Scharia
Die Schari'a (arabisch شريعة scharī'a Wasserstelle, Weg zur Tränke, religiöses Gesetz; auch: شرع schar`), das islamische Recht, ist eine religiöse Pflichtenlehre, die die Regelung aller Bereiche des menschlichen Daseins anstrebt. In kasuistischem Aufbau bestimmt sie die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber Anderen und gegenüber Gott. Trotz gelegentlicher Versuche ist die Schari'a nie kodifiziert worden, weshalb Detailfragen immer wieder durchaus strittig diskutiert werden. Die Pflege und Entwicklung der Schari'a obliegt der islamischen Jurisprudenz (فقه fiqh).
Die Wurzeln der Rechtswissenschaft
Die vier orthodoxen Rechtsschulen kennen 4 «Wurzeln der Rechstwissenschaft» (اصول الفقه usūl al-fiqh), von denen allerdings nur die ersten beiden den Charakter von Quellen haben:
- Der Koran ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle. Allerdings haben nur einige hundert Verse juristischen Bezug, weshalb schon früh die zweite Rechtsquelle hinzugezogen wurde.
- Die Sunna des Religionsstifters Muhammad, sein gelebtes Vorbild und seine Aussprüche, stellt den Großteil des Materials der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna wird in Hadithen überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Muhammads eskalierende «Hadith-Inflation» führte im 9. Jahrhundert zur Kodifizierung der «authentischen» Hadithe in den «Sechs Büchern» (الكتب الستة al-kutub as-sitta), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen.
- Qiyas, der «Analogieschluss», erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), dass strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, z.B. in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position die allerdings von keinem Rechtsgelehrten unterstützt wird.
- Idschma, der Konsens, meint nicht den Konsens der gesamten muslimischen Gemeinde (umma), sondern den der Rechtsgelehrten (consensus doctorum). Ist der Konsens erst einmal erreicht, was daran erkannt wird, dass kein Einspruch eines anerkannten Rechtsgelehrten vorliegt, gilt ein Rechtsproblem in der Orthodoxie als endgültig abgeschlossen. Das hat historisch zu einer Stabilisierung der Schari'a geführt, die allerdings von Manchen auch als «Erstarrung» bezeichnet wird.
Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:
- Das Gewohnheitsrecht (عرف urf oder عادة āda). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den idschma legitimiert. Das medinensische Gewohnheitsrecht spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken der eroberten Gebiete.
- Die «Entscheidung nach eigenem Gutdünken» (رأى ra'y) des Juristen, dort wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten, stand schon früh in der Kritik und ist heute nicht mehr statthaft. Allerdings lebt der ra'y insofern in abgeschwächter Form im qiyas fort, als es im Ermessen des Juristen liegt, welche Präzedenzfälle er als analog betrachtet.
- Der Idschtihad (اجتهاد idschtihād), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im orthodoxen Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt, bis im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen um das Jahr 300 der Hidschra, das «Tor das Idschtihad» als geschlossen galt. In der Schia wird er weiterhin eingesetzt, die formalen Anforderungen an die Ausbildung des entsprechend befähigten Teologen sind jedoch sehr hoch. In jüngerer Zeit wurde von Seiten von Reformbewegungen (z.B. der Salafiya, aber auch liberalen Muslimen – allerdings mit entgegengesetzten Zielen) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert, bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.
Handlungen des Menschen
Die fünf Kategorien
Die Schari'a teilt die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien ein, die wie angegeben bewertet werden:
- Pflicht (فرض fard oder واجب wādschib) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft
- Empfehlenswert (مندوب mandūb oder مستحب mustahabb oder سنة sunna) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen nicht bestraft
- Indifferent (مباح mubāh) – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft
- Verwerflich (مكروه makrūh) – das Tun wird nicht bestraft, das Unterlassen belohnt
- Verboten (حرام harām) – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt
Wenn hier von «belohnt» und «bestraft» gesprochen wird, so sind damit nur teilweise juristische Folgen gemeint, denn Pflichtverstöße gegenüber Gott lässt das islamische Recht in der Regel ungesühnt.
Elemente einer Handlung
Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان arkān) gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية nīya): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig.
Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح sahīh) oder nichtig (باطل bātil) ist.
Teilbereiche der Scharia
Strafrecht
Erbrecht
Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen), in der insbesondere der Erbteil der Frauen geregelt wird, was auf eine Präzisierung vorislamischen Erbrechts schließen lässt.
Aus unserer Sicht auffallend ist, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann und dass Schulden nicht vererbt werden. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt.
Wirtschaft
Geltung in islamischen Staaten der Gegenwart
Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» 1990 ist die Scharia wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der Türkei, über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich (Tunesien) bis zur fast vollständigen Geltung (Sudan). Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria). Zur Zeit ist die Scharia geltendes Recht in Nigeria (einige Bundesstaaten), Iran, Saudi-Arabien, Bangladesch, Afghanistan, Marokko, Sudan, Katar und Pakistan.
Literatur
- Richard Hartmann: Die Religion des Islam. Darmstadt 1987. ISBN 3-534-01664-4
- Said Ramadan: Das islamische Recht: Theorie und Praxis. Wiesbaden 1980. ISBN 3-447-02078-4
Weblinks
- Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam – englisch. Die Deklaration stammt von der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz), der alle islamischen Staaten angehören. Sie stellt die Menschenrechte unter den Generalvorbehalt der Schari'a.
Siehe auch
Liste islamischer Begriffe auf Arabisch, Strafgesetz der Islamischen Republik Iran
Diskussion weiterer Teilbereiche der Scharia, Geltung der Scharia in einzelnen Ländern