Masse (Sozialwissenschaften)
Der Begriff Masse bezeichnet eine große Menge von Menschen, die konzentriert auf relativ engem Raum miteinander kommunizieren, agieren und reagieren.
Das Auftreten des Menschen in der Geschichte als Masse ist ein Phänomen höherer Zivilisationen und hat seine Ursache in der mit dem Bevölkerungswachstum verbundenen Urbanisierung.
Das Auftreten und Verhalten der Masse hat eigene Gesetzmäßigkeiten.
Eine Masse wird durch ein System von Signalen und Symbolen koordiniert.
Dies geschieht i.d.R. durch festgeprägte Regularien wie Brauchtum, Politik, Religion etc.
Die Masse ist andererseits zur Schaffung eigener Dynamik in der Lage Gerücht, Flucht, Panik, Lynchjustiz etc.
In der Neuzeit findet eine Orientierung zu neuen Massenkoordinationssystemen statt: Massenmedien übernehmen abgewandelte Regularien unter Einbeziehung eigendynamischer Strukturen. Politik und Kommerz entfalten unter Übernahme der Massenmedien ihre Macht bis ins Totale und Globale.
Arten von Massen
- Gerichtete Masse
spontane oder provozierte Ausschreitungen, zielgerichtete gegen abweichende Einzelne oder kleine Gruppen
- Indifferente Masse
die Masse schlägt in ihrer Meinung ins Gegenteil um: die Euphorie wird zum Haß und zur Aggression ("Hosianna-Kreuzige-Effekt")
- Hetzmasse
Demagogie und Hetze vermögen Minderwertigkeitsgefühle auf andere zu projizieren; die Gewissheit der Zugehörigkeit zu den "Guten" erleichtert das Vorgehen gegen die minderwertigen anderen bis zur Bereitschaft ihrer Vernichtung
- Fluchtmasse
in Momenten drohender Gefahr reagiert die Fluchtmasse irrational; sie richtet ihre Bewegung nicht vernünftiger Erwägung aus, sondern vergrößert mitunter die Bedrohung
- Verbotsmasse
das Aufbegehren gegen Benachteiligungen lässt eine Verbotsmasse entstehen: eine fest organisierte Masse (z.B. in einem Streik)
- Umkehrungsmasse
Eine unterdrückte Masse wird Umkehrungsmasse genannt, wenn sie gewaltsam gegen ihre Unterdrücker vorgeht, um die Verhältnisse umzukehren (z.B. Rebellion).
Untersucht wurde das Massenphänomen u.a. von
- Gustav Le Bon, Psychologie der Massen (1895), der erkannte, dass Massen kritik- und prinzipienlos, daher leicht lenk- und umstimmbar seien. Da sie Ideen und Ideale eher in minderwertiger depravierter Form aufzunehmen vermögen, werde ihre Vorstellungskraft nicht durch Vernunft sondern durch Bilder (Sensationen, Skandale) gelenkt. Dann aber seien sie fähig, diese mit höchster Leidenschaft und Gewaltsamkeit umzusetzen.
- Jose Ortega-y-Gasset, Der Aufstand der Massen 1929 der pointiert formulierte "Wenn die Masse selbständig handelt, tut sie es nur auf eine Art: Sie lyncht."
- David Riesman, Die einsame Masse (1950) der die Ablösung des "traditionsgeleiteten Menschen" durch den "außengeleiteten" in seinen gesamten Lebensvollzügen und -äußerungen durch Massenmedien gelenkten und bestimmten Menschen diagnostizierte
- Elias Canetti, Masse und Macht (1960), der in einer historisch ausgreifenden transkulturellen Studie das Wesen der Masse als zusammengehörig mit dem Phänomen der Macht erkennt, welches er in der Struktur von Befehl und Stachel charakterisiert. Als lenkendes führendes Prinzip erkennt er den Drang zur Selbsterhaltung
- Hermann Broch, Massenwahntheorie ( 1948 postum 1979), der ein nach Befriedigung und Eindeutigkeit strebendes Bedürfnis der Massen konstatiert, welches - im pathologischen Fall - von Führerideologien (was er am Faschismus nachweist) erfüllt zu werden scheint. Dem stellt er Religionsstifter gegenüber, deren Zielstellung Ewigkeit und Menschheit sich von der totalitären des Fortschritt und die ‚Massen' wesentlich unterscheiden. Die Demokratie sei gegenwärtig gegen einen Rückfall keineswegs immun.