismus
Mit "Revisionismus" bezeichnet man weiterhin in der deutschen Geschichte das Bestreben, insbesondere die historischen Fakten über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren, "revidieren" und zu verharmlosen.
- Im Zentrum revisionistischen Bemühens steht die Leugnung des Holocaust sowie die Leugnung der Kriegsschuldfrage. Zu den Revisionisten zählen u.a. Ernst Zündel und Fred Leuchter. Als Zentrale des "Revisionismus" kann man das Institute for Historical Review Kalifornien ansehen.
4. Historisch-wissenschaftlicher Revisionismus
Andererseits werden auch wissenschaftliche Enthüllungen von konservativer Seite als Revisionismus angegriffen. So untersuchten US-Historiker die Rolle der USA im 1. Weltkrieg. Mit ihren Forschungsergebnissen revidierten und korrigierten sie ein bis dahin die USA schön färbendes interessengeleitetes Geschichtsbild.
- In Anlehnung an diese Bedeutung wurden Mitte der 1990er israelische Historiker wie Benny Morris oder Ilan Pappe als Revisionisten bezeichnet, die unabhängig von einander die Vertreibung der arabischen Bevölkerung kurz vor der Gründung Israels 1948 untersuchten. Die Arbeiten erregten international Aufsehen, da die Quellenlage bis dahin kaum erschlossen und das Geschichtsbild speziell auf israelischer Seite propagandistisch gefärbt war. Die Revisionisten belegten die Zerstörung von 418 arabischen Dörfern im heutigen Staatsgebiet Israels. Von einigen israelischen Hardlinern werden diese Fakten bis heute abgestritten oder verharmlost.
5. Territorialer Revisionismus
Schließlich bezeichnet Revisionismus in der Geschichte der Politik das Bestreben, bestimmte, häufig in der Folge von Kriegen zu vertraglichem Recht gewordene Fakten rückgängig zu machen. Hauptsächlich sucht der Revisionismus, bestimmte zum Territorium eines anderen Landes gehörende Gebiete als legitimen und ursprünglich eigenen Besitz darzustellen, und deren Erwerb zu erreichen.
- Mit der Annexion von Elsass-Lothringen 1870/71 rief Deutschland einen französischen Revisionismus hervor.
- Die mit dem Ausgang des 1. Weltkrieges verbundenen Gebietsabtretungen an die Slowakei und Rumänien schürten den ungarischen Revisionismus.
- Das revisionistische Vorgehen der Nationalsozialisten unter Hitler gegen den Versailler Vertrag fand in Deutschland 1933 uneingeschränkte Zustimmung.
- Nach 1945 bestreitet der Revisionismus in Deutschland die im Zuge des Potsdamer Abkommens gezogenen deutschen Grenzen nach Osten. Diese völkerrechtlich gültigen Grenzen, insbesondere die von Deutschland als unantastbar angesehene Oder-Neiße-Linie unterliegen anhaltender Kritik revisionistischer Kreise. Dabei stellen sich Vertreter dieses Revisionismus auf den Standpunkt von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgt oder ignoriert zu werden. So wird - gegen besseres Wissen - behauptet, die wissenschaftliche Forschung kümmere sich nicht um die Fakten der Vertreibung. Gleichzeitig werden von dieser Richtung hartnäckig Fakten ignoriert, die eine Gegenposition zur revisionistischen Position begründen. So gefallen sich Revisionisten aus deutschen Vertriebenenkreisen darin, alleinige Opfer des Zweiten Weltrkriegs zu sein. Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden von diesen zwar nicht unmittelbar gebilligt, da sie aber eine (von mehreren) Ursache(n) für das Vorgehen der kommunistischen Regime gegen Deutsche nach 1945 waren, werden sie von diesen Kreisen totgeschwiegen. Ziel ist es, die Vertreibung der Deutschen als unprovoziertes, ungerechtfertigtes und in keiner Weise nachvollziehbares Verbrechen erscheinen zu lassen. Dadurch glaubt man, eine Rechtfertigung für Gebietsforderungen gegenüber mittel- und osteuropäischen Staaten in der Hand zu haben.
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Beispiel für Geschichtsrevisionismus: Die Jahre von 1933-1945 sind in einer Chronologie Preußens bewusst ausgelassen, um dadurch die Vertreibung von 1947 als ein Verbrechen erscheinen zu lassen, das ohne jede Motivation und Vorgeschichte begangen worden sei.