Lateinische Aussprache
Die Lateinische Aussprache unterscheidet sich, wie Linguisten festgestellt haben, von der an vielen Schulen im Unterricht vermittelten Aussprache. Obwohl sich der Aussprachegebrauch seit etwa 100 Jahren vermehrt dem des klassischen Lateins (wie es zu Ciceros und Caesars Zeiten von gebildeten Sprechern ausgesprochen wurde) anzunähern versucht, ist er nach wie vor von den Aussprachegewohnheiten der Muttersprache der Lernenden beeinflusst.
In folgender Übersicht gilt:
- Die Vokallängen werden nach heute üblichem Gebrauch als Strichlein über dem Buchstaben angegeben.
- Die annähernd phonetische Aussprache nach dem System des Internationalen Phonetischen Alphabets (Zeichenliste) steht zwischen eckigen Klammern.
Im Bereich der lateinischen Vokalmusik unterscheidet man neben der Aussprache des Lateinischen im Raum der deutschen Sprache zwischen der Deutschen Aussprache des Lateinischen und der Italienischen Aussprache des Lateinischen. Je nach Entstehungszeit und -ort muss vom Interpreten eine Aussprache gewählt werden.
Vokale
Es ist streng zu unterscheiden zwischen langen und kurzen Vokalen; für Deutschsprachige zu beachten ist insbesondere:
- Die Verteilung der Vokallängen und -kürzen gehorcht anderen Regeln, das heißt:
- Lange Vokale können in jeder Wortsilbe vorkommen, nicht nur in betonten Silben: Rōmānī „die Römer“ = [roːˈmaːniː], vīdī „ich habe gesehen“ = [ˈwiːdiː].
- Im Gegensatz zum Deutschen werden betonte Vokale in offenen Silben nicht stets gelängt, vergleiche die lateinischen Wörter und die Aussprache der deutschen Lehnwörter in:
- lat. globus „Kugel“ = [ˈɡlɔbʊs] vs. dt. Globus [ˈɡloːbʊs]
- lat. rosa „Rose“ [ˈrɔsa] vs. dt. Rose [ˈroːzə]
- lat. Venus [ˈwɛnʊs] vs. dt. Venus [ˈveːnʊs]
- Einzelne Vokale:
- Langes ē ist geschlossen zu artikulieren: ēmī „ich habe gekauft“ = [ˈeːmiː] wie in dt. nehmen = [ˈneːmən]
- Kurzes e ist eher offen, vergleiche emere „kaufen“ = [ˈɛmɛrɛ] wie ä in dt. Gäste = [ˈɡɛstə], aber in unbetonten Silben niemals zu [ə] abgeschwächt
- Langes ō ist geschlossen, vergleiche Rōma „Rom“ = [ˈroːma] wie o in dt. Bohne [ˈboːnə]
- Kurzes o ist eher offen, also lateinisch bonus „gut“ = [ˈbɔnʊs] wie o in dt. Bonn = [bɔn]
- Kurzes i ist leicht geöffnet auszusprechen, vergleiche it „er/sie geht“ = [ɪt] wie i in dt. Bitte = [ˈbɪtə]
- Dasselbe gilt für kurzes u, vergleiche lat. humus „Erde“ = [ˈhʊmʊs] wie u in dt. Fluss = [flʊs] bzw. das u der Schlusssilbe in dt. Humus = [ˈhuːmʊs]
Diphthonge
Außer dem ganz seltenen ui existieren im Latein nur noch vier Diphthonge:
- au: lat. aurum „Gold“ = [ˈaʊ̯rʊm] wie dt. Haus = [haʊ̯s]
- ae ist in vorchristlicher Zeit noch klar diphthongisch, also lat. maestus „traurig“ = [ˈmaɪ̯stʊs] wie ei in dt. meist = [maɪ̯st]
- eu ist eine einsilbige Folge von kurzem, offenem [ɛ] und einem [ʊ], also Eurōpa „Europa“ = [ɛʊ̯ˈroːpa], aber auf keinen Fall ein dt. eu wie eu in Europa = [ɔɪ̯ˈroːpa]
- oe entspricht dem zuvor erwähnten deutschen Diphthong, vergleiche lat. poena „Strafe“ = [ˈpɔɪ̯na] wie eu dt. Europa = [ɔɪ̯ˈroːpa], aber es ist keinesfalls als [ø] auszusprechen
Konsonanten
- Alle doppelt geschriebenen Konsonanten werden gelängt ausgesprochen, vergleiche lat. crassus „dick“ = [ˈkrasːʊs], repperit „er/sie hat gefunden“ = [ˈrɛpːɛrɪt].
- c entspricht in klassischer Zeit einem unaspirierten deutschen k. Im Mittellateinischen geht man zu folgender Regel über:
- Wenn [a], [e], [o], [u] oder ein Konsonant folgt, ist die Aussprache [k], vergleiche
- lat. canis „Hund“ = [ˈk⁼anɪs], aber dt. kann = [kʰan]
- Wenn [i] folgt, wird [c] ausgesprochen, vergleiche lat. cinis „Asche“ = [ˈcɪnɪs] ungefähr wie k in dt. Kinn [kʰɪn], aber ohne Behauchung.
- Wenn [a], [e], [o], [u] oder ein Konsonant folgt, ist die Aussprache [k], vergleiche
- f: Es wird angenommen, dass es ausgesprochen wurde wie dt. [f], doch ist dies nicht erwiesen; möglich wäre auch die Aussprache [ɸ].
- gn wird artikuliert wie eine deutsche Folge von velarem ng plus n, also lat. ignis „Feuer“ = [ˈɪŋnɪs]
- h wurde in klassischer Zeit zumindest von den oberen Schichten und am Wortanfang noch wie ein deutsches [h] (oder allenfalls etwas schwächer) artikuliert; bei der Unterschicht war es bereits zur Zeit Catulls (84–54 v. Chr.) verstummt.
- i wird in der Nachbarschaft von Vokalen als [j] ausgesprochen, vergleiche
- am Wortanfang: lat. iūstus „gerecht“ = [ˈjuːstʊs] wie j in dt. just [ˈjʊst]
- im Wortinneren zwischen Vokalen höchstwahrscheinlich als langes [jː], vergleiche eius „sein/ihr“ = [ˈɛjːʊs],
- im Wortinnern zwischen Konsonant und Vokal: als Folge [ij], vergleiche fīlius „Sohn“ = [ˈfiːlijʊs] (dreisilbig)
- l hatte zwei verschiedene Aussprachen:
- vor [i] sowie als langes ll: wie deutsches [l], vergleiche
- fīlius „Sohn“ = [ˈfiːlijʊs]
- bellus „schön“ = [ˈbɛlːʊs] ähnlich wie dt. Elle = [ɛlə], aber mit gelängtem l
- in allen anderen Fällen: als velares [ɫ], vergleiche cūlus „Arsch“ = [ˈkuːɫʊs]; lūna „Mond“ = [ˈɫuːna], ähnlich wie l in engl. well „gut“ [wɛɫ] beziehungsweise luck „Glück“ = [ɫʌkʰ].
- vor [i] sowie als langes ll: wie deutsches [l], vergleiche
- m wurde wie deutsch [m] ausgesprochen, war aber am Wortende außer bei einsilbigen Wörtern weitgehend verstummt; zum Teil dürfte der Vokal davor nasaliert ausgesprochen worden sein, vergleiche lat. Rōmam (Akkusativ Singular) = [ˈroːmã(m)] oder vor allem in weniger sorgfältiger Aussprache = [ˈroːma]. Am Silbenende wurde m, wenn ein Konsonant folgt, an diesen assimiliert (ähnlich wie der Anusvara des Sanskrit, im Wortinnern); vergleiche die Schreibungen eandem oder ’hanc, wobei bei letzterem Wort n für den velaren Laut [ŋ] steht. Vermutlich war dies auch der Fall, wenn auf ein Wort mit m am Ende eines mit konsonantischem Anfang folgt; vergleiche lat. tum dixit = [tʊnˈdiːksɪt] usw. Daher rührt Ciceros Warnung, cum nos – mit cum als Konjunktion eines Nebensatzes – deutlich auszusprechen, da es andernfalls wie die Akkusativ-Form von cunnus „Fotze“ klänge.
- n wird wie im Deutschen ausgesprochen, außer in den Konsonantengruppen ns und nf, wo es in klassischer Zeit wenn überhaupt, dann höchstens noch ganz schwach artikuliert wurde, während dafür der davor stehende Vokal sicher mehr oder weniger deutlich nasaliert und gelängt ausgesprochen wurde, vergleiche lat. ānser „Gans“ = [ˈãːnsɛr] oder sogar [ˈãːsɛr] ähnlich wie an in frz. pantalon „Hose“ = [pɑ̃taˈlɔ̃].
- p wird stets unaspiriert ausgesprochen, also wie im Französischen, vergleiche lat. pūrus „rein“ = [ˈp⁼uːrʊs] wie in franz. pur = [p⁼yːʀ], aber nicht wie in dt. pur = [pʰuːr].
- qu ist eine Folge von [k] und [w], also lat. quis „wer“ = [kwɪs].
- r wurde nicht mit dem Halszäpfchen, sondern mit der Zungenspitze gerollt (wie heute im Italienischen und noch häufig in Bayern), vergleiche Rōma „Rom“ = [ˈroːma] wie im Italienischen.
- Die genaue Artikulation von s ist umstritten:
- Es wurde wohl immer als stimmloser Konsonant artikuliert, so auf jeden Fall am Wortanfang und -ende beziehungsweise vor Konsonant, vergleiche sōl „Sonne“ = [soːɫ], also wie s in dt. Cent = [sɛnt]. Es ist möglich, doch nicht bewiesen, dass einfaches s im Wortinnern zwischen Vokalen stimmhaft werden konnte, so vielleicht rosa „Rose“ = [ˈrɔsa] oder [ˈrɔza]
- Schließlich ist es wahrscheinlich, dass das s, ob stimmlos oder stimmhaft, gar nicht wie [s] bzw. [z] ausgesprochen wurde, sondern wie [ʂ], das schwed. rs entspricht. Entsprechend hätte lat. īnsula „Insel“ wahrscheinlich wie [ˈĩːnʂʊɫa] geklungen.
- t ist wie p unaspiriert, vergleiche lat. tālis „solch“ = [ˈtaːlɪs] vs. dt. Taler = [ˈtʰaːlər].
- ti wird in klassischer Aussprache als nicht aspirierter Dental mit folgendem i bzw. j [tɪ] oder [tj] ausgesprochen, im Mittellateinischen setzte sich dann aber durch altfranzösischen Einfluss in Deutschland die Aussprache [cɪ] durch.
- u neben einem Vokal (beziehungsweise, in grafisch stark modernisierten Texten, v) wird nicht als [v] wie w in dt. Wein = [vaɪ̯n], sondern als [w] wie w in engl. well „gut“ = [wɛɫ] ausgesprochen; vergleiche lat. uespa (auch geschrieben vespa) „Wespe“ = [ˈwɛspa] (oder [ˈwɛʂpa]) wie w in engl. wasp [wɒsp]; lat. uallum (beziehungsweise vallum) „Wall“ = [ˈwaɫːʊ(m)] wie w in engl. wall [wɔːɫ].
Aus alledem ergibt sich, dass der Name des berühmten Diktators, Caesar, im Latein zu Caesars Zeiten wohl ungefähr wie [ˈkaɪ̯sar], [ˈkaɪ̯ʂar] oder [ˈkaɪ̯zar] ausgesprochen wurde. Diese Aussprache stimmt nicht mit der Schulaussprache [ˈkʰaɪ̯zar] oder [ˈkʰɛːzar] oder [ˈtsɛːzar] überein. Mitunter liegt die Diskrepanz in der Ansicht begründet, dass eine akzentfreie Aussprache des Lateins angesichts der vielen Unsicherheiten ohnehin nicht zu erzielen und bei einer Sprache ohne muttersprachliche Sprecher nicht notwendig sei.
Betonungsregeln
Bei der Betonung lateinischer Wörter sind zunächst zwei Probleme zu unterscheiden:
Welche Silbe wird betont?
Bei mehrsilbigen Wörtern kann der so genannte Wortakzent nur entweder auf die vorletzte oder auf die drittletzte Silbe fallen.
Eine Betonung auf der letzten Silbe ist bei mehrsilbigen Wörtern also unmöglich; allerdings sind die Wörter auszunehmen, bei denen die letzte Silbe fortgefallen ist, zum Beispiel: adhuc oder vidistin (= vidistine). Dem widersprechen die für den heutigen Schulunterricht typischen, zu Unterscheidungszwecken stark betonten Endungen wie beispielsweise bei manūs (Genitiv Sg.) „der Hand“ = [maˈnuːs] im Gegensatz zu manus (Nominativ Sg.) „die Hand“ = [ˈmanʊs]. Daran ändert sich auch in der Dichtung nichts, da die lateinische Dichtung nichts mit der Betonung der Wörter zu tun hat, sondern auf einer festgelegten Folge von kurzen und langen Silben beruht.
Die Entscheidung, welche Silbe bei mehrsilbigen Wörtern zu betonen ist, hängt allein von der vorletzten Silbe ab (sog. Pänultimaregel):
- Die vorletzte Silbe ist betont, wenn
- das Wort überhaupt nur zweisilbig ist, beispielsweise in Rō-ma „Rom“ = [ˈroːma];
- die vorletzte Silbe einen langen Vokal hat, vergleiche Rō-mā-nus „Römer“ = [rɔˈmaːnʊs]; can-dē-la „Leuchte“ = [kanˈdeːɫa]; sind in einem Text keine Vokallängen angegeben, ist die sog. Quantität des Vokals, also dessen Länge oder Kürze, dem Wortkörper nicht anzusehen;
- die vorletzte Silbe einen Diphthong hat, beispielsweise in in-cau-tus „unvorsichtig“ = [ɪŋˈkaʊ̯tʊs];
- die vorletzte Silbe „geschlossen“ ist, das heißt, sie auf Konsonant endet, das heißt, nach dem Vokal noch mindestens zwei Konsonanten folgen, vergleiche ter-res-tris „irdisch“ = [tɛrˈrɛstrɪs]; a-man-tur „sie werden geliebt“ = [aˈmantʊr]. Die Verbindung von einer Muta und einer Liquida, wie in lat. cerebrum „Hirn“ = [ˈkɛrɛbrʊ(m)] bewirkt keinen Silbenschluss.
- In allen anderen Fällen ist die drittletzte Silbe betont, vergleiche exer-ci-tus „Heer“ = [ɛkˈsɛrcɪtʊs]; exer-ci-tu-um (Genitiv Pl.) = [ɛksɛrˈcɪtʊʊ(m)].
Wie wird die betonte Silbe hervorgehoben?
Im Gegensatz zum Deutschen war das Latein offenbar eine Sprache, in der die betonte Silbe nicht durch eine Erhöhung der Lautstärke, sondern durch eine Veränderung des Stimmtons gekennzeichnet wird. Beim Wort Rō-ma = [ˈroːma] wurde also die betonte Silbe ro- mit anderer Tonhöhe gesprochen als das folgende -ma. Wie stark die Tonhöhenänderung war, geht leider aus den Quellen nicht hervor. Ebenso wenig erfahren wir, ob das Latein gar - wie das Altgriechische oder heute das Chinesische - eine Tonsprache war, das heißt ob diese Veränderung zur Unterscheidung verschiedener Wortbedeutungen diente.
Woher weiß man das alles?
Eine Kombination verschiedener Quellen:
- Entwicklung der Aussprache lateinischer Wörter bei lebenden Nachfolgesprachen
- Verse, Reime, Theater und Gesänge (Duktus)
- Angaben, Vergleiche und Fehlerkritik bei Quintilian und Aulus Gellius
- Vergleiche ähnlich lautender Wörter
- Vergleich mit Wortstamm
- Wiedergabe lateinischer Wörter im Altgriechischen und umgekehrt
Literatur
- William Sidney Allen: Vox Latina. A guide to the pronunciation of classical Latin. Zweite Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1978. ISBN 0-521-22049-1